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Peter Fischer: Kosmos und Gesellschaft

Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 13.12.2023

Cover Peter Fischer: Kosmos und Gesellschaft ISBN 978-3-95832-342-1

Peter Fischer: Kosmos und Gesellschaft. Wissenssoziologische Untersuchungen zur Frühen Moderne. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2023. 323 Seiten. ISBN 978-3-95832-342-1. D: 49,90 EUR, A: 49,90 EUR, CH: 59,90 sFr.

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Thema

Das hier vorliegende Werk beleuchtet die komplexe Wechselwirkung von gesellschaftlicher und kos­­mischer Ordnung. Dabei geht es insbesondere um die „Entstehung von Weltbildern“ (S. 266) und wie diese als „Ordnungsvorstellungen“ (S. 261) in gesellschaftlichen Bedürfnissen situieren. In die­sem Sinne wird die Konstruktion von Himmelsbildern ins Zentrum gestellt und wie diese vor dem Hintergrund sozialer Ordnungsmuster entstehen. In den Fokus rückt vor allem das neue me­cha­nistisch-rationale Weltbild und seine Wirkungsweise auf die Wahrnehmung des Verhäl­t­nis­ses von Natur und Sozialität.

Die Studie zeichnet historische wie wissenssoziologische Entwicklungen bis in die Gegenwart nach und setzt theorie­ge­schichtlich in der Natur- und Sozialphilosophie der frühen Neuzeit an. Indem sie der Trennung von Natur und Gesellschaft als Ent­stehungsbedingung für die Soziologie nach­geht (vgl. S. 11/268), besitzt sie nicht nur eine gesellschaftstheoretische, sondern auch eine wissen­schafts­­geschichtliche Rah­­mung.

Autor

Peter Fischer ist Privatdozent am Institut für Soziologie der Technischen Universität Dresden. Nach Promotion an der Universität Münster war er unter anderem an der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität Berlin tätig.

Aufbau und Inhalt

Die Struktur der Monografie besteht, neben einer Einleitung, aus insgesamt sieben Hauptkapitel und führt den Leser zunächst ein in die Konzeption des Werkes und das Erkenntnisinteresse des Autors. Vor allem das „Gewordensein der modernen Gesellschaft“ steht im Vordergrund der Ana­lyse, ver­bun­den mit der Frage nach der „Beziehung von Gesellschaft und Natur“ sowie der „Wir­kungs­weise von Weltbildern“. Zu verstehen seien die nachfolgenden Studien als „exem­pla­rische Analysen eines Prozesses von gesellschaftlicher Aufklärung durch die Wissen­schaft bzw. durch Na­turphilo­so­phie“; Geschichte erweise sich so als „gesellschaftlicher Lern­prozess“ (S. 9).

Das erste Hauptkapitel befasst sich mit der kopernikanischen Wende. Damit einher ginge eine „Verwissenschaftlichung der Astronomie“ bei gleichzeitiger Zurückdrängung der Astrologie auf Mythos und Aberglauben (vgl. S. 22). Der Heliozentrismus als kosmologisches Modell hatte sich allerdings gegen zahlreiche Widerstände durchzusetzen, weil er nicht nur die „Stellung des Menschen in der Welt“ zur Disposition stellte, sondern zugleich ein von Aristoteles herkommendes tradiertes Wissen­schaftsverständnis und theologisches Weltbild irritierte und herausforderte (vgl. S. 29). Den bekannten Diskurs um die Irritation der zentrierten Stellung des Menschen in der Welt er­wei­tert Fischer mit Hans Blumenberg dort, wo dieser auf den „Ordnungsschwund“ als „an­thro­po­lo­gische Konsequenz des neuen Weltbildes“ abstellte, was „menschliche Enttäuschung und De­mü­ti­gung“ zur Folge habe (S. 33). Fischer hingegen macht eine soziologische Einsichtnahme gel­tend, indem er hinweist auf die „Idealität“ dieses Diskurses um die anthropologische Stellung des Menschen in der „Weltmitte“, die sich immer noch abspiele „vor dem Hintergrund eine[r] stän­disch-ideellen Stufung des Wissens“ (und der Gesellschaft) (ebd.). Das hemme die Wirkung einer neuen kosmologischen Weltdeutung auf das „Wissen der Gesellschaft“. Letztlich stünde die Ord­nung der Gesellschaft darum zur Neuverhandlung, da „die Idee der Ganzheit nicht mehr aufrecht ge­halten werden kann, weil eine neue Unordnung am Himmel nicht mehr in Einklang mit der alten Theo­rie zu bringen ist“ (S. 34). Das allerdings vollzog sich nicht als abrupter Bruch in der Wissens­ord­nung innerhalb der damaligen gesellschaftlichen Entwicklung, was in der Folge exemplifiziert wird an Brahe, Kepler, Bruno und Galilei (Kapitel 2.2). Mit Tycho Braches System, die Astro­no­mie über empirische Beschreibung auf Sternbeobachtung zu stellen, gelang zunächst ein „gangbarer Mittel­weg“, ohne die christliche Weltdeutung allzu sehr aufzureizen (S. 35). Darauf konnte schließ­lich Kep­ler aufbauen, der den Kosmos „wesentlich durch Geometrie strukturiert“, seine natur­wis­sen­schaft­lichen Studien im Einklang mit „‚Gotteserkenntnis und Gottesdienst‘“ sah (S. 37 f.). Quer zum christlich-dogmatischen Denken liegt hingegen die kosmologische Vorstellung von Giordano Bruno, der eine „kosmische Unendlichkeitslehre“ verficht. Da allerdings die Sinne noch nicht durch Technologie erweitert werden konnten, war die geistige Ratio in der Verantwortung, diese Unendlichkeit Kraft eigener Einbildungskraft zu denken, um so den kosmischen Horizont zu erweitern. „Wissenssoziologisch gewendet“ liege Brunos Verdienst darin, „die Ordnung des Him­mels als kognitive Leistung herausgestellt zu haben“ (S. 42), jedoch zum Preis, dass es in seinem Kos­mos keinen gesellschaftlichen Sinnbezug mehr gebe (S. 43). Anders verhält es sich bei Galileo Ga­lilei, dessen Forschung bekanntlich „soziale Konsequenzen“ zeitigte, „da das Teleskop bald zu einer gefragten Attraktion bei Hofe wird“ (S. 47). 

