Michael Konrad: Die Assistenzleistung
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 25.10.2024

Michael Konrad: Die Assistenzleistung. Die universelle Fachleistung der Eingliederungshilfe.
Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2022.
2. Auflage.
111 Seiten.
ISBN 978-3-96605-098-2.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Fachwissen kompakt.
Entstehungshintergrund und Thema
Im Vorwort zur zweiten Auflage im Jahr 2022 (Erstauflage 2019) stellt Konrad ernüchtert fest, dass die Leistungsträger und die -erbringer erstaunlich beharrlich „an dem alten System der institutionszentrierten Versorgung“ (S. 8) festhalten und die Optionen individualisierter Assistenzleistungen beschneiden. In der Zwischenzeit hat zwar die Reformstufe 3 (Integration des Eingliederungshilferechts als zweiter Teil des SGB IX) stattgefunden und die Bundesländer haben ihre Bedarfsermittlungsinstrumente für die Leistungen der Eingliederungshilfe sowie die Landesrahmenverträge für die Leistungen der Sozialen Teilhabe erarbeitet, der Autor wiederholt aber die Intentionen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und arbeitet heraus, wie Personen mit einer wesentlichen Behinderung Leistungen zur gleichberechtigten Teilhabe erhalten und wie sie in Leistungsvereinbarungen gegossen werden können.
Autor
Dr. Michael Konrad ist Diplom-Psychologe. Er bietet Bildungs- und Beratungsdienstleistungen zur Eingliederungshilfe an. Seine Expertise beruht auf jahrzehntelangen leitenden Tätigkeiten in allen Bereichen des Betreuten Wohnens und des Gemeindepsychiatrischen Verbundes. Von 2017 bis 2021 war er Referent für die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes im Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg.
Aufbau und Inhalt
In fünf nicht-nummerierten Abschnitten werden die Assistenzleistungen präsentiert. Die Literatur bildet den Abschluss.
Das neue SGB IX: ein umfassendes Recht der Rehabilitation und Teilhabe
In diesem Abschnitt buchstabiert Konrad das Ziel der „vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ aus, wie es in § 1 SGB IX formuliert ist, und geht auf die in § 6 SGB IX Abs. (1) genannten Rehabilitationsträger und deren Verpflichtung zur Bedarfsermittlung, Teilhabeplanung sowie Koordination ein. Die Beteiligung der Interessenvertretungen von Menschen mit Körper- und Sinnesbehinderungen haben das BTHG und die Umsetzung der Eingliederungshilfe mitgestaltet. Mit der Aufnahme in Teil 2 SGB IX (ab 01.01.2020) wurde ein einheitliches Rehabilitationsrecht für alle Menschen mit Behinderung geschaffen, das die institutionenzentrierte Leistungsgewährung ablöste und die Leistungen zur Sozialen Teilhabe mit dem Ziel einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohn- und Sozialraum neu definierte (§ 113 SGB IX). Leistungsberechtigte Personen werden mit den Assistenzleistungen befähigt, ihre sozialen Teilhabeziele umzusetzen. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, die dem Autor ein ganz besonderes Anliegen sind, erhalten die Rehabilitationsleistungen nicht über die Wohnform (z.B. betreutes Wohnen), sondern – wenn sie es möchten – in der eigenen Wohnung. Da es politisch nicht konsensfähig war, alle Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe aus dem SGB IX von der öffentlichen Hand zu finanzieren, bestand der Kompromiss darin, die Leistungen der Sozialen Teilhabe des zweiten Teils von SGB IX auf den Personenkreis mit wesentlichen Behinderungen einzuschränken (mit Unsicherheiten zur Bestimmung des Personenkreises). § 90 SGB IX (Teil 2) definiert die Aufgaben der Eingliederungshilfe in universeller Form, nachdem im ersten Teil die allgemeinen Vorschriften für die in § 6 SGB IX genannten Rehabilitationsträger festgelegt sind. Der Vorsatz „Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe wie aus einer Hand“ (S. 19) hinkt da, wo die Leistungen der Sozialen Teilhabe nachrangig sind, weil sie keine Leistungen der Rehabilitation sind, aber die Sicherstellung der Teilhabe (durch die Assistenzleistungen) anvisieren. Assistenzleistungen sind zumeist qualifizierte Leistungen zur Befähigung der leistungsberechtigten Person zur eigenständigen Alltagsbewältigung. Am Beispiel eines Modells einer gemeindepsychiatrischen Versorgung verdeutlicht der Autor, wie das Sozialrechtssystem aussehen kann, damit z.B. Personen mit einer (drohenden) chronischen psychischen Erkrankung nach dem SGB V Leistungen beziehen und Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe nachrangig eingesetzt werden, um selbstbestimmt und eigenverantwortlich im eigenen Wohnraum zu leben.
