Dagmar Pauli: Die anderen Geschlechter
Rezensiert von Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch, 04.04.2024
Dagmar Pauli: Die anderen Geschlechter. Nicht-Binarität und (ganz) trans* normale Sachen. Verlag C.H. Beck (München) 2023. 272 Seiten. ISBN 978-3-406-80728-2. 18,00 EUR.
Thema
In diesem Buch geht die Autorin den Fragen nach, wie Menschen mit diversen Geschlechtern und Geschlechtsidentitäten ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden kann und wie Fachleute junge Menschen sorgfältig auf diesem Weg begleiten können, damit sie ihre eigene Identität finden und leben. Das Buch möchte der jungen Generation eine Stimme geben und der älteren Generation helfen, diese anzuhören, und damit den notwendigen Dialog ermöglichen.
Autorin
Dagmar Pauli ist Chefärztin und medizinisch-therapeutische Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK). Sie befasst sich mit Essstörungen, Geschlechtsidentität und Selbstverletzungen bei Jugendlichen. Die Autorin ist verheiratet und Mutter dreier erwachsener Kinder. Bei C. H. Beck ist von ihr erschienen: „Size Zero. Essstörungen verstehen, erkennen, behandeln“ (2018).
Entstehungshintergrund
Dem Buch liegen Erfahrungen der Autorin seit 2010 zugrunde, als die ersten Jugendlichen in der damals so genannten „Sprechstunde für Transsexualität“ (heute: „Gender-Sprechstunde für Jugendliche“) auftauchten. Im Verlauf der folgenden dreizehn Jahre hat Dagmar Pauli mit mehr als dreihundert Jugendlichen gesprochen, sie behandelt und therapeutisch begleitet. Hinzu kommen Informationen, die sie im Rahmen einer Fachgruppe von erwachsenen trans Personen erhielt, die ihr schilderten, „wie es sich anfühlt, sich in einer transfeindlichen Welt zu bewegen, durchzusetzen, zu integrieren. Wie es in früheren Jahren war. Was sie gebraucht hätten, als sie noch jung waren“ (S. 8).
Aufbau und Inhalt
Das Buch enthält ein Vorwort, siebzehn thematische Kapitel, einen Glossar („Das kleine Gender-Wörterbuch“), Anmerkungen mit Literaturangaben und einen Bildnachweis. Eindrückliche Fallberichte ergänzen und konkretisieren die theoretischen Ausführungen.
Im Vorwort schildert die Autorin ihre „Reise durch das Thema Geschlechtsidentität“ und ihre Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, Jugendliche in ihrer Identitätssuche zu unterstützen. Da ihr die aktuelle Berichterstattung in den Medien häufig zu oberflächlich, plakativ und sogar irreführend erscheine, habe sie dieses Buch geschrieben, um sachliche Informationen zu liefern und darüber aufzuklären, was Geschlechtsidentität und Nicht-Binarität sind und was trans Kinder, Jugendliche und ihre Familien brauchen.