Auf dieser Grundlage entwickelt sich eine „neue Astronomie“ (Kapitel 2.3), deren „soziale Funk­tion“ die „Mathematisierung der Natur“ sei. Mathematisierung heißt hier in erster Line, dass Natu­re­reignisse zunehmend berechenbar werden, was prinzipiell Ordnung für den Alltag einer über­wie­gend ländlichen Bevölkerung garantiere (vgl. S. 54). „Im Bestreben, Naturereignisse vor­her­zu­sa­gen, trifft so eine gesellschaftliche Notwendigkeit auf das Selbstbewusstsein der neuen Wis­sen­schaft“ (ebd.). Wissenschaftliches Wissen werde also durch soziale Prozesse hergestellt, diese wür­den aber „durch sich stets wandelndes Wissen geprägt“, sodass „monokausale“ Erklärungs­mus­ter wie das „einfache“ Modell eines Basis-Überbau-Schemas unterkomplex seien, da dieses „die Ent­wick­lung wissenschaftlichen Fortschritts allein durch materielle Faktoren erklären will“ (S. 55).

Mit dem „neuen mechanischen Weltbild“, das die „Ideenwelt“ verändert und die „Umgestaltung der sozialen Welt“ auch hinsichtlich der Vorstellung von Raum modifiziert (S. 57 ff.) werden Gott und Welt voneinander geschieden, die Weltordnung wird als „erklärungsbedürftig“ wahr­ge­nom­men, weil die nun aufkommenden neuen Phänomene sich nicht mehr „problemlos“ in das tra­dierte Welt­­­bild einfügen lassen (S. 64). Diese Scheidung in zwei Sphären wird von Fischer zunächst nachvollzogen mit Ausführungen über Descartes und Newton (Kapitel 2.4). Vor allem an der neu­en Astronomie nach Newton würde sichtbar eine „Rationalisierung der Natur“ sowie „Entper­sön­lich­ung der Naturerkenntnis“, aber auch der „erfolgreiche Versuch der Mechanisierung des Wis­sens­erwerbs und der (…) Versuch, das neue Wissen für sittliche, soziale und politische Zie­le zu nutzen“ (S. 77).

Nach einem kurzen Einschub zur „Mathematisierung der Natur“ (Kapitel 2.5) beschäftigt sich das nächste Kapitel mit „Ordnungsvorstellungen, Kosmologien und Weltbilder“ in der Absicht, „eine Reihe von Begriffen für die wissenssoziologische Analyse handhabbar zu machen“ (Kapitel 3, S. 81). Der Kosmos sei eine „Ordnungsvorstellung der Welt, ausgehend von dem Blick in den Him­mel“ (S. 81). Mit dieser „Arbeitsdefinition“ versucht Fischer die „Kulturalisierung der Natur“ im Kontext einer durch den Menschen vollzogenen Sinnzuschreibung gegenüber dem Naturhaften zu beschreiben (S. 84). Dabei differenziert er zwischen zwei unterschiedlichen Entwicklungs­e­ben­en, die aufeinander verwiesen sind und sich gegenseitig bedingen. Auf der einen Seite meint Kos­mo­logie einen „mathematisch fundierte[n] Bestandteil der Naturphilosophie, um dann eine Sub­dis­zi­plin der Physik zu werden“. Auf der anderen Seite beschreiben Kosmologien „eine in der Ge­sell­schaft aufgehobene Vorstellung vom Ganzen, die sowohl die Gesellschaft selbst, die Welt und auch kul­turelle Besonderheiten umfasst“. In dieser Form seien sie als Hintergrundwissen präsent (S. 85). Fischer trägt damit „Bausteine einer Soziologie des Weltbildes“ (S. 98) zusammen und konstatiert, dass Gesellschaft in der Frühen Neuzeit innerhalb der Sozial- und Naturphilosophie eher vage blieb, aber „allmählich über die Reformen des Staates und der Ökonomie als eigenständige Einheit entdeckt“ worden sei (S. 94). Bis in die heutige Gegenwart hinein existieren Weltbilder, die sich allerdings mehr über einen „Medieneffekt“ vermittelten, womit „die Frage nach dem gesell­schaft­li­chen Träger von Weltbildern (…) schwerer zu beantworten“ sei (S. 101).

