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Rosemarie Sackmann, Tanjev Schultz et al.: [..] Selbstverortungen türkischer MigrantInnen und ihrer Kinder

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz, 19.09.2006

Cover Rosemarie Sackmann, Tanjev Schultz et al.: [..] Selbstverortungen türkischer MigrantInnen und ihrer Kinder ISBN 978-3-631-54165-4

Rosemarie Sackmann, Tanjev Schultz, Kathrin Prümm, Bernhard Peters: Kollektive Identitäten. Selbstverortungen türkischer MigrantInnen und ihrer Kinder. Peter Lang Verlag (Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2005. 290 Seiten. ISBN 978-3-631-54165-4. 44,80 EUR.

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Einführung

 "Wir sind DeuTürken". Das ist die treffende Überschrift eines Online-Artikels der Bild-Zeitung am 28.06.2006 anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland. Geschmückt wird der Text mit Fotos von hübschen Deutsch-Türkinnen mit der türkisierten Deutschland-Fahne (Schwarz-Rot-Gold mit Halbmond und Stern in der Mitte). Zum ersten Mal und in einer noch nie da gewesenen Intensität hat sich die Integration von türkischen MigrantInnen regelrecht materialisiert und in kleinen Autofähnchen mit Halbmond und Stern bzw. der "Trikolore" manifestiert. Dass die Türkei nicht dabei sein durfte, war ein weiterer glücklicher Nährboden für die neue deutsch-türkische Welle, den transkulturellen Patriotismus, der die ganze Nation für vier Wochen in seinen Bann nahm. Doch wir sahen auch TürkInnen mit Migrationshintergund, die nicht jubelten, ja sogar zu den Spielgegnern der deutschen Elf hielten. 

Dass starre bipolare Konzepte von Identität, wie jahrzehntelang von Politik und Wissenschaft suggeriert, nicht mehr haltbar sind und eher durch komplexere, dynamischere und vor allen Dingen dichotome Konzeptionen ersetzt werden müssen, beweist das oben genannte Beispiel. Vor allen Dingen müssen entsprechende Untersuchungen das Individuum stärker in den Fokus nehmen.      

Autorinnen/Autoren, Entstehungshintergrund und Fragestellungen

  • Tanjev Schultz M.A. ist Politik- und Sozialwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen und ist zudem journalistisch tätig.
  • Dr. Rosemarie Sackmann ist Sozialwissenschaftlerin und lehrt u. a. im Rahmen der Integrierten Europastudien an der Universität Bremen. Arbeitsgebiete: Migration, Integration, Multikulturalismus.
  • Kathrin Prümm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Bremen und lehrt im Studiengang Politikmanagement.
  • Bernhard Peters ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Bremen und Sprecher des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS). 

Weitere Publikationendes Forscherteams sind:  

  • Sackmann, R.: Zuwanderung und Integration: Theorien und empirische Befunde aus Frankreich, den Niederlanden und Deutschland. VS Verlag, Wiesbaden 2004
  • Sackmann, R./Prümm, K./Schultz, T.: Kollektive Identität türkischer Migranten in Deutschland: erste Annäherung an eine Forschungsfrage, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS), Universität Bremen, Bremen 2000   
  • Prümm, K./Sackmann, R./Schultz, T.: Collective Identities of Turkish Migrants in Germany - The Aspect of Self-Localization. In: Sackmann, R./Peters, B./Faist, T.: Identity and Integration. Migrants in Western Europe. Ashgate, Aldershot 2003
  • Schultz, T./Sackmann, R.: "Wir Türken..." Zur kollektiven Identität türkischer Migranten in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B43/2001, S. 40-45, nachgedruckt unter dem Titel "Kollektive Identität und Integration türkischer Migranten in Deutschland". In: Forum Jugendhilfe 4/2001, S. 51-55   