Das 1. Kapitel ist dem Thema „Nicht-Binarität in der jungen Generation: Gesellschaftliche Bewegung, Medienhype, Spleen?“ gewidmet und behandelt die in der Gegenwart heftig und kontrovers diskutierte Frage, ob Nicht-Binarität ein durch die Social Media ausgelöster „Hype“ oder eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ihrer Identität ist. Die Autorin kommt aufgrund ihrer Erfahrungen mit Jugendlichen zum Schluss, dass es sich hierbei um „eine gesellschaftliche Veränderung ähnlich der Befreiung der Frau von einer vorgegebenen ‚weiblichen‘ Rolle oder der Befreiung der Menschen im Laufe der Jahrhunderte von vorgegebenen sozialen und beruflichen Rollen“ handelt (S. 19/20). Wichtig dabei ist, dass es den Jugendlichen um die geschlechtliche Identität geht, „eine der wenigen Facetten von Identität, deren Selbstbestimmung wir in unserer westlichen Gesellschaft noch nicht als Grundrecht anerkennen. Die geschlechtliche Identität ist für die neue Generation wandelbar, aber nicht verhandelbar, und stimmt offenbar bei einer Minderheit der Menschen nicht mit dem körperlichen Geschlecht und dem amtlich festgelegten Geschlecht überein. Dieses Phänomen gab es schon immer, es wurde aber nur als Randerscheinung unserer Gesellschaft mehr oder weniger geduldet. (…) Neu ist nun die Selbstzuordnung zu einem dimensionalen Konstrukt von Geschlecht“. (S. 21). Aus ihren Gesprächen mit über dreihundert Jugendlichen in ihrer Sprechstunde zum Thema Geschlechtsidentität habe sie gelernt, dass Geschlechtsidentität sehr persönlich, nicht verhandelbar und nicht von außen ablesbar sei, nicht binär sein müsse, sich im Laufe des Lebens wandeln könne und unabhängig von der sexuellen Orientierung sei.
Das 2. Kapitel behandelt das Thema „Die total gegenderte Welt“ und zeigt auf, dass wir Menschen von Geburt an den Kategorien männlich oder weiblich zugeordnet werden, wobei es hinsichtlich dieser Kategorien in unserer Gesellschaft nur ein Entweder-Oder gibt.
Der Frage „Gibt es mehr als zwei Geschlechter“ geht die Autorin im 3. Kapitel nach. Ihre Antwort auf diese Frage ist kurz und klar: „Namhafte Biolog:innen argumentieren schon lange, dass es in der Biologie keine klare Trennung zwischen nur zwei Geschlechtern gibt“ (S. 33). Die Intergeschlechtlichkeit sei „ebenso normal wie die binären Geschlechter“ (S. 33). Im Unterkapitel „Gibt es psychisch mehr als zwei Geschlechter?“ führt die Autorin aus, dass sich diese Frage „anhand der Faktenlage ebenfalls klar mit ja beantworten“ lasse (S. 38).
Einem weiteren zentralen Thema „Was ist Nicht-Binarität? Wie fühlt sich eine nicht-binäre Geschlechtsidentität an?“ ist das 4. Kapitel gewidmet. Anhand etlicher Beispiele zeigt Dagmar Pauli auf, dass es viele nicht-binäre Phänomene gibt. „Fast alle biologischen Eigenschaften von Menschen sind nicht-binär“ (S. 44), sie haben mehr als zwei Ausprägungen, z.B. Haarfarbe oder Augenfarbe. Die meisten Eigenschaften sind so gar nicht kategorial, sondern dimensional, die Ausprägungen gingen fließend ineinander über. Auch hinsichtlich des Geschlechts gibt es „sowohl körperlich als auch psychisch Zwischenformen“ (S. 44). Im Gegensatz zu cis Menschen empfinden nicht-binäre Menschen eine starke Inkongruenz. „Sie fühlen sich ausgesprochen unwohl damit, einer für sie nicht passenden Kategorie zugeordnet zu werden. Es fühlt sich für viele unpassend und falsch, teilweise verletzend an, wenn sie mit den für sie nicht passenden Pronomen angesprochen werden“ (S. 45). Dieses Inkongruenzempfinden konkretisiert die Autorin anhand verschiedener kasuistischer Beispiele. Diese Beispiele zeigen anschaulich, dass sich nicht-binäre Geschlechtsidentitäten sehr unterschiedlich darstellen und verschiedene Vorgehensweisen erfordern.
