Daniel Deimel, Diana Moesgen et al. (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Suchthilfe
Rezensiert von Prof. Dr. Gundula Barsch, 07.08.2024
Daniel Deimel, Diana Moesgen, Henrike Schecke (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Lehrbuch. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2024. 612 Seiten. ISBN 978-3-8252-6123-8. D: 40,00 EUR, A: 41,20 EUR, CH: 48,70 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
In den Arbeitsfeldern der Drogen- und Suchtkrankenhilfe verfügt die Mehrheit der hier Tätigen über eine Ausbildung im Fach „Soziale Arbeit“. Allerdings ist die Soziale Arbeit als Profession der Medizin und der Psychologie vor allem in klinischen Settings strukturell nachgeordnet. Aber auch hier sorgen suchttherapeutische Zusatzausbildungen dafür, dass grundständig in der Sozialen Arbeit Ausgebildete in interdisziplinären Teams auf Augenhöhe mit anderen Professionen praktisch arbeiten. Die Unterschiede in den Platzierungen innerhalb von Leitungsstrukturen und damit auch in der finanziellen Anerkennung begründen sich vielfach nur damit, dass seit einigen Jahren in der Regel ein Studium der Sozialen Arbeit nicht an einer Universität abgeschlossen werden kann – eine mehr als bedauerliche Entwicklung.
In Anbetracht der Bedeutung der Sozialen Arbeit in der Drogen- und Suchtkrankenhilfe erscheint also schon lange als Schieflage, dass den Spezifika, den Ansätzen und Methoden Sozialer Arbeit in diesem Arbeitsfeld eher wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Das setzt sich darin fort, dass das Thema nur in überschaubar wenigen Studiengängen ausführlich platziert ist. Entsprechend sind auch Ausbildungswerke rar gesät – immerhin wurden in den letzten 10 Jahren nur drei Lehr- und Lesebücher herausgegeben. Diesen Missstand will der vorgelegte Reader bearbeiten, an dem immerhin 42 Kolleginnen und Kollegen mitgearbeitet haben. Allein der damit verbundene Aufwand für Abgleich und Koordination begründet Wertschätzung für das Herausgebertrio.
Inhalt
Das vorgelegte Werk ist in vier inhaltliche Kapitel gegliedert. Der erste Teil legt die theoretischen Aspekte der Sozialen Arbeit im Bereich der Drogen- und Suchtkrankenhilfe dar, im zweiten Teil geht es um Methoden und Konzepte zur Beratung, Begleitung und Behandlung von Personen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen, der dritte Teil ist einer Diskussion um die spezifischen Hilfebedürfnisse bestimmter Personengruppen gewidmet und der letzte Teil schließt mit einem Blick auf qualitative und quantitative Zugänge der Forschung zu Themen in diesem Bereich und auf persönliche Entwicklungsmöglichkeiten für Fachkräfte der Sozialen Arbeit durch Weiterbildung das Buch ab.
Der Leitidee eines Lehrbuches verpflichtet, wird den einzelnen Ausführungen eine inhaltliche Einordnung der Darlegungen vorangestellt, die als Lernziele eine Fokussierung beim Studieren ermöglichen sollen; Hervorhebungen, Zusammenfassungen und Übersichten fassen Aussagen aus dem Text zusammen; Beispiele und Übungsaufgaben bieten Vertiefungsmöglichkeiten, Hinweise auf weiterführende Literatur für das Selbststudium, kostenloses Download-Material und der Zugang zu Filmmaterial und Internetquellen runden die jeweiligen Abschnitte ab. Mit dieser mehrdimensionalen methodischen Anlage ist das Lehrbuch gut geeignet, die heutige Studentenschaft, die längst nicht mehr nur mit „trockenen Texten“ zufrieden ist, anzusprechen und für eine Auseinandersetzung mit dem dargebotenen Stoff zu motivieren.
Das 1. Kapitel leitet das Buch mit einer Darstellung des heutigen Systems der Hilfen für problematisch Konsumierende ein, das als Suchthilfe deklariert wird. Mit diesem Ansatz werden also Drogenhilfe- und Suchtkrankenhilfesystem zusammengefasst und damit für die Darlegungen ein übergreifender Anspruch versucht.