Die Assistenzleistung zur Sozialen Teilhabe
Dieser Abschnitt beinhaltet Anmerkungen zu den in § 78 SGB IX enthaltenen allgemeinen Vorschriften zu den sechs Assistenzleistungen, die in den Landesrahmenverträgen der Bundesländer zu konkretisieren waren (und sind). Aus diesem Katalog können die Leistungsanbieter und die -träger Leistungsvereinbarungen schließen, die zu personenzentrierten Angeboten für die Berechtigten kombiniert werden. „Assistenzleistungen zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags“ sind als Förder- und nicht als Kompensationsleistungen (wie z.B. bei Pflegebedürftigkeit) zu sehen und umfassen auch die institutionenunabhängige „Tagesstrukturierung“ inklusive der Option zum Zuverdienst (< 3 Stunden). Konrad verdeutlicht das Alleinstellungsmerkmal der Eingliederungshilfe, indem er den Geist der UN-BRK darin realisiert sieht, dass die „Leistungsberechtigten über die konkrete Gestaltung der Leistungen hinsichtlich Ablauf, Ort und Zeitpunkt der Inanspruchnahme“ entscheiden. Im Weiteren erläutert er die Implikationen des Wortlauts des § 78 Abs. 2 zum Umfang der Leistungen, wie die vollständige und teilweise Übernahme von Handlungen zur Alltagsbewältigung (als Ausgleich zum Verlust an Selbstständigkeit durch die Beeinträchtigung), die Begleitung der Leistungsberechtigten und die – im Wortsinn zu verstehende – Befähigung der Leistungsberechtigten zu einer eigenständigen Alltagsbewältigung. Im Anschluss erläutert Konrad, wann eine Assistenz als „qualifiziert“ zu verstehen ist. In der Ausdehnung der in Abs. 2 genannten Leistungen auf Mütter und Väter mit Behinderungen bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder sieht der Autor eine Option, die Kinder in der Familie versorgen zu können und zwar als Elternassistenz (häufig über das persönliche Budget) und als begleitete Elternschaft (qualifizierte Assistenz). Die Umsetzung von fälligen Forderungen sieht Konrad in der Erstattung von Fahrtkosten als ergänzende Leistungen (Abs. 4) sowie in der Aufwandsentschädigung für die Unterstützung bei der Erfüllung eines Ehrenamts (Abs. 5) realisiert. Welche Anforderungen sich aus der in Abs. 6 formulierten Erreichbarkeit einer Person für die Leistungserbringer ergeben und wie sie erfüllbar sind, erwähnt der Verfasser im Anschluss, bevor er abschließend die Assistenzleistungen als persönliches Budget (Geldleistungen) beschreibt.
Wie kommt eine Person mit wesentlicher Behinderung zu Leistungen, die die gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen?