Das 5. Kapitel behandelt die Frage „Was ist Geschlechtsidentität und wie entwickelt sie sich?“. Geschlechtsidentität definiert die Autorin als „das Bewusstsein über das eigene Geschlecht. Sie entspricht einem tiefen inneren Gefühl und bezieht sich sowohl auf körperliche als auch auf soziale und psychologische Aspekte des Geschlechts. Geschlechtsidentität kann sich als Geschlechtsausdruck durch Erscheinungsbild und geschlechtsbezogenes Verhalten äußern, wobei hier Kongruenz oder Inkongruenz zur Geschlechtsidentität bestehen kann“ (S. 72). In der Gegenwart hat sich eine neue Sichtweise der Geschlechtsidentität entwickelt, indem sie nicht mehr, wie früher, als „erlebt“ beschrieben wird, sondern oftmals „definiert“ wird. „Junge Menschen beschreiben mit dieser neuen Formulierung die Geschlechtsidentität als aktiven Prozess“ (S. 78). Die Autorin weist darauf hin, dass auch für die jüngere Generation die Geschlechtsidentität „nicht einfach eine Wahl“ sei, sondern von ihnen „als Notwendigkeit“ beschrieben werde. „Gemeint mit ‚Definition‘ ist der Prozess der Zuordnung, der nicht als Schicksal, sondern als Akt der freien Selbstbestimmung erfolgt“ (S. 79).
Da der gendersensiblen Sprache eine große Bedeutung im Sinne des Respekts gegenüber den angesprochenen Menschen zukommt, setzt sich Dagmar Pauli im 6. Kapitel mit dem Thema „Über die (Gender-)Sprache und was sie über uns aussagt“ auseinander und liefert den Leser:innen einen Guide für gendersensible Sprache.
Das Kapitel 7 ist der Frage „Was hat trans mit Sexualität zu tun?“ gewidmet. Obwohl die sexuellen Orientierungen von trans Personen unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität sind, kommt der Sexualität und den Beziehungen, die trans Personen führen, selbstverständlich eine große Bedeutung zu. Dabei ist zu beachten, dass sich die Sexualität im Laufe der Transition auch verändert.
Den familiären Beziehungen sind die Kapitel 8 („Trans und Familie“) und das umfangreiche Kapitel 9 („Was brauchen trans Kinder, Jugendliche und ihre Familien?“) gewidmet. Die Autorin betont, dass in den Sprechstunden die Zusammenarbeit mit den Familien „ein sehr wichtiger Baustein der Beratung“ (S. 100) sei. „Die Unterstützung der trans Jugendlichen durch ihr familiäres Umfeld ist entscheidend für ihr Wohlergehen“ (S. 100). Im Rahmen der ausführlichen Diskussion der verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten, konkretisiert anhand von zahlreichen kasuistischen Vignetten, setzt sich Dagmar Pauli auch intensiv mit der Pubertätsblockade auseinander, die eine Möglichkeit darstelle, jungen Menschen mit Geschlechtsinkongruenz zu helfen. Viele Jugendliche seien verzweifelt, bis hin zur Suizidalität, wenn sie ihre pubertären Körperveränderungen wahrnähmen. Die nach sorgfältiger Abklärung und im Einverständnis mit den Sorgeberechtigten durchgeführte Pubertätsblockade bietet die Möglichkeit, „Jugendliche nicht durch alle Pubertätsstadien laufen zu lassen, wenn sie darunter stark leiden, weil sie sich dem Geschlecht nicht zugehörig fühlen“ (S. 138). Dies gelte insbesondere für trans weibliche Jugendliche, die oft große Angst vor dem Stimmbruch und der sichtbaren Vermännlichung des Gesichts und des Körpers hätten, da diese irreversibel seien. Zudem stelle eine frühe Behandlung für diese Jugendlichen einen Schutz vor Diskriminierung und vor Geschlechtsdysphorie im späteren Leben dar, dies ein Grund für viele Eltern und Jugendliche für den