Die sog. Bremer Studie basiert auf den umfassenden Ergebnissen eines Forschungsprojekts, das am InIIS (Institut für Interkulturelle und Internationale Studien) der Uni Bremen zwischen 1999 und 2001 durchgeführt und vom DFG gefördert wurde. Ihr sind diverse Artikel und Buchbeiträge vorangegangen. Dabei ist das Hauptanliegen die Klärung des umstrittenen Begriffs "Kollektive Identität" aus der Sicht von türkischen MigrantInnen. Hierfür wurden unter Leitung von Bernhard Peters und Rosemarie Sackmann Befragungen mittels 122 Leitfadeninterviews Interviews und 122 Fragebögen durchgeführt. Das Forschungsanliegen ist darauf ausgerichtet, identitätszentrierte Unterscheidungen zwischen der Generation der PioniermigrantInnen (erste Generation) und deren Kinder (zweite Generation und mindestens 18 Jahre alt) zu ermöglichen. Aus jeder Familie wurden zwei Personen (gleichgeschlechtliche Eltern-Kind-Dyaden) teils in Deutsch, teils in Türkisch befragt. Dabei steht die Analyse kollektiver Identitäten türkischer Zuwanderer in Deutschland im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Bemühung.   

Dem Forschungsanliegen liegt der öffentliche Diskurs zugrunde, dass türkische Einwanderer eine Gruppe mit einer kollektiven Identität seien, womit lange Zeit auch die Integrationsunwilligkeit der besagten Migrantengruppe attestiert, ja sogar legitimiert worden ist. Gleich zu Beginn thematisieren die Autorinnen die Problematik des Begriffs der kollektiven Identität. Die Forschungsfragen der Untersuchung fassen sie wie folgt zusammen:

  • Wieweit umschreiben die Selbstverortungen der Befragten Gruppenzugehörigkeiten? Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Personen mit übereinstimmenden Selbstverortungen? Gibt es Unterschiede zwischen ihnen? Gibt es zwischen Personen, die sich unterschiedlich selbst etikettieren, geteilte Vorstellungen über eine türkische kollektive Identität?
  • Gibt es eine kollektive Identität unter türkischen Zuwanderern in Deutschland und, wenn ja, wie sieht diese aus in Hinblick auf die fünf Dimensionen - Kriterien der Mitgliedschaft; Selbstbilder; Verpflichtungsgefühle, Gruppensolidarität und Vertrauen; Stolz und Abgrenzung; Geschichtsbezüge?
  • Wie verhält sich ethnisch-nationale kollektive Identität zur Integration in deutsche Kontexte?
  • Gibt es Zusammenhänge zwischen präferentiellen sozialen Beziehungen und Gruppenorganisationen einerseits mit Ausprägung kollektiver Identität andererseits?
  • Gibt es Transformationsprozesse kollektiver Identität zwischen der ersten und zweiten Generation?
  • Gibt es Unterschiede kollektiver Identitäten zwischen den Geschlechtern?  

Aufbau und Inhalt

Das Buch besteht aus sieben Teilen.

  1. Einleitend werden im 1. Teil (S. 13 - 43) unter der Überschrift "Kollektive Identität: Forschung und Theorie" diverse Forschungsrichtungen und -ergebnisse vorgestellt. Dabei werden Themen wie "Ethnische kollektive Identität in der Forschung" (1.1) und "Kollektive Identität als diskursives Konzept" (1.2) behandelt. Schließlich werden  "Untersuchungsmethode" (1.3) und die Forschungsausrichtung (1.4) dargestellt.
  2. Teil 2 (S. 45 - 117) behandelt unter dem Titel "Selbstverortungen" die Selbstbezeichnungen der ProbandInnen und deren Bedeutung unter dem Aspekt "Türke/Türkin", "Deutschtürken", "Moslem" usw. Abschließend werden alternative Selbstverortungen mit der Fragestellung nach transnationalen Zugehörigkeiten angeführt.  
  3. Im 3. Teil (S. 119 - 152) "Formen kollektiver Identität unter türkischen MigrantInnen" werden aus dem Interviewmaterial heraus zwei dichte und zwei wenig entwickelte Identitätskonstruktionen kontrastiert.  
  4. Im 4. Teil (S. 153 - 202) "Dimensionen kollektiver Identität - Einzelaspekte" werden Einzelauswertungen zu den Dimensionen kollektiver Identität präsentiert. Dabei werden auch Generations- und Geschlechtsunterschiede angesprochen.  
  5. Im 5. Teil (S. 203 - 228) werden "Stereotype" unter türkischen MigrantInnen angeführt. Dabei wird zuerst die Bedeutung von sozialen Stereotypen behandelt und anschließend durch Stereotypen über TürkInnen und Deutsche ergänzt.     
  6. Schließlich werden im Teil 6 (S. 229 - 242) "Islamische Organisationen und Bremische Politik" dargestellt.
  7. Teil 7 (S. 243 - 253) ist die Zusammenfassung.

