Pauline Boss: Verlust, Trauma und Resilienz
Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen, 21.10.2024

Pauline Boss: Verlust, Trauma und Resilienz. Die therapeutische Arbeit mit dem "uneindeutigen Verlust".
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2022.
315 Seiten.
ISBN 978-3-608-98711-9.
D: 45,00 EUR,
A: 46,30 EUR.
Reihe: Fachbuch.
Thema und Zielsetzung
Pauline Boss beschäftigt sich in ihrem Buch mit uneindeutigen Verlusten (oder mehrdeutigem Verlust), worunter sie zum einen Verlustereignisse versteht, bei denen das Schicksal bzw. der Verbleib des Vermissten nicht mit letztendlicher Sicherheit geklärt ist, aber auf den Tod hindeutet, ohne dass eine nennenswerte Wahrscheinlichkeit besteht, dass ein emotionaler Abschluss oder ein klares Verständnis erreicht wird. Bei dieser Art von Verlust sucht die Person nach Antworten, was den Trauerprozess kompliziert und verzögert und häufig zu einer ungelösten Trauer führt. Zu den Ursachen zählen u.a. auch Unfruchtbarkeit, Schwangerschaftsabbruch, das Verschwinden eines Familienmitglieds oder der Tod eines ehemaligen Ehepartners. Zum anderen versteht sie darunter den Verlust von Persönlichkeitsmerkmalen einer geliebten Person bei mehr oder weniger unveränderter körperlicher Anwesenheit. Ihr Ziel ist es, über uneindeutige Verluste zu informieren, dafür zu sensibilisieren und den therapeutischen Umgang damit zu lernen.
Mit ihrem Buch wendet Pauline Boss sich an Ärzte, Therapeuten und Berater, die mit Menschen arbeiten, die mit den Auswirkungen von uneindeutigen Verlusten zu kämpfen haben. Besonders angesprochen fühlen sollten sich m.E. Traumaberater*innen/​-therapeut*innen und Familienberater*innen/​-therapeut*innen.
Entstehungshintergrund/​Vorgeschichte
Pauline Boss lehrte und forschte intensiv zur Thematik des „uneindeutigen Verlustes“. Zu intensiven theoretischen Auseinandersetzungen mit dieser Thematik hat sie therapeutisch mit Betroffenen von uneindeutigen Verlusten im Rahmen von Kriegen, Terroranschlägen und Naturkatastrophen gearbeitet. Die Originalausgabe dieses Buchs erschien 2006 in Amerika, 2008 in der deutschen Ausgabe.
Autorin
Prof. Pauline Boss, PhD war bis zu ihrer Emeritierung Professorin und “Clinical Supervisor of Marriage and Family Therapy” an der Universität von Minnesota. Sie beschäftigte sich bereits in ihrer Promotion mit „Child Development and Family Studies“ und forschte und lehrte auf diesem Gebiet zunächst einige Jahre an der Universität von Wisconsin-Madison. Mitte der 90-er Jahre war sie Visiting Professor an der renommierten Harvard Medical School. Darüber hinaus bereitete sie die Mitglieder der internationalen Einsatztruppe des Roten Kreuzes auf ihren Einsatz in Bosnien Herzegowina vor und arbeitete u.a. mit Verletzten und Angehörigen von Opfern der Terroranschläge des 11. Septembers 2001.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich nach Vorwort der deutschen Ausgabe von Astrid und Bruno Hildenbrand, dem Geleitwort von Carlos E. Sluzki, Vorbemerkungen zum Aufbau des Buches und einer Einführung auf 315 Seiten in zwei Teile, die in neun Kapitel mit mehreren Unterkapiteln unterteilt sind. Das Buch schließt mit einem Epilog, Anmerkungen, dem Literaturverzeichnis und einem Register. Die Kapitel schließen jeweils mit dem Fazit.
