Matthias Weber, Stephan Schlenker et al. (Hrsg.): Dem Widerstand verpflichtet
Rezensiert von Prof. Dr. Marcus Hußmann, 06.09.2024
Matthias Weber, Stephan Schlenker, Christian Reutlinger, Jenny Baese (Hrsg.): Dem Widerstand verpflichtet. Kritischer Sozialer Arbeit über Timm Kunstreich begegnen. Frank & Timme (Berlin) 2023. 158 Seiten. ISBN 978-3-7329-0939-1. D: 29,80 EUR, A: 29,80 EUR, CH: 44,70 sFr.
Thema
Timm Kunstreich gilt als einer der bekanntesten Vertreter einer sich kritisch verstehenden Sozialen Arbeit. Er war bis 2009 Professor an der Ev. Hochschule in Hamburg, ist Mitbegründer der „Widersprüche-Zeitschrift“ und setzt nach wie vor wichtige Impulse im Kontext einer politisch-produktiven Arbeit und der kritischen Theoriebildung. Als Akteur der „68-er Generation“ interpretiert Kunstreich die Profession bis heute in erster Linie politisch; seine Beiträge diskutieren neben der Kritik an bestehenden Verhältnissen dialogisch-partizipative Ansätze sowie Ideen und konkrete Alternativen für eine sozial gerechtere Zukunft. Sie sind fester Bestandteil der „sekundären Grundstruktur“ Sozialer Arbeit (Kunstreich, 2014), die sich mit klaren Positionen und eigenen Arbeitsprinzipien widerständisch gegen die fachlich-monologischen Ausgrenzungsmechanismen der „primären Grundstruktur“ einer herrschaftlich verstrickten Profession stellt.
Das Buch „Dem Widerstand verpflichtet“ greift die biografischen Weichenstellungen und historischen Kontexte von Timm Kunstreich, die für ihn prägenden Erlebnisse und Begegnungen, seine (fach-)politischen Auseinandersetzungen sowie Ideen und Vorschläge für eine alternative Praxis mehrperspektivisch in einem kleinen, rund 150-Seiten umfassenden Buch auf.
Herausgeber:innen und Entstehungshintergrund
Nach dem 2017 publizierten Buch von Stephan Schlenker und Christian Reutlinger: „Du musst sie lieben. Das Gewordensein mobiler Jugendarbeit in zwölf biografischen Bildern Walter Spechts“ (Berlin) erschien 2019 das Zweite mit dem Titel: „Du musst sie akzeptieren. Aufsuchende und Akzeptierende Jugendarbeit aus der Perspektive Franz Josef Krafelds“ (Berlin). Die beiden Herausgeber veröffentlichen nun ihren dritten Band über Protagonisten der Sozialen Arbeit, um fachwissenschaftliche Zugänge über Biografien zu erschließen. Im hier besprochenen Werk sind Matthias Weber sowie die Fotografin und Buchgestalterin Jenny Baese weitere Mitherausgeber:innen. Weber und Schlenker arbeiten am Studiengang Soziale Arbeit in St. Gallen am Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) der Ostschweizer Fachhochschule. Reutlinger forscht an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Baese konzipiert und gestaltet Publikationen aus den Forschungszusammenhängen des IFSAR.
Aufbau und Inhalt
Neben der durchgehenden und auf jeweils einer Seite aufgeführten hypertextuellen Bildgestaltung gliedert sich das Buch grob in drei weitere Schwerpunkte: im ersten Teil folgen nach einer kurzen erläuternden „Einladung“ ausgewählte Passagen aus mehreren mehrstündigen biografisch-narrativen Interviews, die die Herausgeber:innen mit Timm Kunstreich geführt haben. Der zweite Teil enthält vier QR-Codes zu YouTube-Filmen, die u.a. mit oder für Kunstreich in unterschiedlichen Zusammenhängen entstanden sind. Im dritten Abschnitt folgen drei Essays der Herausgeber, die die Themen ihres Protagonisten aufnehmen und durch weitere Perspektiven theoretisch vertiefen. Zum Abschluss folgt ein Beitrag von Timm Kunstreich zur Frage: „Was ist heute kritische Soziale Arbeit?“, der aus dem von Wolfram Stender und Danny Kröger 2013 veröffentlichten Sammelband mit dem Titel „Soziale Arbeit als kritische Handlungswissenschaft“ (Hannover) als ein Reprint aufgenommen wurde.