Kapitel 4 spürt der mechanischen Philosophie vertiefend nach und konstatiert anhand von Bodin und Kepler (Kapitel 4.1), dass die „Mathematisierung der Natur (…) zu einer Mathematisierung der Politik und des Sozialen ausgeweitet wird“ (S. 107). Dies vermittelt sich über die Geometrie, aller­dings im Sinn eines „harmonischen Zusammenklang[s]“, weil die „himmlische Ordnung und die Ordnung der Natur (…) der Ordnung der Herrschafts- und Staatsform [entspricht]“ (S. 107). Nach einem kurzen Einschub zu Campanellas heliozentrischer Utopie (Kapitel 4.2), werden Hob­bes‘ mechanischer Leviathan (Kapitel 4.3) und Lockes „naturphilosophische Zweifel“ (Kapitel 4.4) einer ausführlicheren Betrachtung unterzogen. Hobbes wird als erster „Proto-So­zio­lo­ge“ ver­stan­­den, der das mechanistische Weltbild offen in seiner Naturphilosophie reflektiert (vgl. S. 112). Grund­­lage des Ganzen sei ein „apriorischer Materialismus“, der weniger auf ex­pe­ri­men­tel­le Beo­bach­­tung und mehr auf spekulative Philosophie ziele (vgl. S. 117). Seine mechanische Psycho­lo­gie wie auch politische Philosophie hätten sich die von Kepler, Galileo u.a. praktizierte Idee der neuen Wissenschaft als Vorbild aneignen und ihre naturwissenschaftlichen Methoden über­nehmen kön­nen (vgl. S. 119). Das zeitigt natürlich Folgen: Einerseits führe die mechanische Phi­losophie samt ihrer Methodik Hobbes zu einer Politik, „in der die Staatsregulierung als Technik fun­giert“ (S. 120). Andererseits nehme die Religion als Ordnungs- und Erklärungsmuster eine im­mer geringere Stellung ein, während die Wissenschaft selbstreferentiell werde (vgl. S. 121). John Locke hingegen ließe sich nicht so einfach als mechanistischer Philosoph begreifen. Als Grund dafür wird sein Sensualismus hervorgehoben (S. 131). Sein Erkenntnisinteresse führe ihn zu einer „Klassifikation von Wis­sen und einer Diskussion um wahrscheinliches Wissen“ (S. 128). Darüber hinaus habe er her­aus­gearbeitet, dass eine durchgängig rational eingerichtete Welt nicht existiere, da der men­schli­chen Vernunft über ihre Vorstellungskraft Grenzen gegeben seien (vgl. S. 129). Somit ist ebenso die Reichweite von Naturerklärungen begrenzt (S. 131).

Stärker noch auf den Kosmos beziehen lassen sich der Newtonianismus (Kapitel 4.5) sowie „Leib­niz‘ göttliche und prästabilisierte Harmonie“ (Kapitel 4.6). Vor allem die Kosmologie Leib­niz‘ und das darin sich äußernde „Gottvertrauen“ im Sinne einer sich von der Mathematik weg­wen­denden Me­ta­physik versperre den Weg zum Verstehen der Natur und zu Fragen der Natur­phi­­losophie, „die sich an Phänomenen und konkreten Problembewältigungen orientiert“ (S. 139). Mon­tesquieu und Adam Smith vollziehen dann einen „Bruch mit mechanischen Prin­zi­pien“ (Kapitel 4.7), hegen aber durch­­­aus soziologische Einsichtnahmen, die [theoriegeschichtlich?] „relativ abrupt“ aufkämen, was be­­sonders für Monte­squieu gelte, dessen empirischer Zugang durch Reiseerfahrungen gelegt wurde. Die „Un­terschiedlichkeit der Gewohnheiten der Menschen“ wird so als soziologische Erfahrung ab­ge­­bucht (S. 145). Allerdings falle auf, dass es bei ihm „keine Natur-Kultur-Differenzierung gibt“. D. h., ob Gesellschaft oder regierende Institutionen, alles ist hier stark durch Naturgesetze bestimmt (S. 149). – „Das ist in gewisser Hinsicht Materialismus, im Sinne einer Naturalisierung des Men­schen, in der dieser der Natur ausgeliefert ist“ (ebd.). Mit Smith macht Fischer wiederum eine Sä­ku­larisierung der Philosophie deutlich: Gott wird nicht mehr als funktionales Erklärungsmodell für Natur und Soziales herangezogen, sondern nur noch „als Erbauer der Maschine“ wahr­ge­nom­men, die, einmal in Gang gekommen, in ihrer mechanisierten Gesetzmäßigkeit von alleine läuft und dechiffrierbar ist (S. 156).