In der Einleitung mit dem Titel „Verlust und Ambiguität“ betont die Autorin die kontextuelle Perspektive, und thematisiert einführend den Zusammenhang zwischen dem uneindeutigen Verlust und traumatischem Stress. Im Anschluss werden das Konzept des uneindeutigen Verlusts und die Geschichte der Konzeptentwicklung zusammengefasst, um dann konzeptuelle Zusammenhänge zwischen Stress und Resilienz zu betonen. Das Kapitel schließt mit Anmerkungen zur therapeutischen Ausbildung und dem weiterer Forschungsbedarf.
Im ersten Teil des Buches wird das Konzept des uneindeutigen Verlustes in drei Kapiteln erörtert. Im ersten Kapitel mit dem Titel „Die Wahlfamilie“ wird dargestellt, welche große Bedeutung das Vorhandensein einer resilienten Wahlfamilie für die Behandlung hat. Diese ist für Boss ein wichtiger Bestandteil der Seele (S. 42f) und muss nicht identisch mit der leiblichen Familie sein, entscheidend sei die Frage, wer zu dieser sozial konstruierten Familie gehöre. Diese bestehe aus einer Sammlung erinnerter Verbundenheit und sei ein aktives und affektives Band, das einem in von Verlust und Trauma gelebten Leben in der Gegenwart Hilfe bietet. Wenn ein Mensch von einer für ihn wichtigen Person physisch oder mental getrennt sei, bewältige er diese Situation dadurch, dass er sich an seine individuelle Vorstellung von Heimat und Familie klammert. Boss beschreibt anschließend die Familie als Stress- und Resilienzfaktor und bezeichnet den Resilienzbegriff als Persönlichkeitsmerkmal, sich beständig und auf konstruktive Weise immer neuen Umständen anzupassen, wobei die Familie und das soziale Umfeld eine wichtige Rolle spielen und sowohl positiv als auch negativ wirken können. Wichtig sei die kulturelle Vielfalt im Sinne einer spirituellen Akzeptanz zu berücksichtigen.
Das zweite Kapitel thematisiert die Zusammenhänge zwischen „Trauma und Stress“ und weist insbesondere auf die Bedeutung von familientherapeutischen und gemeinschaftsbasierten Interventionen hin. Fokussiert werden das psychische Erscheinungsbild und die Belastungen, die entstehen, wenn Angehörige entweder physisch nicht mehr erreichbar oder psychisch nicht mehr ansprechbar sind. Dabei grenzt die Autorin das psychische Erscheinungsbild von der klassischen medizinisch definierten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) u.a. durch die Ungewissheit ab. Kritisiert wird, dass die PTBS- Diagnostik und -behandlung weder systemisch noch kontextbezogen sei und zu stark auf die individuelle Pathologie fokussiere. Betont wird abschließend erneut die Bedeutung des kulturellen Kontextes für die Therapie und die therapeutische Beziehung.
Im dritten Kapitel über „Resilienz und Gesundheit“ diskutiert Boss zunächst den Resilienzbegriff und unterscheidet Begriffsdefinitionen aus psychologischer und soziologischer Perspektive und nimmt darüber hinaus noch Unterscheidungen aus individualpsychologischer und familiärer/familientherapeutischer Sicht vor. Durchgehend betont die Autorin den Stellenwert der Gemeinschaft zum Aufbau von Resilienz zur Therapie nach uneindeutigen Verlustereignissen und stellt anschließend einen Leitfaden für Therapie und Prävention anhand einer Lebensphilosophie vor (z.B. Scheiben Sie das Problem anderen Ursachen zu, externalisieren Sie – wenn es geht – die Schuld, übertragen Sie dem Klienten die Verantwortung, nähren Sie Hoffnung, bauen Sie Gemeinschaften auf, zeigen Sie Empathie statt Mitleid, sprechen Sie über das Thema Wut). Das Kapitel schließt mit einem Fallbeispiel.
Während im ersten Teil die Definition von uneindeutigen Verlusten und die Bedeutung eines salutogenetisch orientierten stressbasierten Therapiemodells im Mittelpunkt steht, werden im zweiten Teil des Buches verschiedene bedeutsame Aspekte vertieft.