Die Bildgestaltung der Buchseiten der jeweils linken Seite illustriert über eine Vielzahl von unterschiedlichen Abbildungen, Anordnungen oder Symbole die Situationen, Ereignisse und Ergebnisse aus dem Leben Kunstreichs. Es sind z.B. Bilder seiner Fotosammlungen und Bücherregale, der Schreib- und Esstische sowie von Wand- und Tischdekorationen, von (abgelegten) Dokumenten oder seinen Publikationen.
Neben dieser Bildgestaltung sind auf der jeweils rechten Seite die Interviewpassagen mit den Codes aufgeführt, die die zentralen Themen des Protagonisten betiteln: Es sind dies: Partizipation, Membership, Genossenschaft, Ökonomisierung sowie Demokratisierung. Diese induktiv formulierten Codes kennzeichnen an verschiedenen Textstellen die Ausführungen von Kunstreich z.B. über seine Kindheit, Jugend und Militärzeit, über die Schwerpunkte seiner beruflichen Laufbahn, seine Kritik an der Heimerziehung oder wichtige Begegnungen u.a. mit Hans Falck. In diesem Abschnitt nehmen die Perspektiven und Narrationen von Kunstreich auf der Grundlage der deskriptiven Einordnungen der Herausgeber:innen den größten Raum ein.
Unterbrochen wird das Buch durch vier QR-Codes, die einen ergänzenden medialen Zugang eröffnen. Die links leiten direkt zum Film „Die 68er-Revolte an der Uni Hamburg“ vom „Fachschaftsrat Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg“ sowie zur Podiumsdiskussion der taz-Hamburg zum Thema „Die Heimrevolte – Haasenburg und Friesenhof: Was muss besser werden in der Heimpolitik?“. Sie leiten zur Buchvorstellung des Autors Kunstreich zur „Membership-Perspektive von Hans Falck“, die durch den Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit in Hamburg veranstaltet wurde sowie zur Diskussion anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des „Sozialistischen Büros“ in Frankfurt a.M.
Im Weiteren folgen drei Essays der Herausgeber. Christan Reutlinger greift in seinem Beitrag „‘Menschen statt Mauern‘ oder: (Wie) Kann sozialräumliches Handeln radikal (zu Ende) gedacht werden?“ die „Spuren des sozialräumlichen Denkens und Handelns“ (S. 61) der im ersten Teil des Buches vorgestellten Aussagen von Kunstreich auf, vertieft u.a. die Perspektiven durch eigene wissenschaftliche Zugänge zum Thema und ergänzt sie im Rückgriff auf Publikationen des Protagonisten hinsichtlich der Aufgaben und der organisationalen Verankerung durch Sozialgenossenschaften.
Stephan Schlenker leitet den Beitrag „Mobile und Aufsuchende Jugendarbeit, Timm Kunstreich“ über seine erste Begegnung mit ihm ein. Sie fand im Rahmen der Kinderkommission des Bundestagsausschusses in einem öffentlichen Expertengespräch zum Thema „Die Jugendhilfe im Umgang mit neofaschistischen Jugendlichen“ statt. Parallel zum Beitrag von Schlenker ist das Protokoll dieser Sitzung auf der jeweils linken Seite zur Vertiefung aufgeführt. Der Autor verbindet in seinem Essay die Positionen von Walther Specht und Franz Josef Krafeld zur Mobilen Jugendarbeit mit ausgewählten Aussagen von Kunstreich aus dem ersten Teil des Buches und – wie schon Reutlinger – anhand weiterer Publikationen.
Matthias Weber spannt mit seinem Beitrag „Revolution über Reform: mit Timm Kunstreich der Frage auf der Spur ‚Was ist (K)kritische Soziale Arbeit?‘“ einen Bogen zu zentralen Fragen, z.B. nach den Positionen und der Verortung kritischer Sozialer Arbeit als eigenständiger Theorie in den einschlägigen Einführungswerken. In diesem Kontext pointiert er die Triebfedern, Ausgangspunkte und das Schaffen von Timm Kunstreich, der „Veränderungen im Denken und Handeln in Gang“ bringt, um „dafür Menschen auf ihre solidarische Kraft zu verweisen“ (S. 109). Es gehe Kunstreich „nicht darum, grundlegend problematische Zustände zu verbessern…, es gilt sie zu überwinden.“ (S. 113) – kurz: es gehe ihm „um eine andere Zukunft“ (S. 119).