Kapitel 5 fasst die bisherigen Ergebnisse zusammen (S. 157–170), um im Anschluss ausführlicher auf soziologische Wandlungsprozesse der frühneuzeitlichen Wissenschaft einzugehen, die bis in die Gegenwart hinein weiterverfolgt werden. Fischer hält eine „Entmonopolisierung des Wissens“ fest, Wissen soll allgemein verfügbar sein und der „Erziehung, Bildung, der Besserung des Einzelnen und der Gesellschaft dienen“ (S. 174). Diese Akademisierung geschehe unter der Auf­sicht der katholischen Kirche, was zu einer weiteren Verfestigung von „Elite und Volk“ führe, aber zugleich das „Bedürfnis nach Lektüre und Wissenserwerb beim gebildeten Stand“ fördere (S. 175). Auch hier geht es in erster Linie darum, auf Wechselwirkungen abzustellen. Naturphilosophie müsse als Bestandteil der Gesellschaft verstanden werden, die Entwicklungslogik der früh­neu­zeit­lichen Wissenschaft sei mit der Entwicklungslogik der Gesellschaft verbunden (S. 175 f.), was Fi­scher u.a. deutlich macht mit Beiträgen aus der historischen Soziologie sowie einschlägigen Mo­der­nisierungstheoretikern (S. 175 ff.). Auch der Arzt und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck wird kritisch gewürdigt. Seine Terminologie vom Denkstil und Denkkollektiv könne durchaus je­nes „Paradigma der Mechanik“ begreifbar machen, zur „konkreten Entwicklungslogik der Wis­sen­schaf­ten in der Frühen Neuzeit“ trage er aber fast nichts bei (S. 187). Nach Einlassungen über den Begriff des Fortschritts (S. 187 ff.) wird in Kapitel 5.1 festgehalten, dass sich mit dem neuen Weltbild das Verhältnis von Natur und Gesellschaft verändert habe. Dies bilde sich ab an einer Naturphilosophie, die Natur zunächst als eigenständigen Gegenstand betrachtet und darüber Auto­nomie beansprucht. Ab 1700 erfolge dann eine zweite Trennung: „die des Sozialen von der Natur“, und zwar auf der Folie einer sozialen und ökonomischen Neuordnung der Herrschaft sowie der Frage nach dem Wesen des Menschen (S. 199).

Kapitel 6 spürt dem „Echo der Naturphilosophie in der Soziologie“ nach und konstatiert, dass sich die „bisherige Soziologiegeschichte (…) recht wenig um die Beziehung der Soziologie zur Na­tur­phi­­losophie gekümmert“ habe (S. 204). Diesem Desiderat wird in Kapitel 6.1 zunächst nach­ge­gan­gen auf Grundlage der Theorie von Saint-Simon. Dieser anerkenne das Gesetz der Gravitation nicht nur für die Physik, sondern zugleich für die Physiologie, also der Wissenschaft vom Men­schen (vgl. S. 206). Gesprochen ist hier von einer holistischen, sozialen Physiologie, die für Saint-Simon nah­ezu alles einbegreift und zwar auf Grundlage „naturwissenschaftlicher Maßstäbe“ (S. 209). Un­­ter dieser Prämisse gerät alles in den Bann seiner universalistischen Kosmologie, die „sinnhafte Wahr­­­nehmung des Einzelnen“ spiele dabei keine Rolle (S. 210). Auch an Comte, der wesentliche Ge­­­danken von Saint-Simon weiterführe, ließe sich ablesen, wie eng Soziologie mit der Na­tur­phi­lo­so­phie verzahnt sei. Das gelte insbesondere für seine „positive Philosophie“ sowie dem Kon­zept von Statik und Dynamik, das als Gesetz der Naturphilosophie auf soziologische Dyna­mi­ken an­ge­wandt werde. Hier führt ein Weg von der ursprünglichen Beschreibung der Himmelsmechanik zum „empirisch messbaren Gang der sozialen Welt“ (S. 223). Comte reagiere allerdings auch auf in­­dustrielle Umbruchprozesse und Krisen, was sich in der Suche nach einer „neuen gesell­schaft­li­chen Ordnung“ darstellt (S. 224 f.). Mit Durkheim hingegen (Kapitel 6.2) scheinen sich Soziologie und Naturphilosophie voneinander zu trennen, Fischer arbeitet jedoch heraus, dass der „so­zio­lo­gi­sche Zugang zur Natur“ nach wie vor gelingt, nun allerdings über die „Vermittlung des So­zia­len“ (S. 231). Innerhalb der deutschen Soziologie (u.a. werden Tönnies und Simmel genannt) sei aber kaum ein Einfluss der Naturphilosophie festzustellen. Eher fänden sich dort Einflüsse des „Evolu­tio­nis­mus“ (S. 237). In den darauffolgenden Seiten geht Fischer in Einzelstudien auf den möglichen Zusammenhang von Naturphilosophie und amerikanischer Soziologie ein (Kapitel 6.3).

Auch mit Hegel und zu Beginn des siebten Kapitels wird deutlich, dass sich eine Loslösung von der Natur und Naturphilosophie vollzog (S. 248 f.). Über William Ogburn (Kapitel 7.1), weiteren Aus­führungen zum „Ordnungsproblem“ (Kapitel 7.2) und zur „Entstehung von Weltbildern“ (Kapitel 7.3) gelangt Fischer schließlich zu einer stufenweisen Systematisierung dieser „Trennung von Natur und Gesellschaft“. Neben dem „Ringen mit der Natur“ und deren „Mathematisierung“ steh­­en die letzten beiden Phasen für „Mythos der Beherrschbarkeit/​Kontrolle und Ausbeutung der Natur“ im Zuge des Industriezeitalters sowie einer sich daran anschließenden „Reflexivität des Na­­tur­verhältnisses“ als „Zerfall des Mythos“, die über die „Wahrnehmung von Umwelt­pro­ble­men“ oder Debatten zur „Ri­si­ko­gesellschaft“ (Beck) sichtbar wird (S. 275) (zu Beck vgl. 289 ff.).