Pauline Boss beginnt den zweiten Teil im vierten Kapitel mit Anmerkungen zur Sinnzuschreibung des Verlustes, denn wenn es keine Lösung gibt, entscheidet die Sinnfindung darüber, wie es den Betroffenen gelingt mit der Situation fertig zu werden. Hierbei ist der Sinn jeweils individuell konstruiert und drückt sich in der Sprache, Ritualen und Symbolen aus. Wichtig ist, dass familiale und gemeinschaftsbezogene Wahrnehmungen in der Beratung/​Therapie berücksichtigt werden, denn diese beeinflussen das Individuum. Daher müsse in der Therapie eine phänomenologische Perspektive (s. 108) eingenommen werden. Im Weiteren benennt die Autorin Annahmen für einen phänomenologischen Ansatz und macht deutlich, was Menschen daran hindert Sinn zu finden. Hierzu gehören Rache- und Hassgefühle und Geheimnisse. Daran schließt Boss Hinweise für die Unterstützung der Klienten in der Sinnfrage an (S. 116). Zudem bezieht sich die Autorin auf Perspektiven verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Sie benennt die Schwierigkeiten der Patienten und führt anschaulich Beispiele an, um Lösungen aufzuzeigen.
„Beherrschbarkeit relativieren“ ist der Fokus des fünften Kapitels, indem die Autorin darauf verweist, dass das Gefühl „Herr der Lage zu sein“ ein natürliches Bedürfnis ist. Allerdings führe dieses Streben nach uneindeutigen Verlustsituationen zu Stress und Konflikten. Hier vermittelt die Autorin Hinweise wie das Gefühl der Beherrschbarkeit relativiert werden kann.
Im Kapitel sechs stehen die Erfahrungen eines uneindeutigen Verlustes für die Identität im Mittelpunkt, die Betroffenen müssen sich verändern, um gesund zu werden oder zu bleiben. Damit die Identität neu entwickelt werden kann, sollte z.B. gefragt werden: Wer bin ich jetzt? Welche Rollen werden jetzt von mir erwartet? Wer gehört jetzt wirklich zu meiner Familie? Wo ist mein Zuhause? Die Paare und Familien kämpfen um neue Identitäten, damit z.B. ein Ausgleich für eine abwesende Person gefunden wird. Hier greift Boss auf den Begriff der sozialen „Rolle“ zurück, die je nach Kontext Wandelbarkeit impliziert und verweist unter anderem auf Erik Erikson und Wissenschaftlicher anderer Disziplinen. Auch in diesem Kapitel gibt Boss Empfehlungen zum therapeutischen Umgang mit Patienten.
„Ambivalenz als etwas Normales begreiflich machen“ ist der Titel des siebten Kapitels, mit dem Ziel dies als normal zu akzeptieren und sich widersprechende Gefühle nebeneinander stehen zu lassen. Einführend werden Ambiguität und Ambivalenz unterschieden. Ambiguität wird als fehlende Klarheit beschrieben und verstärkt die Ambivalenz. Dies führt bei den Betroffenen zu Unbeweglichkeit und Handlungsunfähigkeit und behindert die Resilienz. Resilienz meint das Erkennen von Ambivalenzen, um negative Folgen zu vermeiden und bestärkt darin, das Alte und die Ambivalenz hinter sich lassen zu können. Abschließend vermittelt die Autorin erneut einen Leitfaden für Interventionen.
Boss beschreibt im achten Kapitel das Lösen von zwischenmenschlichen Verbindungen als große Schwierigkeit. Viele Betroffenen wehren sich auf dem Hintergrund der Uneindeutigkeit des Verlustes sich von der verlorenen Person zu lösen. Ziel ist jedoch nicht die unklare Situation abzuschließen, sondern den Widerspruch, die Ambivalenzen anzunehmen und u.a. zu fragen, was die Revision der Bindung behindert. Hier ist oft viel Geduld seitens der Helfenden nötig.
Boss schließt den zweiten Teil ihres Buches mit dem neunten Kapitel über das Wieder- bzw. Neuentdecken von Hoffnung ab. Sie postuliert (S. 243): „Ohne Sinn gibt es keine Hoffnung. Ohne Hoffnung gibt es keinen Sinn.“ So müssen die Helfer*innen mit dem Betroffenen herausfinden, welche Hoffnungen sie weiter aufrechterhalten können und welche aufzugeben sind. Hoffnung sei mit Vaclaw Havel nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgehe, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht. Erneut sind die in den vorangegangenen Kapiteln geschilderten Schritte dabei Teil des Entdeckens von Hoffnung.