Die Überschrift enthält die virulente Frage nach der Bewilligung und Inanspruchnahme der Leistungen. Zunächst liegt die Gesamtverantwortung für Fall- und Versorgungssteuerung beim Träger der Eingliederungshilfe. Zur Bedarfserkennung durch den Träger der Eingliederungshilfe wurde in § 12 SGB IX i.V. mit § 106 SGB IX eine Beratungspflicht unter Einbezug der Betroffenen festgeschrieben. Die Bedarfsermittlung erfolgt mit Unterstützung der jeweiligen Landesregierungen, die dazu Rechtsverordnungen erlassen und selbst verpflichtet sind, auf flächendeckende, bedarfsorientierte und inklusiv ausgerichtete Angebote von Anbietern hinzuwirken ( § 94 SGB IX). Die Fallsteuerung läuft über die Teilhabeplanung zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe und der leistungsberechtigten Person. Träger der Eingliederungshilfe und Leistungserbringer schließen eine Leistungsvereinbarung und sichern die Versorgung. Im Folgenden erläutert Konrad den auf der Vulnerabilitätshypothese basierenden Behinderungsbegriff und die für die Ermittlung des Unterstützungsbedarfs erforderliche ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit), die sich am biopsychosozialen Modell der Gesundheit orientiert und deshalb die Beeinträchtigung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (Behinderung) über die Komponenten a) Körperfunktionen und -strukturen, b) Aktivitäten und Teilhabe, c) Umweltfaktoren und d) personbezogene Faktoren erhebt. Die Bedarfsermittlung wird auf der Grundlage des Teilhabeplans (§ 19 SGB IX) nach länderspezifischen Instrumenten vorgenommen (die nicht alle die Vorgaben der ICF abdecken). Daraus ergeben sich die erforderlichen personellen Hilfen, die wiederum Voraussetzung für den Teilhabeplan sind. Der für das Verfahren verantwortliche Rehabilitationsträger holt die erforderlichen Feststellungen weiterer Träger ein und beruft die Teilhabekonferenz (alle Leistungserbringer, Person, die leistungsberechtigt ist, Bevollmächtigte, Beistände, Vertrauenspersonen) nach § 20 SGB IX ein, um die Leistungen wie aus einer Hand zu verwirklichen. Bei Leistungen der Eingliederungshilfe ist der Teilhabeplan zugleich der Gesamtplan und garantiert, welche Leistungen der Person zustehen. Danach gilt es, passende Leistungserbringer zu finden.
Die Assistenzleistungen in Aktion
Konrad bespricht die in § 78 SGB IX beschriebenen sechs Assistenzleistungen, indem er auf die in der ICF beschriebenen neun Kapitel zur Komponente „Aktivitäten und Partizipation“ zurückgreift und sie mit Bezug zu den spezifischen Assistenzleistungen in den Lebensbereichen Haushalt, Freizeitgestaltung und Gesundheitsvorsorge mit dem besonderen Fokus auf Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen vorstellt sowie die spezifischen Anforderungen auf Seiten der Leistungserbringer an die Assistenzleistung wie z.B. für einen mobilen Teilhabedienst (als Anbieter mehrerer Leistungen) oder einen Anbieter (z.B. ein Sportverein) in nur einem Lebensbereich extrapoliert.
Bei den „Assistenzleistungen zur persönlichen Lebensplanung“ unterstreicht der Autor die Bedeutung der koordinierenden Bezugsperson und deren Aufgabe, die in der Bedarfsermittlung genannten Wünsche und Ziele möglichst konkret zu operationalisieren (inklusive der Frequenzen, des Orts usw.). Im Einzelnen bespricht er die Lebens- und Teilhabeplanung, die biografische Rekonstruktion, den Umgang mit Stress und die Krisenplanung, indem er beispielhaftes Vorgehen anhand von konkreten Fällen und unter Einbezug der psychiatrischen häuslichen Krankenpflege aufzeigt. Bei den „Assistenzleistungen zur Gestaltung sozialer Beziehungen“ ist Kapitel sieben der Komponente „Aktivitäten und Partizipation“ relevant und erfordert von der die Leistung erbringenden Person ein hohes Maß an Sensibilität: Es geht um die Beziehungsgestaltung mit Menschen in der gemeinsamen Wohnung, bei Paaren, im Zusammenleben mit Angehörigen, mit Nachbarinnen und Nachbarn, um Interaktionen mit Arbeitskollegen und Vorgesetzten (außerhalb der Leistungserfüllung), mit den eigenen Kindern und mit dem erweiterten Umfeld. Die Assistenzleistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags und der Haushaltsführung beziehen sich in der ICF auf das Kapitel sechs. Hohe Priorität erlangen sie bei den Menschen, die bisher in einem Heim gelebt haben. Sie umfassen die Gebiete Wohnraum beschaffen, Zubereitung von Mahlzeiten, Reinigung der Wohnung, Umgang mit Suchtmitteln, Einkauf notwendiger Dinge für den täglichen Gebrauch, Haushaltsgegenstände pflegen und Haustiere. „Assistenzleistungen zur Teilhabe am kulturellen und gemeinschaftlichen Leben“ enthalten solche zur Freizeitgestaltung, künstlerische und sportliche Angebote. Die „Assistenzleistungen zur Gesundheitsförderung“ umfassen den Umgang mit der Medikation, die Krisenbegleitung und die Gesundheitsfürsorge und grenzen sich von den Leistungen des § 37 SGB V dadurch ab, dass sie eine gesundheitsförderliche Lebensweise mit pädagogischen und sozialen Hilfestellungen unterstützen. Die „Sonderformen der Assistenzleistungen“ beziehen sich auf die Vielzahl der Orte der Erbringung und greifen die Unterstützung in besonderen Wohnformen, das betreute Wohnen in Gastfamilien sowie die Begleitung von Transitionsprozessen in therapeutischen Wohngemeinschaften auf.