Entscheid, dass eine Pubertätsblockade eingeleitet werde. Wichtig bei der Diskussion über diese Behandlungsmöglichkeit ist, zu berücksichtigen, dass die Pubertätsblockade „eine körperlich reversible Behandlung“ ist (S. 140) und die bereits stattgefundene Pubertät durch solche Blockaden nicht rückgängig gemacht, sondern lediglich unterbrochen wird. „Die Pubertätsblockade wurde als Moratorium entwickelt: Eine Zeit, in der die Jugendlichen weiter überlegen können, ob sie tatsächlich den Weg einer Geschlechtsangleichung gehen möchten. Eine Zeit, in der sie reifen können, damit sie später in der Lage sind, eine informierte Entscheidung über irreversible Behandlungsschritte zu fällen“ (S. 140). Die Autorin betont, dass die Jugendlichen für diese Behandlung sorgfältig ausgewählt werden. Geschlechtsvariante Kinder ohne körperliche Dysphorie oder deutlich geäußerte Angst vor der weiteren Pubertätsentwicklung „erhalten grundsätzlich keine Pubertätsblockade, sondern nur diejenigen, bei denen eine Persistenz der Transidentität äußerst wahrscheinlich ist und daher der potenzielle Nutzen gegenüber den potenziellen Risiken der Behandlung überwiegt“ (S. 140). Unter Verweis auf eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zeigt die Autorin das Dilemma auf, in dem sich Jugendliche, ihre Eltern und die Behandelnden befinden: „Sowohl der Eingriff in die jugendliche Entwicklung durch eine Pubertätsblockade als auch die Unterlassung einer solchen Behandlung können schwerwiegende Konsequenzen haben. Wir können uns also nicht damit beruhigen, dass wir auf jeden Fall keinen Schaden anrichten, wenn wir die Jugendlichen einfach nicht behandeln und abwarten. Die Pubertät läuft weiter, und durch sie werden ebenfalls irreversible Veränderungen wirksam, mit denen die Jugendlichen weiterleben müssen, wie zum Beispiel Stimmbruch und die Vermännlichung bzw. Verweiblichung der Körperformen“ (S. 165).
Transkulturellen Aspekten ist das Kapitel 10 gewidmet, in dem aufgezeigt wird, dass es auch in anderen Kulturen Menschen gibt, die sich nicht mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren können (so die Hijra in Südasien, die Two-Spirits in Nordamerika, die Burrneshas im Balkan sowie historische Beispiele der westlichen Kultur).
Den Weg zu einer zunehmenden Selbstbestimmung in unseren Ländern beschreibt die Autorin im Kapitel 11 („Medizin und trans: Von der Repression zur Selbstbestimmung der Betroffenen“) und im Kapitel 12 („Wie geht es trans Menschen heute?“).
Ein in der Gegenwart immer wieder kritisch gegenüber trans Jugendlichen angeführtes Argument betrifft die in Kapitel 13 gestellten Fragen „Warum steigt die Zahl junger trans Menschen? Warum gibt es besonders viele trans männliche Jugendliche?“. Die Autorin hat dazu folgende Antworten: 1. „Früheres Outing von trans Menschen durch Verbesserung der Sichtbarkeit. Oder: Wann kann sich Transidentität zeigen?“, 2. „Die Dunkelziffer nimmt ab. Oder: Wie viele trans Menschen gibt es wirklich?“, 3. „Wie beeinflusst das Internet die Jugendlichen und ihre Geschlechtsidentität? Oder: Wie merkt man, dass man trans ist?“, 4. „Warum gibt es im Jugendalter mehr trans männliche Jugendliche?“ (hier verweist die Autorin darauf, „dass sich trans Männer und trans Frauen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Leben outen“, S. 205), 5. „Geschlechtsidentität ist nicht mehr selbstverständlich. Oder: Eine neue Entwicklungsaufgabe für junge Menschen“.