Mit dem Epilog: Das Selbst des Therapeuten richtet sich Pauline Boss direkt an die Therapeuten, die mit Menschen mit uneindeutigen Verlusten arbeiten. Sie fordert dazu auf, auch als Therapeut*in Uneindeutigkeit auszuhalten und unsere Ambiguitätstoleranz auszubauen. Um diesen Anspruch zu erfüllen, berichtet Boss von ihren eigenen uneindeutigen Verlusten als Ehefrau eines alkoholabhängigen Mannes. Abschließend stellt Sie erneut eine Reihe von Fragen, z.B. wie revidieren Sie menschliche Bindungen oder wie definieren Sie sich nach der Erfahrung eins uneindeutigen Verlusts Ihre Identität neu?
Das Buch schließt mit einem Dank, Anmerkungen, dem Literaturverzeichnis und einem Register.
Diskussion
Pauline Boss thematisiert ein häufig auftretendes Phänomen, das in der klassischen Traumatherapie explizit sonst nicht fokussiert wird. Beispielhaft sind dies Situationen, in denen Menschen Todesfälle erleben, in denen Angehörige inhaftiert sind, nach Scheidungen kein Kontakt mehr möglich ist oder in denen Menschen an schweren Erkrankungen, wie Demenz leiden und in ihrer Persönlichkeit „verschwinden“. Boss erweitert mit Ihrem Ansatz den klassischen Traumabegriff, der sich zu häufig nach den klassischen Kriterien einer PTBS richtet und indem in der Fachliteratur und der Praxis der Traumapädagogik, der -beratung und insbesondere der Traumatherapie zu oft eine individualisierte Perspektive eingenommen wird, aber nur wenig das soziale Umfeld einbezogen wird. Hier bietet der Ansatz von Pauline Boss eine wichtige Ergänzung. Mit diesem umfassenden Konzept können insbesondere familientherapeutische und gemeindenahe Hilfen selbstverständlicher mitgedacht werden. Dieser gemeindenahe Ansatz wird in Deutschland leider bisher wenig umgesetzt. Ausnahmen sind z.B. Trauergruppen oder wenn sich Betroffene von Gewalt, z.B. eines Bistums treffen.
Zudem leistet Boss mit ihrem Buch einen wesentlichen Beitrag zur Resilienzforschung und bietet insbesondere für berufsunerfahrene Berater*innen und Therapeut*innen speziell aufeinander abgestimmte und gut lernbare Interventionsschritte an.
Als bedeutsam erlebe ich auch die Hinweise von Boss über das Aushalten von Ambivalenzen und einer nicht möglichen Berechenbarkeit der eigenen Zukunft und die Suche nach einer neuen Sinnfindung.
All diese Aspekte sind für die heutige Traumaberatung und -therapie bedeutsam, auch wenn aktuelle traumaspezifische Konzepte ihrerseits in manchen Aspekten (z.B. die Bedeutung eines sichern Ortes) zu integrieren wären.
Insgesamt ist das Buch trotz einiger Wiederholungen mit seiner klaren Gliederungen, dem theoretischen (oftmals älteren) Kontext, den Beispielen und den Zusammenfassungen sehr angenehm zu lesen.
Fazit
Dieses in einer neuen Ausgabe vorliegende Buch bereichert die Interventionsmöglichkeiten in der Traumaberatung und -therapie. Mit ihrem Buch wendet Pauline Boss sich an Ärzt*innen, Therapeut*innen und Berater*innen, die mit Personen arbeiten, die Auswirkungen von uneindeutigen Verlusten erleben. Die Autorin stellt eine ergänzende und bedeutsame Perspektive der Bewältigung dieser häufig auftretenden traumatischen Erfahrungen vor. Den Leser*innen wird eine hilfreiche, theoretisch fundierte und praxisnahe Darstellung geboten.
Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
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