Der theoretische Überblick eröffnet mit einer Erörterung der Begriffe Sucht, Abhängigkeit und Substanzgebrauchsstörung und deren Vorteile und Nachteile in der Verwendung. Folgerichtig werden sodann stoffgebundene Süchte skizziert und eine Auswahl an, als Verhaltenssüchte deklarierter Phänomene (hier pathologisches Glücksspiel und Internetnutzungsstörung) vorgestellt. Nachfolgend werden mögliche komorbide psychische Störungen bei substanzbezogenen Störungen, ein Blick auf die Finanzierung des Suchthilfesystems, die zurzeit dominierenden Therapieansätze aus dem Werkzeugkoffer der Verhaltenstherapie und der systemischen Therapie beleuchtet. Aspekte des Drogenrechts, der Zusammenhang zwischen Hilfeangeboten und Drogenpolitik und die ethischen Aspekte von Sucht, Suchtforschung und Suchthilfe runden das theoretische Kapitel ab, das damit etwa die Hälfte des Lehrstoffes füllt.
Das eher praxisorientierte Kapitel „Methoden und Zugänge“ stellt insgesamt dreizehn unterschiedliche methodische Ansätze vor, mit denen in der ausgesprochen vielgestaltigen Arbeit der Suchthilfe regelmäßig gearbeitet wird. Diese Darlegungen starten mit einer grundsätzlichen Diskussion zur Bedeutung der Haltung der Fachkräfte in der Suchthilfe und dem Wert einer zieloffenen Arbeit. Dem schließt sich eine Erörterung zur diagnostischen Arbeit auch durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit an, die am Beispiel von klassifikatorischen, biografischen und lebensweltorientierten Verfahren und, in einem weiteren Abschnitt, exemplarisch an einer teilhabeorientierten Diagnostik und Behandlungsplanung entlang des ICF dargestellt wird. Methoden wie die Motivierende Gesprächsführung nach Miller und Rollnick, Harm Reduction, Case Management, Qualifizierte Entzugsbehandlung, Community Reinforcment and Familiy Training, Selbsthilfe, Suchtprävention, Rehabilitation der Abhängigkeitsstörung, sozialtherapeutische Wohnhilfen und substitutionsgestützte Behandlungen inklusive psychosozialer Betreuung werden jeweils in einem Umfang von ca. 20 Seiten zwar überblicksartig, aber immer mit klaren Handlungsroutinen vorgestellt. Sie dokumentieren das Eingangsstatement des Herausgeberteams, dass sich die Suchthilfe längst evidenzbasierte Methoden und Verfahren erarbeitet hat.
Das Kapitel „Spezifische Personengruppen“ greift die besonderen Bedürfnisse auf, auf die sich die Suchthilfe einzustellen hat, wenn sie Erreichbarkeit und Haltekraft ihrer Angebote ausbauen will. Dazu gehören in diesem Abschnitt des Lehrbuches Jugendliche, Alte, Kinder aus suchtbelasteten Familien, Angehörige von Suchtkranken, sexuelle Minderheiten, Wohnungslose, Inhaftierte, Intelligenzgeminderte und psychiatrisch Erkrankte. Die wachsende Gruppe der Betroffenen mit Migrationshintergrund fehlt.
Das abschließende Kapitel referiert über qualitative und quantitative Suchtforschung und gibt einen Ausblick, welche Qualifikationswege sich derweil etabliert haben, um sich das im Lehrbuch vorgestellte Wissen, Methoden und Handlungskompetenzen anzueignen.
Diskussion
Das Buch beeindruckt, weil auf 570 Seiten eine große Dichte unterschiedlicher Themen rund um Abhängigkeit zusammengestellt wurde. Es ist damit gelungen, einen umfassenden Überblick über Diagnostik, Erklärungsmodelle von Abhängigkeit und wichtige allgemeine therapeutische Methoden vorzustellen. Hervorzuheben ist, dass damit ein guter Überblick über den aktuellen Wissensstand und die Themen der praktischen Behandlung gegeben wird.
Etwas störend ist, dass sich alle Beteiligten offensichtlich nicht darauf einigen konnten, ob von Sucht, Abhängigkeit, Substanzgebrauchsstörung oder substanzbezogener Störung die Rede sein soll. Dies ist nicht einfach eine inkonsistente Verwendung von Begriffen. Mit jeder dieser Fassungen werden auch unterschiedliche Leitideen und damit schließlich auch Handlungsstrategien verstanden. Sie sind also keineswegs nur aus dem Bemühen um eine stigmatisierungsfreiere Sprache entstanden (S. 13). Insofern wäre eine Klarstellung auch zu diesen Differenzierungsmöglichkeiten wichtig.