Ein in der Gegenwart ebenfalls heiß und kontrovers diskutiertes Thema greift Dagmar Pauli im Kapitel 14 („Transition – Detransition“) auf. Detransition beschreibt den Prozess, bei dem „eine Person von einer Geschlechtskategorie in eine andere wechselt, nachdem zuvor bereits ein Geschlechtsrollenwechsel stattgefunden hat“ (S. 211). Bisherige Studien zeigen, dass die Anzahl von Detransitionen niedrig ist, sie liegt bei 0,6 % der trans Frauen und 0,3 % der trans Männer. Kritisch setzt sich die Autorin in diesem Zusammenhang auch mit der in der Diskussion um Detransitionen immer wieder zitierten Situation an der Tavistock Clinic, dem bekanntesten Genderzentrum in England, auseinander. Sie weist darauf hin, dass das Berufungsgericht (Court of Appeal) entschied, „dass es nicht Sache der Gerichte, sondern der involvierten Fachpersonen sei, in einem individuellen Fall die Einwilligungsfähigkeit bzw. Urteilsfähigkeit einzuschätzen. Die Behandlungen wurden in England also nicht verboten, wie vielfach in hiesigen Zeitungen verkürzt behauptet wird“ (S. 214).
Im Kapitel 15 („Wer hat Angst vorm weichen Mann (und vor der harten Frau)? Oder: Wer macht sich Sorgen über was?“) setzt sich Dagmar Pauli mit den zum Teil sehr negativen Stellungnahmen, wie verschiedene Gruppen in unserer Bevölkerung sie trans Menschen gegenüber äußern, auseinander. „Die Reaktionen reichen von Versuchen, die Bemühungen um inklusive Sprache lächerlich zu machen, über wilde Diskurse zur Meinungsfreiheit (die auch als Freiheit verstanden wird, die falschen Pronomen in Bezug auf trans Menschen verwenden zu dürfen) bis hin zur Aberkennung der Legitimation zur Selbstbestimmung“ (S. 219). Ihre Antwort auf die Frage, welche Gruppierungen und Akteur:innen im Moment aktiv im Kampf gegen trans Menschen unterwegs sind, gibt die Autorin folgende Antworten: manche konservativen Menschen, manche harten Männer, auch mache trans Menschen, manche Feministinnen und manche besorgten Eltern (die sich auf die Hypothese einer Rapid Onset Gender Dysphorie, ROGD, berufen). Dagmar Pauli selbst macht sich Sorgen darüber, „dass die Debatten teilweise derart hitzig und unreflektiert geführt werden, dass es zu keiner wirklichen Auseinandersetzung kommt. In Familien kann das zu einer Verhärtung der Positionen führen. Es verhindert, dass Jugendliche sich wirklich differenziert mit ihrer eigenen Transidentität auseinandersetzen können. Sie kämpfen gegen die Nichtakzeptanz durch die Eltern und kommen so nicht dazu, sich selbst in Frage zu stellen. (…) In der Öffentlichkeit führen die Verhärtung und ‚Skandalisierung‘ der Debatte in den Medien und im Netz aufgrund von Einzelbeispielen (…) zu polarisierter Meinungsbildung. Argumente der Gegenseite werden nicht mehr gehört. Einzelfälle werden politisch benutzt, um unzulässige Verallgemeinerungen anzustellen, anstatt daraus zu lernen“ (S. 239).
Dem Thema „Wie reagiert die trans Community“ widmet sich das Kapitel 16. Die Reaktionen von trans Personen fallen erwartungsgemäß unterschiedlich aus. Es gibt nicht „die“ trans Community, sondern trans Menschen mit unterschiedlichen Lebensläufen und unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen und dementsprechend unterschiedlichen Reaktionen.
