Stefanie Kuhlenkamp: Sozialraumorientierte Psychomotorik
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.11.2023

Stefanie Kuhlenkamp: Sozialraumorientierte Psychomotorik. Psychomotorische Praxis im Kontext sozialer Benachteiligung.
Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2023.
158 Seiten.
ISBN 978-3-497-03171-9.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: psychomotorische praxis.
Soziale Wirklichkeit = Lebens-Sein
„Soziale Arbeit zeichnet sich im Kern durch die unmittelbare Begegnung mit Menschen in unterschiedlichsten (prekären) Lebenslagen aus: pädagogisch, psychologisch, sozial, politisch, gesellschaftlich. Die psychomotorischen Konzepte, Methoden und Praxen zielen auf ganzheitliche Identitäts- und Entwicklungsförderung. Zugrunde liegt das Menschenbild und die humane Auffassung, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ (Globale Ethik). Es sind physische und psychische Aspekte der Bewegungs- und Körpererfahrung, die in der sozialraumorientierten Psychomotorik zusammen gehen mit dem individuellen und kollektiven, humanen Verständnis von einer lebensweltbezogenen Gesundheitserziehung.
Entstehungshintergrund und Autorin
Mit dem Begriff „Sozialraum“ werden die verschiedenen Lebensräume und -gelegenheiten der Menschen benannt. Es ist zum einen das Territorium als konkreter, geografischer Ort, der auch als Heimat, mentalitätsbestimmt, als sozial konstruiert, geschichtlich und kulturell gebildet entstanden ist, oder ideologisierend bezeichnet wird (Edoardo Costadura, u.a., Hrsg., Heimat global. Modelle, Praxen und Medien, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25993.php). Die Sozialwissenschaftlerin von der FHS Dortmund, Stefanie Kuhlenkamp, forscht zu Fragen der Inklusion und Sozialen Teilhabe, insbesondere zu frühkindlicher Bewegungsförderung und Psychomotorik. Als Mitherausgeberin der Fachzeitschrift „motorik“ thematisiert, diskutiert sie fachspezifische und interdisziplinäre Aspekte und motiviert die Fachkräfte der Sozialen Arbeit und der Pädagogik zum theoretischen und praktischen Handeln.
Aufbau und Inhalt
Neben dem Vorwort gliedert die Autorin ihr Fachbuch in zwei Teile: Im ersten Teil werden „Grundlagen sozialraumorientierter Psychomotorik“ thematisiert, und im zweiten „Zugänge und Ansatzpunkte“ vorgestellt.
Ausgehend vom psychomotorischen Grundverständnis der entwicklungstheoriegeleiteten Handlungswissenschaft, dass Bewegungs- und Körpererfahrungen zum einen individuell ablaufen und zur Identitätsbildung und -entwicklung entscheidend beitragen, zum anderen kollektive, soziale Wirkungen auf die konkreten Lebenslagen der Menschen ausüben. Der jeweilige Lebensraum, das Aufwachsen in den verschiedenen städtischen oder ruralen Gebieten, den familialen Herkünften und den sozialgesellschaftlichen, politischen Situationen führen in der Lebenswelt- und Alltagsorientierung eher zwangsläufig zu Bevorzugungen oder Benachteiligungen. Sie fordern die Soziale Arbeit heraus.
Im Praxisteil diskutiert Stefanie Kuhlenkamp die sozialen, gesellschaftlichen Zusammenhänge, wie sie sich als Folge von Armut, Eingeschränktheit, Benachteiligung, Behinderung … ergeben und als professionelle, verantwortungsbewusste Soziale Arbeit wahrgenommen werden müssen. Sie stellt Praxisbeispiele vor und ordnet die jeweiligen sozialen Anforderungen in den beruflichen, interdisziplinären und kooperativen Bildungs- und Sozialauftrag ein. Es sind die sozialen Netzwerke, die für die (kind- und erwachsenenorientierte) psychomotorische Arbeit notwendig sind. Sie nennt dabei transferierbare Beispiele wie: „Psychomotorik in Kindertageseinrichtungen“ – „Psychomotorik in der Offenen Ganztagsgrundschule“ – „Psychomotorik im Kontext Service Learning an Hochschulen und Fachschulen“ – „Psychomotorik im Verein“ – „Psychomotorik in der Stadtplanung“. Die to-do-Anregungen verdeutlichen den Fachbuchcharakter der Studie.
Diskussion
„Gesundheit“ ist ein Menschenrecht. In der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten, allgemein verbindlichen und nicht relativierbaren „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ heißt es in Artikel 25: „Jedermann hat das Recht auf einen für die Gesundheit und das Wohlergehen von sich und seiner Familie angemessenen Lebensstandard…“; das bedeutet, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen einem guten, gelingenden, gerechten Leben, und prekären, menschengemachten Situationen. Die UN hat im September 2015 mit der Agenda 2030 die 17 „Sustainable Development Goals“ erlassen, in denen „Keine Armut“ (1), „Kein Hunger“ (2) und „Gesundheit und Wohlergehen“ (3) an vorderster Stelle stehen (vgl. dazu auch: Oliver Razum, u.a., Hrsg., Global Health“, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/​18229.php). Im psychologischen und psychoanalytischen, wissenschaftlichen Diskurs wird festgestellt, dass „das Ich ( ) vor allem ein körperliches (ist)“ (Eugenio Gaddini, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/​19463.php). Das Paradigma – „Sag mir, wo du wohnst, und ich sage dir, wie gut bzw. wie schlecht deine Gesundheit, deine Teilhabemöglichkeiten an Bildung, Arbeit, Wohnen. Freizeit etc. sind und wie andere über deinen Wohnort denken“ – verdeutlicht, dass die Lebensbedingungen der Menschen weder genetisch noch körperlich festgelegt, sondern menschengemacht sind. Sie können auch verändert werden!
Fazit
Das Fach- und Erfahrungsbuch von Stefanie Kuhlenkamp ist als Plädoyer zu verstehen, die theoretische und praktische Sozialraumorientierung stärker als bisher in den wissenschaftlichen, gesellschaftlichen Bildungs- und Innovationsauftrag der Sozialen Arbeit und des pädagogischen Handelns einzubringen; gleichzeitig wird gefordert, sozialraum-psychomotorische Aktivitäten konkret bei benachteiligten Individuen wirksam werden zu lassen; und schließlich die curricularen, didaktischen und methodischen Möglichkeiten und Konzepte zu thematisieren und weiter zu entwickeln. Das 10seitige Literaturverzeichnis bietet zum Weiterdenken und Forschen an. Das Sachregister ermöglicht, die Studie als Handbuch zu benutzen.
Dr. Jos Schnurer
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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