Claudia Mandrysch: Reiches Land - arme Frauen
Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 15.01.2024
Claudia Mandrysch: Reiches Land - arme Frauen. Was gegen strukturelle Benachteiligung von Frauen getan werden muss. Sonderband 2023. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 146 Seiten. ISBN 978-3-7799-7824-4. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Thematischer Hintergrund
Antifeministische Stimmen – sogar bis in die Parlamente hinein, – bezweifeln, dass es immer noch Diskriminierungen von Frauen in der heutigen Gesellschaft gibt. Sie sehen im Gegenteil eine Benachteiligung von Männern. Umso wichtiger ist es, dass die Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis immer wieder zusammengetragen und in die Öffentlichkeit gebracht werden, die diese Annahme widerlegen. Es lässt sich nämlich in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen aufzeigen, welcher Art die strukturellen Benachteiligungen von Frauen jeweils sind, welche Ursachen sie haben und wie sie sich beseitigen lassen.
Herausgeberin
Claudia Mandrysch ist Vorständin beim AWO Bundesverband e.V. und Vorsitzende des Beirats der Zeitschrift TUP (Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit)
Aufbau
Dieser Sonderband der TUP umfasst neben dem Vorwort 15 verschiedene Beiträge von Expert_innen aus unterschiedlichen Bereichen: aus Wissenschaft, Gewerkschaften, Verbänden und Medien. Zu den Formaten gehören Stellungnahmen, wissenschaftliche Analysen, Interviews und eine Dokumentation.
Inhalt
Alle Beiträge kreisen um das Thema Armut und Benachteiligungen von Frauen. Es werden die strukturellen Bedingungen vor allem in der Arbeit (bezahlte und unbezahlte), in der Teilhabe und in den geschlechtsspezifischen Gewaltverhältnissen aufgegriffen.
Die Publizistin Teresa Bücker erklärt die Zeitarmut der Frauen vornehmlich aus der Struktur der ungleichen Arbeitsteilung der Geschlechter und deren Verschärfung: mangelnde Unterstützungsangebote für die Betreuung von Kindern und alten Menschen, die zu immer mehr privat zu leistender Care Arbeit führen. Lösungen sieht sie unter anderem in der generellen (Erwerbs-) Arbeitszeitverkürzung und einer neuen Arbeitszeitkultur.
Aus historischer und transnationaler Perspektive geht die Professorin für Soziologie von Unternehmen und Wirtschaft, Nicole Mayer-Ahuja, auf die Frage nach der gerechten Arbeit ein. Dabei betont sie die wesentliche Funktion unbezahlter, von Frauen geleisteter Care Arbeit für die kapitalistischen Wirtschaftsverhältnisse und die prekäre Position der Frauen mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt. Die Mechanismen des bestehenden Wirtschaftssystems, das Konkurrenz und Wettbewerb an erste Stelle stellt, erschweren es, dass die Erwerbstätigen sich zur Veränderung des Wirtschaftssystems und zu einem Kampf gegen die Ungerechtigkeiten zusammenfinden. Staatliche Regulierungen könnten den notwendigen Wandel unterstützen.
Sehr konkret stellt Elke Harnack, stellvertretende Vorsitzendes des Deutschen Gewerkschaftsbundes, ein Programm zur geschlechtergerechten Bezahlung vor: Die Erhöhung der tarifgebundenen Arbeit und die Stärkung der Mitbestimmung in Betrieben und Verwaltungen sind dabei die Schlüssel. Zur Entgeltgleichheit können geschlechtergerechte Tarifverträge, wie einzelne Gewerkschaften sie schon unter anderem durch neue Arbeitsbewertungskriterien erreicht haben, dienen. Die tariflichen Arbeitszeitvereinbarungen, die die Arbeitszeitsouveränität der Beschäftigten stärkt, fördern ebenso die Geschlechtergleichstellung wie die Anhebung des Mindestlohnes. Von der Umsetzung der EU- Entgelttransparenzrichtlinie erwartet sie eine bessere Möglichkeit, die geschlechtsbezogenen Ungerechtigkeit in den Löhnen und Gehältern aufzudecken.