Im Schlusskapitel 17 („Ausblick: Wie geht es weiter?“ ) verweist die Autorin darauf, dass die binären Unterscheidungen, die wir in unserer Gesellschaft vornehmen (z.B. Mann – Frau, weiß – schwarz) dazu dienen, Ungleichheiten zu schaffen und zu legitimieren. Dabei erfolgt „die Bewertung der als minderwertig angesehenen Kategorie anhand der als höherstehend angesehenen Kategorie“ (S. 243). Letztlich geht es, so Dagmar Pauli in den letzten Sätzen dieses Buches, um eine Verlagerung der aktuellen Debatte „auf Diversität im Sinne von der Gleichwertigkeit in der Verschiedenheit. Der wichtigste Schritt auf dem Weg zur Gleichheit aller Geschlechter ist die Bejahung der Diversität und der Vielfalt. Es geht um mehr als Toleranz. Es geht darum, den Menschen als Mensch zu begreifen, der unabhängig von einer Zuteilung existiert und sich individuell entwickelt. Warum geht uns das alle an? Transidentität ist nur ein Beispiel für ein diverses Merkmal menschlicher Existenz. Wir alle müssen uns der Frage stellen, wie wir mit dem Andersartigen, mit dem Diversen, mit der Differenz umgehen. Sollen wir die Diversität immer nur im Vergleich mit der Norm, also als Defizit beurteilen? Oder wollen wir das ganze Spektrum des Menschen als gleichwertig betrachten?“ (S. 247).
Diskussion
Mit diesem Buch liefert Dagmar Pauli eine in jeder Hinsicht überzeugende Darstellung des Phänomens Transidentität, speziell im Hinblick auf Jugendliche. Sie hat sich nicht gescheut, auch besonders „heiße Eisen“ wie die Pubertätsblockaden, das Thema Detransition, Nicht-Binarität, die Frage, wie sich die steigende Zahl junger trans Menschen erklären lässt, und das kritisch gegen trans Jugendliche verwendete Konzept der „Rapid Onset Gender Dysphorie (ROGD)“ anzufassen und sich mit den trans-feindlichen Äußerungen von Autor:innen wie Alice Schwarzer, J. K. Rowling und einigen anderen Feministinnen kritisch auseinanderzusetzen. Dabei gelingt es der Autorin, stets eine abwägende, auch selbstkritische Haltung einzunehmen, auch wenn sie keinen Zweifel daran lässt, dass sie für die Rechte von trans Menschen eintritt und ihnen die ihnen zustehende Unterstützung zu bieten bereit ist. Hilfreich für die Leser:innen sind die vielen kasuistischen Vignetten, mit denen Dagmar Pauli den Jugendlichen, die hier ihre Situation schildern, eine Stimme gibt. Aufgrund meiner eigenen über 50-jährigen Erfahrung in der Behandlung und Begleitung von trans Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen stimme ich der Autorin in allen Aspekten zu und bin ihr dankbar, dass sie das schwierige Thema der Transidentität von Jugendlichen in einer sehr gut lesbaren, anschaulichen und differenzierten Weise dargestellt hat. Ihr im Klappentext formuliertes – anspruchsvolles – Ziel, einen Dialog anzustoßen, der Veränderungen möglich macht, hat die Autorin voll erreicht. Ich empfehle dieses Buch unbedingt allen, die sich beruflich mit trans Personen beschäftigen, aber auch Transidenten selbst und ihren Angehörigen, da es ihnen vielfältige Anregungen für ihre Auseinandersetzung mit ihrer Identität bietet.
Fazit
Ein sehr informatives, gut lesbares Buch, das sich in differenzierter Weise mit dem Phänomen Transidentität auseinandersetzt und eine große Bereicherung in der aktuellen Diskussion über die Geschlechtsidentitäten darstellt. Es ist allen, die mit trans Personen arbeiten, aber auch Transidenten selbst und ihren Angehörigen unbedingt zu empfehlen.
Rezension von
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch
Dipl.-Psych., Psychoanalytiker (DPG, DGPT). Ehem. Leitender Psychologe Psychiatrische Universitätspoliklinik Basel. In privater psychotherapeutischer Praxis.
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Es gibt 17 Rezensionen von Udo Rauchfleisch.
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Zitiervorschlag
Udo Rauchfleisch. Rezension vom 04.04.2024 zu:
Dagmar Pauli: Die anderen Geschlechter. Nicht-Binarität und (ganz) trans* normale Sachen. Verlag C.H. Beck
(München) 2023.
ISBN 978-3-406-80728-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31451.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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