Das Werk schließ ab mit einem kurzen achten Kapitel zu „Natur und Gesellschaft in der Gegen­wart“. Unter kritischer Aufnahme einer „New Historical Sociology“ als „Krise­n­wis­sen­schaft“, die ge­rade beim Aspekt der „Vergesellschaftung“ das Wissen nicht mitberücksichtige (S. 282), wird als „vor­läufiges Ergebnis des Modernisierungsprozesses“ ein „Schwinden des all­um­fas­sen­den Gan­zen“ festgehalten, also ein Überwinden der „kosmologische[n] Ordnung“ (S. 285). Einzig die Me­ta­pher einer Kosmologie als „kognitives Ordnungssystem“ würde weiter Be­stand haben: „Der Kos­mos als Sehnsuchts- und Zufluchtsort, Forschungsprojekt, wissen­schaft­liches oder künstlerisches Spiel­feld (…)“. Ganz im Sinne der vorangestellten Wechselwirkungsthese wirft Fischer die resü­mie­rende Frage auf, ob mit dem „Bruch der Gesellschaft mit der Natur nicht etwas preisgegeben wur­de, was später wieder als unvermitteltes Gegenüber des Sozialen auftaucht“ (S. 285). Den Schluss­punkt markiert Bruno Latours „‚radikaler Realismus‘“ und seine „Kritik an der Vernunft und an einem Vertrauen in die Rationalität der Gesellschaft“, was perspektivisch mit einer wissens­so­ziologisch-historischen Analyse „in Einklang zu bringen“ sei (S. 293). Einigkeit fände sich be­reits in Kritikpunkten zu den „Grenzen der Vernunft“, zur „Abtrennung der Lebenswelt von der Wis­s­enschaft“ und „instrumentelle[n] Beziehung von Wissenschaft bzw. wissenschaftlichem Wissen und Politik“ (S. 294).

Diskussion

Die Beziehung von Natur und Gesellschaft auszuleuchten scheint unter Berücksichtigung akuter Kri­senphänomene, die in einem Macht- und Ausbeutungsverhältnis von Mensch und Natur si­tu­ieren, mehr als nur rele­vant und wichtig. Dafür die Beziehung von Kosmos und Gesellschaft ent­lang des naturphilosophischen Diskurses in und ab der frühen Moderne als Untersuchungs­ge­gen­stand heranzuziehen, ist äußerst sinnvoll, zumal diese Blickrichtung die Perspektive erweitert um die theoriegeschichtlichen Wurzeln der Proto-Soziologie als (ehemals) teilabhängige Disziplin von natur- und sozialphilosophischen Denktraditionen. Indem hier nun auf das „Gewordensein der modernen Gesellschaft“ abgezielt wird, stellt sich die Frage nach der Rolle der Theorie in diesem Prozess. Inwieweit manifestiert sich gesellschaftliche Logik in Sozial- und Naturphilosophie, wie ist dem auf die Schliche zu kommen unter der Voraussetzung, dass das Verhältnis von Theorie und gesellschaftlicher Praxis nicht unbedingt offen reflektiert wird bei den einschlägigen Autoren? Diese Fragen sind natürlich nicht neu und erinnern an ältere, wichtige Studien: genannt sei neben Macphersons Standardwerk zur „politische[n] Theorie des Besitzindividualismus“ u. a die Erst­lings­schrift von Hans Medick („Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesell­schaft“) der sich, ähnlich wie Fischer, die Entdeckung des Sozialen vornahm und darauf verwies, dass sich die neuzeitliche bürgerliche Gesellschaft besonders in der „Vorstellung vom Naturzustand (…)“ sich erstmals selbst theoretisiere. Verstanden als „normativ-analytisches Denkmodell“ (in den Wor­ten Fischers: Welt­­­bild), war zu zeigen, dass das Naturzustandstheorem nur schlüssig zu verstehen sei „aus den Grundstrukturen der früh­­­­bürgerlichen Markt- und Handelsgesellschaft“, was ebenfalls ex­emplifiziert wurde anhand der Tex­­te von Locke und Smith. Dieser Hinweis soll nicht beck­mes­serisch daherkommen, vielmehr auf einen nicht unproblematischen Unterschied in der metho­di­schen Anlage hinweisen. Den Autoren ging es nicht um eine „Wechselwirkung“ zwischen Theorie und gesellschaftlicher Entwicklung, sondern sie fasst­en die Sozialphilosophie als objektivierbaren Aus­druck eines subjektiven Erfah­rungs­­zu­sammen­hanges, der sich real in der Materialität der Le­bens­verhältnisse verorten ließ sowie darüber ver­mittelte – und brach. Auch mit Blick auf Hobbes liegt darin mehr als nur ein „apriorischer Materia­lis­­mus“ (s.o.).