Das letzte Wort gebührt Timm Kunstreich, der in seinem Beitrag von 2013 der Frage nachgeht: „Was ist heute kritische Soziale Arbeit?“ Der Autor vertieft das mögliche Spektrum an Perspektiven durch drei weitere Fragen: „1. Was bedeutet Kritik heute?, 2. Wer ist Subjekt?, 3. Welche Praxis ist gemeint?“ Kunstreich bezieht sich dabei auch auf die von Foucault formulierten Regierungskünste und auf eine politische Haltung als deren Gegenstück: der „Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault, 1992, zitiert nach Kunstreich, 2013, S. 84). Daraus leitet er u.a. die Forderung ab, dass „die Professionellen eigene Gründe finden [müssen], weshalb sie sich gegen eine Regierungskunst, die sie selbst repräsentieren, auflehnen“ (ebd.). Im Weiteren benennt er seine Auffassung, Subjekte und auch das Soziale „strikt relational aufzufassen“ (S. 85) mit den daraus folgenden qualitativen Konsequenzen für Sozialitäten und einer Pädagogik des Sozialen. Der Beitrag schließt mit Ausführungen zu Traditionslinien einer kritischen Sozialen Arbeit und dem von Kunstreich entwickeltem „Arbeitsprinzip Partizipation“ (S. 89 ff.).
Diskussion
In dem hier besprochenen Werk: „Dem Widerstand verpflichtet. Kritischer Sozialer Arbeit über Timm Kunstreich begegnen.“ verbinden sich wie in einem Kaleidoskop nach- und miteinander Interviewpassagen des Wissenschaftlers, dessen Lebenslinien, Fotos, Notizen und Themen mit weiterführenden Filmbeiträgen und vertiefenden Essays. Es umfasst eine vergleichsweise ungewöhnliche didaktische Vielfalt, um sich den Positionen von Timm Kunstreich zu nähern und ihm als Menschen zu begegnen. Es schafft dabei – mal kurzweilig und mal konzentriert – unterschiedliche Zugänge für eine heterogene Leser_innenschaft. Das Buch ermöglicht sowohl, sich erstmals mit den Ausführungen des Protagonisten und seinen Verdiensten für eine sich kritisch verstehende Soziale Arbeit zu befassen als auch bereits vorhandene Kenntnisse zu vertiefen. Trotz der unterschiedlichen Perspektiven macht es die Position von Kunstreich durchgängig deutlich, dass das Politische nicht vom Fachlichen zu trennen ist (vgl. S. 45).
Fazit
Das Buch gleicht einer Einladung in das Leben und Wirken von Timm Kunstreich. Obwohl nur 150 Seiten stark gibt es sehr konzentriert und informativ die wohl relevantesten Perspektiven des Wissenschaftlers über unterschiedliche mediale Zugänge wieder. Es ist daher sowohl als eine Einstiegs- aber auch als eine Vertiefungslektüre für das Themenspektrum der von ihm geprägten kritischen Sozialen Arbeit unbedingt zu empfehlen.
Literatur
Kunstreich, T. (2014). Grundkurs Soziale Arbeit. Sieben Blicke auf Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit (2014a: Bd. I; 2014b: Bd. II, o.O., o.V. / einzusehen/herunterzuladen: www.timm-kunstreich.de)
Stender, W./Kröger, D. (2013): Soziale Arbeit als kritische Handlungswissenschaft. Beiträge zur (Re-)Politisierung Sozialer Arbeit. Hannover: Blumhardt
Rezension von
Prof. Dr. Marcus Hußmann
Professor für Soziale Arbeit an der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie, Hamburg.
Mailformular
Es gibt 1 Rezension von Marcus Hußmann.
Zitiervorschlag
Marcus Hußmann. Rezension vom 06.09.2024 zu:
Matthias Weber, Stephan Schlenker, Christian Reutlinger, Jenny Baese (Hrsg.): Dem Widerstand verpflichtet. Kritischer Sozialer Arbeit über Timm Kunstreich begegnen. Frank & Timme
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-7329-0939-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31464.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.