Diesen allgemeinen theoretischen Darstellungen folgt die Konkretisierung für die unmittelbare Praxis einzelner Problemlagen. Dabei wird sowohl in Bezug auf die stoffgebundenen als auch mit Blick auf die, als Verhaltenssüchte gelesenen problematischen Verhaltensweisen ein wichtiges Spektrum vorgestellt.
Diskutabel ist der Leitgedanke des Buches, mit der Suchthilfe offenkundig sowohl die Drogenhilfe als auch die Suchtkrankenhilfe zusammenzufassen. Die im Buch vorgeschlagene Systematik wird nicht einfach zu einem Nebenschauplatz, sondern ist von zentraler Bedeutung, wenn es um die folgenden Ausführungen zu Menschenbildern, Prinzipien und Konzepten geht. Schon in der Darstellung, wie die so gefasste Suchthilfe aufgebaut ist und über welche Etappen sie sich zu ihrer heutigen Gestalt entwickelt hat, stellen sich Fragen insbesondere dort, wo in den Texten auch von der Drogenhilfe die Rede ist. Diese wird als niedrigschwellig und akzeptanzorientiert benannt. Damit erhält die akzeptierende Drogenarbeit in dieser Systematik nur noch die Zubringerfunktion zu einem grundsätzlich auf Abstinenz orientierten Hilfesystem (S. 23). Insofern mag dann auch die Bezeichnung „akzeptanzorientiert“ stimmen. Die akzeptierende Drogenarbeit folgt dagegen einem anderen Menschenbild und darauf aufbauenden Prinzipien, sodass infrage steht, ob sich beide ohne Substanzverlust unter ein gemeinsames Dach heben lassen. Mit dem Verweis auf Zieloffenheit, in der aber ein Leben mit Drogen nicht vorkommt, ist diese Irritation nicht aufgelöst. Zumindest wird die Darstellung an dieser Stelle ungenau.
Auch mit der inhaltlichen Anlage des Buches dröhnt die Klage eines Chefarztes in den Ohren, händeringend nach Fachkräften zu suchen, die in der Klinik tatsächlich Soziale Arbeit leisten und nicht nach wenigen Wochen eine suchttherapeutische Ausbildung starten, um nach erfolgreichem Abschluss für dieses Aufgabenfeld wieder verloren zu sein. Insofern wären Anmerkungen zur klinischen Sozialarbeit wichtig, um die Wertschätzung der Sozialen Arbeit im Bereich von Suchtkrankenhilfe noch stärker herauszuarbeiten.
Es fehlen Hinweise auf Angebote, die die Selbststeuerungsfähigkeit der Patienten wieder herstellen wollen, z.B. KISS „Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum und kontrolliertes Trinken.“ Wohl auch deshalb kommen Apps, die über Self-Tracking das Bemühen der Patienten um Selbstermächtigung durch Selbsterkenntnis unterstützen wollen (z.B. Checkpoint-C und Checkpoint-S) ebenso wenig in den Blick, wie das Ausschreiten weiterer digitaler Tools, mit denen in der Drogen- und Suchtkrankenhilfe schon länger gearbeitet wird.
In seiner inhaltlichen und methodischen Anlage bietet das vorlegte Werk einen guten Überblick über das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit in Bereich von Drogen- und Suchtkrankenhilfe und eignet sich durch seine Führung mit Hilfe von Anregungen für Fokussierungen, Zusammenfassungen, Übungen und Testfragen ausgesprochen gut für die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften der Sozialen Arbeit. Merksätze, Fallbeispiele und herausgehobene spezielle Hinweise erleichtern zudem, wesentliches im Blick zu behalten. Die quantitativ überschaubaren Abhandlungen zu Einzelthemen, die zudem nicht aufeinander bezogen sind, sondern nach Interesse und Bedarf studiert werden können, werden zu einer wichtigen Qualität dieses Lehrbuchs.
Fazit
Das vorgelegte Werk ist ein profunder Wissensschatz für Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die professionell in die Drogen- und Suchtkrankenhilfe einsteigen wollen oder bereits darin arbeiten. Die Tatsache, dass viele Materialien auch kostenfrei im Internet abgerufen werden können, ist ein freundlicher Zugewinn – in diesem Sinne ist der Zugang dazu erfreulich niedrigschwellig, genauso wie der moderate Preis des Fachbuchs.
Rezension von
Prof. Dr. Gundula Barsch
Hochschule Merseburg
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Zitiervorschlag
Gundula Barsch. Rezension vom 07.08.2024 zu:
Daniel Deimel, Diana Moesgen, Henrike Schecke (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Lehrbuch. Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2024.
ISBN 978-3-8252-6123-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31481.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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