Peter Bulthaup hatte dies in kritischer Auseinandersetzung mit Borkenau und Gross­mann am Gegenstand der Naturwissenschaft sowie dem Natur­be­griff versucht aufzuzeigen und in An­lehnung an Marx darauf hingewiesen, dass die „Emanzipation der men­schlichen Gattung von der oft unwirtlichen ersten Natur begann, als jene ihren Stoffwechsel mit dieser durch Arbeit ver­mit­telte“. Arbeit sei auf Natur als das „Reservoir der Gegenstände der Tä­tig­keit angewiesen“. Mit dem Begriff der Arbeit ließ sich das Verhältnis von Natur und Mensch sowie die darin aufgehobene An­weisung auf Herrschaft geschichtlich wie logisch entwickeln. Damit war es über­dies möglich, das mechanische Weltbild als einen historisch vermittelten Umgang mit jenen Natur­gesetzen zu be­greifen, die, einmal als Einzelteile herauspräpariert, in organisierte Naturkräfte übersetzt und re­pli­zier­bar wurden. Die Replizierbarkeit hatte allerdings historisch zur Voraus­setz­ung die Re­pro­duk­tion des kapitalistischen Tauschwerts, der die Ware Arbeitskraft und die ‚Ware‘ Na­tur als Äqui­va­lent­produkt zunehmend disponibel machen konnte – freilich angeschlossen an die Akkumulation des Kapitals. Allgemein festzuhalten wäre zudem: nicht die Weiter­ga­be und intellektuelle Verarbeitung von Wissen oder die Er­findung eines Fernrohrs oder der Dampfmaschine an sich machten diesen Entwicklungs­pro­zess mög­lich, sondern ganz reale und gewaltsame Umstruk­tu­rie­rungen in den Eigentums­ver­hält­nis­sen, die bekanntlich zu zahlreichen Kämpfen und Widerständen füh­rten, was in dem mittlerweile ob­li­­ga­torisch gewordenen, laxen Beisei­te­schie­ben von ‚Ma­te­ria­lis­men‘ und „marxiologischen The­o­­rien“ (S. 183) verschütt geht. Ein altbekannter Kniff, der schnei­dig den Verweis auf mono­kau­sale Er­­­klä­run­gen eines vermeintlichen Basis-Überbau-Modells (s.o.) anstimmt, um der Marx­schen Theorie als solcher ‚Unterkomplexität‘ anzulasten.

Ist aber nun einmal das Problem einer sog. komplexen Wirklichkeit benannt, stellt sich dies als Herausforderung für die eigene Darstellungslogik dar, die die historische Realität des Sozialen irgendwie in den Griff bekommen muss, und hier kommt Fischers Schrift deshalb sehr an­spruchs­voll daher, weil dort mehrere Geschichten ineinandergreifen. Zu nennen wären hier die „Ge­ne­a­lo­gie der Beziehung von Gesellschaft und Natur“, eine „Soziologie der Weltbilder“ (S. 10) sowie je­ne Antizipation einer „Proto-Soziologie“, die neben naturphilosophischen Spuren ein Ran­gie­­ren von Ordnungsmustern- und Bedürfnissen mit einbegreift. Das alles soll nicht einfach neben­ei­­n­an­der­gestellt sein, sondern selbst Struktur erhalten über ein Verständnis von Historizität, das Ge­­schich­te als „gesellschaftliche[n] Lernprozess“ (S. 9) auffasst. Obwohl der Autor mit einigem Recht gegen die „philosophisch-anthropologische“ Interpretation Blumenbergs opponiert, die den „Ord­­nungsschwund“ der Neuzeit als „anthropologische Konsequenz des neuen Weltbildes“ inter­pre­­­tiert (s.o.), so greift seine so­ziologische Einbettung an dieser Stelle etwas kurz. Sie tut es des­halb, weil die Irritation des Ord­nungs­be­wusstseins primär auf gesellschaftliche ‚Wirkung‘ abge­stellt wird. Um in die neue gesell­schaft­­liche Realität hi­neinwirken zu können, „braucht jedes Wis­sen einen Träger, einen Pro­ta­go­nis­ten, der es verbreitet und tradiert“. Im 16. Jahrhundert vollziehe sich dieser Prozess vor dem Hinter­grund einer „stän­disch-ideellen Stufung der Gesellschaft“, die einer „ständisch-ideellen Stufung des Wis­sens“ kor­res­pondiert (S. 33). Das ist der Sache nach sicher nicht verkehrt, verdeckt aber Ent­schei­dendes. Denn wird innerhalb gesellschaftlicher Er­kenntnis­­pro­duktion von der jeweiligen Klas­senlage bloß abstrahiert, verschwimmt der Un­ter­schied zwi­schen der „begrenzten Reich­weite“ der „Wirkung“ einer „neuen Kosmologie“ und den tat­­säch­lichen sozialökonomischen Be­din­gungen von Erkenntnis und Erkenntnisverlust. Diese the­o­rielo­gi­sche Nivellierung kommt auch deshalb hinein, weil der Begriff des Gesellschaftlichen merkwürdig unscharf bleibt. In Haftung genommen wird stets „das Wissen der Gesellschaft“ (ebd.), darauf ist besagter Lernprozess pro­ji­ziert. Dieser korrigiert laufend das, was er an materiellen Tatsachen vorfindet. Jene „Wissensordnung“ (S. 16) kann daher von den realen gesellschaftlichen Nöten, auf die Soziologie zu insistieren hätte, ab­sehen. Und darum nimmt es nicht wunder, wenn Fischer am Ende des hier diskutierten Abschnitts fast schon idealistisch erklärt, dass die Stellung des Men­schen und die Ordnung der Gesellschaft darum neu zu verhandeln gewesen sei, „weil die Idee der Ganzheit nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, weil eine neue Unordnung am Himmel nicht mehr im Einklang mit der alten Theorie zu bringen ist“ (S. 34). Hier löst sich die Theorie von der Praxis und kommt auf die wissen­schafts­geschichtliche Wechselwirkung von Neu und Alt herunter. Jeder sozialgeschichtliche Bruch hin­ge­gen ist bereits im Vorhinein in einen Lernprozess integriert, ja letzterer geht logisch immer voran und sorgt schließlich für den Gang der Dinge. Der Widerspruch von In­dividuum und Gesellschaft so­wie Erkenntnis und Erkenntnisbedingungen, aber ebenso Erfahrungen von Schmerz und Leid ge­raten so zur notwendigen Durchgangsstation hin zu einer neuen Ordnung des Wissens. Sie sind aus den theoretischen An­nah­men ausgespart, und wo nicht, fallen sie kaum noch ins Gewicht. Qual­i­ta­tive Unterschiede von „Brüchen“ besorgen das theo­re­tische Bewusstsein nicht mehr. Da nahezu alle Phänomene um die Wissensordnung gravitieren, ja am Ende auf diese herunterkommen müs­sen, bleibt die im Natur- und Ordnungswissen eingerahmte Wirklichkeit immerzu kompatibel mit der Erfahrung der Subjekte. Verblendungszusammenhänge können prinzipiell zu jedem Zeitpunkt durchschaut, die u.a. im Werk von Alfred Schmidt aufgehobene Pro­blem­stel­lung, wo denn nun das zu Erkennende und wo der Erkennende anfängt, nicht zur Disposition gestellt werden. Dieses (nicht nur) Er­kenntnis­pro­blem ist darum be­deutsam, da, mit einem Wort von Adorno, Erkenntnis in dem Erkanntem nicht rest­los unter­zu­brin­gen ist, was in diesem Falle auf gesellschaftlich vermittelte Grenzen im Natur­ver­ständnis deutet, die zu reflektieren wären.