Zielgruppen

Die Studie richtet sich an SozialwissenschaftlerInnen, die im Themenbereich "Migration" theoretisch oder praktisch tätig sind. Vor allem Professionelle, die theoretische Explikationen zum Thema "Kollektive Identität" suchen und dabei auch empirische fundierte Befunde suchen, werden hier fündig werden. Die Tiefgründigkeit der Studie und die Brisanz der Ergebnisse macht das Buch auch für politisch Tätige interessant.          

Diskussion

Keine Frage, die vorliegende Studie ist in jeder Hinsicht anspruchsvoll. Wer eine ätherische Lektüre mit Oberflächencharakter erwartet, wird leider enttäuscht werden. Dieses ist (Anm.: glücklicherweise!) auch nicht die Absicht der WissenschaftlerInnen, die hier eine hochwissenschaftliche Arbeit vorlegen. Die besondere Leistung besteht darin, dass hier das Interieur der türkischen Community im Hinblick auf die Identität dargestellt wird und dabei theoretische Explikationen und aktuelle Bezüge nicht vernachlässigt werden.   

Besonders wertvoll sind die Daten im Anhang, die statistische Informationen über die Probanden geben. Darüber hinaus stellt auch das  Literaturverzeichnis einen wertvollen "Schatz" dar, da hier bedeutende Erscheinungen bezüglich Identitätsforschung (insbesondere aus den Staaten) versammelt sind und somit die Basis für die weitere Beschäftigung mit der Thematik bieten.

Das nahezu perfekte Buch hat trotzdem einige kleinere Schwächen, die forschungstechnisch bedingt sind. So ist der Begriff Deutsch-Türken per se problematisch und gerade hier zeigen sich die Grenzen einer interkulturellen Forschung (S. 77 ff). Inkorrekt ist die Behauptung, dass der Terminus nicht in den türkischsprachigen Interviews übersetzt werden kann. Es hätten noch weitere inhaltliche Alternativen ausdiskutiert werden müssen (wie z.B. Almanya-Türkleri = Deutschland-Türken, Almanyali = Deutschländer etc.), da kulturelle Verortungen dem Herkunftskontext entspringen müssen. Dass Identität auch durch das Sprachrepertoire vermittelt werden bzw. begrenzt sein kann, wird hier leider nicht deutlich.

Die wissenschaftliche Qualität und Brisanz wird durch diese kleinen Defizite jedoch nicht getrübt.                                                                                                        

Fazit

Die Studie hat deutlich aufgezeigt, wie wichtig generationsübergreifende Studien in der Migrationsforschung sind und vor allem durch transethnische Forschungsmodelle ergänzt werden müssen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich kollektiver Identitäten feststellen zu können. Insbesondere nach dem 11. September 2001 ist in den europäischen Einwanderungsgesellschaften die vehemente Forderung aufgekommen, dass insbesondere muslimische MigrantInnen sich kulturell verorten und positionieren müssen und eine endgültige Entscheidung (z.B. für Deutschland oder gegen Deutschland) treffen müssen. Dieser Prozess wird jedoch Jahre in Anspruch nehmen.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz
Migrationsforscher. Freiberufliche Tätigkeit in der Migrationssozialberatung und Ganzheitlichen Nachhilfe

Es gibt 18 Rezensionen von Yalcin Yildiz.

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ISSN 2190-9245