Nicola Schopp und Sophie Schwab vom Zukunftsforum Familie e.V. untersuchen die Rolle von Kinderbetreuungsangeboten für die Armutslage von Müttern. Besonders für die alleinerziehenden Mütter würde der Ausbau der Angebote in Quantität und Qualität als ein Baustein eine Chance bieten, aus der Armutsbetroffenheit herauszukommen. Allerdings werden dadurch die Benachteiligungen der Frauen auf dem Arbeitsmarkt etwa durch Niedriglöhne oder familienunverträgliche Arbeitsbedingungen noch nicht beseitigt.
Miriam Hoheisel, Geschäftsführerin des Verbands Alleinerziehende Mütter und Väter e.V., analysiert die sozialstaatlichen Hilfen für alleinerziehende Frauen, die mit 42,3 % das höchste Armutsrisiko haben. Auf dem Arbeitsmarkt kumulieren sich die Benachteiligungen von Frauen im Allgemeinen für die Alleinerziehenden und das wird durch die familien- und sozialpolitischen Leistungen noch verschlimmert: diese sind auf die spezielle Situation Alleinerziehender nicht abgestimmt. Detailliert stellt sie dann vor, wie eine Kindergrundsicherung ausgestaltet werden muss, damit die Armut von Kindern mit alleinerziehenden Eltern wirklich abgebaut wird. Dabei ist die Gestaltung der Schnittstelle zwischen Unterhaltsrecht und Unterhaltsvorschuss besonders wichtig.
Bernhard Emunds, Dr.rer.pol., Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie sowie Leiter des Nell-Breuning-Instituts, geht es um die sogenannte 24-Stunden-Betreuung und die damit verbundene Ausbeutung mittel- und osteuropäischer Arbeitnehmerinnen in Privathaushalten. Der Beitrag basiert auf einem von der Hans Böckler geförderten Forschungsprojekt. Nach der Vorstellung der verschiedenen Rechtsformen für diese Arbeit argumentiert er, dass es sich dabei nicht um einen „fairen Tausch“ handelt und dass durchaus von Ausbeutung gesprochen werden kann: schlechte Arbeitsbedingungen wie ausgedehnteste Arbeitszeiten bei niedrigstem Stundenlohn. Seine Reformperspektive ist die Schaffung von in Deutschland ansässigen Agenturen, die als Arbeitgeberin fungieren und nach arbeitsrechtlichen Standards arbeiten. Pools mit zusätzlichen Betreuungs- und Bereitschaftspersonal müssen zusätzlich eingerichtet werden, um einen Pflegemix zu garantieren.
Sonja Bastin, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen, betrachtet armutsfördernde Faktoren im weiblichen Lebensverlauf, die zu dem Gender Pension gap von 46 % und dem Armutsrisiko für Frauen im Alter führen, welches um16,4 % höher ist als das der Männer. Hauptursache ist die sogenannte Sorgelücke im weiblichen Lebensverlauf, die die Erwerbszentriertheit der sozialen Sicherungssysteme deutlich macht. Nur das Ende der Geringschätzung und die Aufwertung bezahlter und unbezahlter Care Arbeit kann diese Armutsfalle beseitigen.
Der Focus von Angelika Henschel, Institutsleitung des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik der Leuphana Universität Lüneburg, liegt auf der Bekämpfung der Gewalt in den Geschlechterverhältnissen. Über 60 Jahre alt ist die Frauengewaltschutzarbeit, die die neue Frauenbewegung begonnen hat, aber die Daten zeigen, dass diese Gewalt bis heute nicht abgenommen hat. Die Vorschläge zur Verbesserung der Situation, die im GREVIO Bericht des Expertenausschusses zur Umsetzung der Istanbul-Konvention (2022) gemacht wurden, müssen jetzt schleunigst umgesetzt werden und das unterfinanzierte Gewaltschutz- und Hilfesystem ausgeweitet und qualitativ verbessert werden. Die Aufklärungsarbeit zum Gewaltschutz in Kitas, Schulen, Familiengerichten und im Gesundheitswesen ist dabei ebenso wichtig wie eine bessere finanzielle und soziale Absicherung der Frauen, z.B. durch Schaffung bezahlbarer Wohnungen, oder die Abschaffung des Ehegattensplittings. Die Unterstützung für diese strukturellen Veränderungen muss auch von Männern kommen, die sich für die Gleichstellung und gegen Gewalt in den Geschlechterverhältnissen stark machen.