Mit Bezug auf die „Organisatorische Einbindung der Assistenzleistung“ verweist der Autor darauf, dass die Erbringung bei Menschen mit seelischen und geistigen Behinderungen häufig eine Teamleistung darstellt, die nicht nur der Planung, der Absprachen und der Koordination, sondern auch der Supervision bedarf, da es sich maßgeblich um Beziehungsgestaltung handelt. Konrad wirbt um die Zusammenarbeit von Anbietern in einem gemeindepsychiatrischen Verbund, die eine Spezialisierung ebenso ermöglichen wie eine optimale Versorgung.
Schlussbemerkung: Die Mühen der Ebene (S. 103–105)
Der Autor begrüßt die mit der Reform des SGB IX geschaffene Option auf Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe für Menschen mit Beeinträchtigungen generell und verweist auf die besondere Chance für seelisch beeinträchtigte Menschen, deren Bedarf nach außen häufig nicht erkennbar war. Konrad zufolge scheinen für die zuletzt genannten sozialrechtssystemische Hindernisse existent zu sein, die mit der medizinischen Rehabilitation im gewohnten Lebensumfeld beseitigt werden bzw. die von den Assistenzleistungen zur Sozialen Teilhabe übernommen werden könnten, sofern die Träger der Eingliederungshilfe konsequent den ICF-Kriterien folgen und die Erbringer Angebote entwickeln, die den Leistungsberechtigten eine Auswahl ermöglichen.
Diskussion
Das Buch ist aus der Feder einer Person, die souverän auf der Landkarte der Eingliederungshilfe navigiert und sie sehr genau studiert hat. Deshalb fallen ihr auch die Gebiete und Positionen auf, an denen es noch Einbahnstraßen oder Schotterwege gibt, um beim Bild zu bleiben. Genau darin liegt der Gewinn der Publikation: Der Autor begrüßt die Neuerungen des BTHG und ganz besonders zur Beteiligung der Menschen mit Beeinträchtigungen („Nichts über uns ohne uns“, S. 105), er zeigt aber ebenso deutlich auf, wo es beim Transfer in die Sozialgesetzgebung und danach in der Umsetzung (auf der Ebene der Leistungsträger, -erbringer und -berechtigten) aus verschiedenen Gründen noch knirscht. Da der Verfasser die Sicht der Leistungsanbieter ebenso kennt wie die der Leistungsträger und die in die Umsetzung eingebundenen und verantwortlichen Bundesländer, benennt er konkrete neuralgische Punkte („Beharrungstendenzen“), kritisiert die Unzulänglichkeiten, unterbreitet aber auch Schritte zur Lösung. Konrad ist davon geleitet, den Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen Selbstbestimmung zu gewähren, die paternalistische Sichtweise auf sie zu beenden. Was das für die Erbringung von Unterstützungsleistungen durch die Anbieter bedeutet, wird in diesem Buch u.a. in Beispielen verdeutlicht, ebenso wird ersichtlich, welche Anforderungen an eine qualifizierte Assistenz daraus erwachsen. Insofern ist die Situationsanalyse des Buches die Beschreibung eines Etappenziels, dem weitere folgen müssen. Konrad erweist sich als pragmatischer Promotor, der den Gestaltungswillen der Beteiligten anmahnt und nicht die vielen möglichen Einwände und (rechtlichen) Unsicherheiten schon vor dem Start aufgibt. Diese Haltung zeichnet die Publikation aus.
Fazit
In diesem Buch findet man sehr gut erklärt, welche Intentionen der UN-BRK das SGB IX in beiden Teilen und insbesondere die Assistenzleistung verändert haben. Wegen der Anwendungsnähe ist es für Ausbildung und Studium sehr gut geeignet.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
Website
Mailformular
Es gibt 84 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.