Interessant wäre indes zu erfahren, inwieweit eigentlich die Naturphilosophie an dieser Unschärfe mit­­webte oder z.B. Schellings ‚spekulativer Materialismus‘ die o. g. Disponibilität des Tausch­werts implizite reproduziert. Währenddessen versucht die Arbeit der potentiellen Pluralität von ver­schie­denen Wissensordnungen Herr zu werden. Natur­phi­lo­­so­phie wird in erster Linie als „wesent­li­cher Produzent von Wissen“ verstanden (S. 9). Damit ist die Rückbindung an ‚Gesellschaft‘ nur z.T. gesichert. Dieser Umstand scheint jedoch eher ein Erbe der Wissenssoziologie zu sein und ist we­niger Peter Fischers Antizipationen anzukreiden. Worin sich allerdings beide einig sind, ist die voraus­setz­ungslose Funktionalität derjenigen, die das Wissen bei sich tragen. Was Adorno an der Wis­sens­soziologie Mannheims und ihren „Rekurs auf die eine Gruppe sich bildenden Menschen“, ihre „Kul­turträger“ monierte, dass sie „eine Übereinstimmung von gesellschaftlichem und indi­vidu­el­lem Sein gewissermaßen transzendental“ voraussetze, davon sind auch Fischers „Träger von Welt­bil­dern“nicht ganz freizusprechen. Bei allem Differenzierungsobwalten ist bezeichnend, wie im­mer wieder das konkrete, empirische Subjekt in das Gleisbett der Allgemeinheit, in den „Wissens­vor­rat der Gesellschaft“ einrückt, um später an einem „Weltwissen“ zu partizipieren, welches uns „in einem Prozess der Aufklärung zur Verfügung gestellt wird“ (S. 257). Ob nun der wissens­sozio­lo­gische Aufschlag von der „Modernisierung des Wissens“ (ebd.) nicht ebenfalls ein teleologisches Element besitzt, indem es den Zusammenhang von Naturphilosophie und geschichtlicher Erfahrung allenfalls sporadisch streift, das lässt sich innerhalb des Verhältnisses von Kosmos und Gesellschaft nur schwer entscheiden. Die Toten haben bereits vor ihrem Ableben den Staffelstab des Wissens weiter an die nächste Generation von Wissensarbeitern gegeben. Darauf ist Verlass, dafür ist gesorgt.

Die Wissenssoziologie verdanke ihr Wirken „dem Gestus der harmlosen Skepsis. Sie stellt (.) alles in Frage und greift nichts an“ (Adorno). Was durchaus als sehr positiv abzubuchen ist, besitzt zugleich eine Kehrseite. Am Ende lassen sich in Fischers Werk unendlich viele Dinge diskutieren oder ‚soziologisieren‘ und selten lässt sich ein echter Keil, eine Grenzmarke in den Textkorpus hinein­schla­gen. Anders gewendet: Die Wechsel­wir­kungsthese bietet kein fassbares Kriterium mehr für das an, was richtig und was falsch sein könnte. Dieser wissenschaftstheoretische Relativismus ist so gewollt und soll, in einer Linie mit Hayek, Popper, aber auch Foucault der So­zialtheorie jedwede te­le­o­lo­gische Mucken austreiben. Übereifert man sich dabei, bleibt Sozial­wis­senschaft eine von Be­schrei­bung von Gesellschaft(en) oder Diskursen. Jenes „politische Eigen­recht“ (Medick), in das ihr Denken hätte ein­treten können, ist ihr versagt. Die Bedingungen, unter denen diese Ver­sa­gung sich reproduziert, bleiben unverstanden – der Begriff von Wissens­pro­duk­tion wird zu dem der kontingenten Vielheit. Die historisch identifizierte Pluralität von Wissens­ord­nun­gen droht um­zu­schla­gen in moralische Willkürlichkeit, aus der das kommende Unheil sei­nen politischen Nährstoff beziehen kann, nicht muss.