Ein konkretes Beispiel, wie Gewaltschutz für wohnungslose Frauen aussehen kann, stellt Katharina Adelt, Referentin für Unternehmenskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit bei der Stiftung zur Förderung sozialer Dienste, Berlin, vor. In 24/7-Notunterkünften werden Frauen aufgenommen, wenn sie in einer akuten Gefährdungs- und Krisensituation sind. Diese Häuser bieten neben der bedingungslosen Aufnahme ein ruhiges Setting und freiwillige Sozial- und psychologische Beratung. Das Ziel ist es, die Wohnungslosigkeit zu beenden. Viele Frauen brauchen dazu mehr als zwei Monate.
Geraldine Rauch, Prof. Dr., Präsidentin der Technischen Universität (TU) Berlin und Antja Bahnik, zentrale Gleichstellungsbeauftragte der TU Berlin, beschreiben, wie es um die Gendergerechtigkeit in Hochschulen steht. Immer noch sind es kulturell Stereotype, die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern perpetuieren, insbesondere in den MINT-Fächern. Darüber hinaus behindern Arbeitsbedingungen den Verbleib vor allem von Frauen mit Sorgeverantwortung in der Wissenschaft. Sie können oder wollen sich dem permanenten Leistungsdruck, dem massives Konkurrenzverhalten, dem hohen Arbeitspensum und der Notwendigkeit, räumlich und zeitlich extrem flexibel zu sein, nicht aussetzen. Verbindliche Regelungen und ein Kulturwandel im gesamten Wissenschaftsbereich sind notwendig, um Gleichstellung und Diversität zur Normalität werden zu lassen.
Einen kritisch-konstruktiven Blick auf die geschlechtergerechte Medizin wirft die Wissenschaftsjournalistin Stefanie Schmidt-Altringer, Dr.med. Eine geschlechtergerechte, d.h. alle Geschlechter umfassende Medizin, sollte sowohl in der Forschung als auch in der Versorgung die biologischen und psychosozialen Geschlechterfaktoren berücksichtigen. Von den nur an männlichen Mäusen vorgenommenen Testungen von Medikamenten bis zum Fehlen von familienfreundlichen, digitalen und ambulanten Reha-Maßnahmen gibt sie viele Beispiele für die immer noch vorherrschende Geschlechterblindheit, die vor allem die Frauen benachteiligt. Der Prototyp „des Patienten“ ist der Mann. Gendermedizin setzt sich erst durch, wenn die Demokratisierung der Medizin durch Empowerment von Frauen und allen Geschlechtern und die Verbreitung von geschlechtersensiblen medizinischen Wissen gefördert werden.
Helen Schmidt, Dr.med., MPH, Institut für soziales Recht,TH Köln beschäftigt sich mit der „gesundheitlichen Ungleichheit“. Besonders Risikogruppen wie alleinerziehende Mütter, Frauen mit niedrigem Bildungsniveau, Frauen mit Migrationshintergrund, arbeitslose und pflegende Frauen weisen deutlich höhere Gesundheitseinschränkungen auf, die auf ihre spezielle Lebenssituation zurückzuführen sind. Es braucht schnelle und betroffenenzentrierte, niedrigschwellige Versorgungsangebote, damit diese Frauen überhaupt eine adäquate Versorgung bekommen können. Einige Beispiele zeigen, wie das aussehen könnte. Ebenso sollten Gesundheitsdaten intersektional erhoben werden, um die Lebensrealität dieser Frauen genauer darzustellen.
Die letzten 3 Beiträge beschäftigen sich vor allem mit der AWO.
Lydia Struck, M.A., Biographie- und Kulturforscherin, berichtet von den Beiträgen der AWO-Frauen zur Gleichstellungspolitik seit den Anfängen der AWO bis heute. Kontinuierlich setzten sich die Frauen sowohl im eigenen Verband, in der Verbandsarbeit und in der Politik für die Gleichstellung der Frauen ein.
Sandy Neugebauer, Dr., Bereichsleiterin für Soziales und Gesundheit des AWO Kreisverbandes Berlin-Mitte e.V., kann an eine bereits 40 Jahre andauernde, frauenspezifische Arbeit des Kreisverbandes anknüpfen und beschreibt ein konkretes Beispielprojekt: die Straffälligenhilfe für Frauen „Integration statt Ausgrenzung-Kleiderwerkstatt“. Hier wird eine Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe geboten, indem die Frauen, die von psychischen oder anderen Problemlagen betroffen sind, gemeinnützige Arbeit leisten und damit ihre Strafe tilgen können. Gleichzeitig können sie während der Arbeitszeit die Sozialberatung in Anspruch nehmen. Ziel ist es, erneute Straffälligkeit zu verhindern und die Befähigung der Frauen, ihr Leben selbstverantwortlich in die Hand nehmen zu können.
Das letzte Kapitel ist ein Auszug aus der „Stellungnahme und den Handlungsempfehlungen zum 2. Gleichstellungsbericht für das Hauptamt der Arbeiterwohlfahrt“, den Sina Küster, die Ansprechpartnerin beim AWO Bundesverband für den 2. Gleichstellungsbericht zusammengestellt hat. Transparent und selbstkritisch zeigt der Auszug, dass es an der Gleichstellung der Geschlechter vor allem in den Führungsfunktionen der AWO noch mangelt, die Handlungsempfehlungen zielen auf eine strukturelle Aufwertung sozialer Berufe.
Diskussion
Finanzielle Armut kann als Spitze des Eisberges ungleicher Geschlechterverhältnisse gesehen werden. Die Beiträge beziehen sich auf die unterschiedlichsten Lebenslagen von Frauen und haben eine intersektionale Perspektive, indem sie auf den Zusammenhang vieler Faktoren hinweisen, die in ihrer verwobenen Wirkung für die speziellen Lebenslagen verantwortlich sind. Es werden/können zwar nicht alle Lebenslagen von Frauen in Deutschland ausreichend erfasst werden, z.B. geflüchtete Frauen, migrantische Frauen, Frauen mit Behinderung oder BIPoC Frauen kommen kaum oder nicht vor. Bei den erfassten Lebenslagen schälen sich aber wesentliche Faktoren für die Benachteiligung heraus: die Zuständigkeit für private Care Arbeit, familienarbeitsfeindliche Erwerbsarbeitsbedingungen und die stereotype Abwertung von Frauen.
Erkenntnisprobleme zu den Ungleichheiten sind bei weitem nicht so groß wie die Umsetzungsprobleme. Wenn man die vielfältigen Forderungen, Handlungsempfehlungen und Reformperspektiven aus den 15 Beiträgen zusammenfassen würde (in dieser Buchbesprechung fett gedruckt), ergäbe sich ein ausgezeichneter Aktionsplan zur Beseitigung von strukturellen Benachteiligungen von Frauen. So wie sich die unterschiedlichen Lebenslagen der Frauen zeigen, muss vor allem die Familien- Steuer- und Sozialpolitik, die Wirtschaftspolitik und die Arbeits- und Tarifpolitik gleichstellungsorientierter gestaltet werden. Ein quantitativer und qualitativer Ausbau der Care-Infrastruktur ist unumgänglich.
Fazit
Es ist sehr zu begrüßen, dass dieser Sammelband sich auf die vielfältigen Benachteiligungen von Frauen konzentriert. Er bietet durch seine Vielfalt einen guten Überblick über strukturelle Benachteiligungen in den verschiedensten Bereichen und in interessanten Teilaspekten. Die Beiträge sind verständlich und vom Engagement der Autor_innen für Gleichstellung getragen. Besonders für politisch aktive und gleichstellungsorientierte Personen aus Wissenschaft und Praxis kann der Sammelband als guter Rat- und Impulsgeber dienen.
Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Es gibt 46 Rezensionen von Barbara Stiegler.
Zitiervorschlag
Barbara Stiegler. Rezension vom 15.01.2024 zu:
Claudia Mandrysch: Reiches Land - arme Frauen. Was gegen strukturelle Benachteiligung von Frauen getan werden muss. Sonderband 2023. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-7824-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31454.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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