Erlaubt sei am Schluss eine literarische Note. In Joseph Roths „Die weißen Städte“ von 1925 ist ei­ne Trouvaille aufgehoben, die noch etwas weiter in jene Träger des Wissens hineinreichen mag. Zur Sprache gebracht werden darin die Schrecknisse des Ersten Weltkriegs und ihre Auswirkungen auf Erfahrung und Gedächtnis: „Denn unwiederbringlich weit lag die Kindheit hinter mir, durch einen Weltenbrand getrennt, durch eine brennende Welt (.). Wir sind die Söhne. Wir haben die Relativität der Nomenklatur und selbst die der Dinge erlebt. In einer einzigen halben Stunde die einem Sturmangriff voranging, durcheilte unser Geist alle krummen und lächerlichen Wege, welche die Kultur unserer Väter zurückgelegt hatte. In einer einzigen Minute, die uns vom Tode trennte, brachen wir mit der ganzen Tradition, mit der Sprache, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst: mit dem ganzen Kulturbewusstsein. In einer einzigen Minute wussten wir mehr von der Wahrheit, als alle Wahrheitssucher dieser Welt. Wir sind die auferstandenen Toten. Wir kommen, mit der ganzen Weisheit des Jenseits beladen, wieder herab zu den ahnungslosen Irdischen. Wir haben die Skepsis der metaphysischen Weisheit“. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs verdichtet sich eine Erfahrung, die aufgrund der politischen Umstände radikal mit der Kontingenz von Wissensordnungen bricht, einst sich erarbeitete Wissensbestände um Humanität zu negieren hat. Was hier in der literarischen Nachschau so eindrücklich geschildert wird, ist ein Erfahrungsverlust hinter den der zutiefst erschütterte Mensch, der zum Schlächter werden musste, nicht mehr zurückkann. Im Augenblick des nahenden Todes hat der Todbringende eine Wahrheit erkannt, die ihn vom Rest der bisherigen Gesellschaftsgeschichte abschneidet, aus der er einst all seine Sicher­hei­ten bezogen hatte. Mehr noch, sie füllt seine gesamte Erfahrungswirklichkeit aus und setzt damit radikal einen neuen Bezugspunkt, auf den sich alle Trieb- und Gedächtnisregungen zum Prisma vereinigen. Das führt zu der Pointe Roths, nun umgekehrt säßen die Großväter auf den Schößen der unglücklichen Enkel und ließen sich von ihnen Geschichten erzählen. Die plötzliche Erfahrung der Gewalt greift dem behutsamen Erleben des Erwachsenwerdens vor. Das noch vorhandene Kind in uns wird um seine Erfahrungen des Kindseins geprellt. Von diesem Trauma wissen besagte Großväter aus der Entfernung nichts anzufangen. Ahnungslos sind aber beide. Sofern sie nicht auf die gesell­schaft­li­chen Bedingungen reflektieren, die zur Katastrophe führten, gehen sie den politischen Hasardeuren und nationalistischen Revisionisten auf dem Leim. An dieser historischen Nahtstelle spricht Roth weiter von einem freien Raum, der sich befindet zwischen „der Bezeichnung und dem Begriff, den sie deckt, denn die Welt nimmt nicht alles wörtlich. Wir aber nehmen sie beim Wort, und nicht ‚bei der Sache‘ weil wir die Namen mit den Dingen verwechseln“. Damit ist nicht nur das Prinzip der Wechselwirkung als Erklärungsmaßstab für Sozialität und geschichtliche Entwicklungen an seine Grenze geführt. Implizit hingewiesen ist sogleich auf den Zusammenhang von Wissensproduktion und Ideologie sowie die Einsicht, dass der einmal erworbene Erkenntnisgewinn unter die Räder von ge­schichtlichen Redundanzen gerät, die sich gewaltsam in die Jetztzeit hineindrängen.

Fazit

Mit Peter Fischers Kosmos und Gesellschaft liegt eine ambitionierte Studie vor, die einen hohen soziologischen Informationsgehalt besitzt und zum Weiterdenken über die Genealogie von Wis­sens­ord­nungen anregt. Fündig werden darin auch diejenigen, die sich ein Bild über die Herkunft der Soziologie und ihre sozial- wie naturphilosophischen Wurzeln machen wollen. Die besondere Stärke der Schrift liegt in ihrem entschiedenen Differenzierungsgrad und dem Zusammenbinden unterschied­licher Wirklichkeits- und Theorieebenen.

Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
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Es gibt 15 Rezensionen von Kevin-Rick Doß.

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Zitiervorschlag
Kevin-Rick Doß. Rezension vom 13.12.2023 zu: Peter Fischer: Kosmos und Gesellschaft. Wissenssoziologische Untersuchungen zur Frühen Moderne. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2023. ISBN 978-3-95832-342-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31457.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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