Christine Riegel: Im Kampf um Zugehörigkeit und Anerkennung
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz, 13.12.2005

Christine Riegel: Im Kampf um Zugehörigkeit und Anerkennung. Orientierungen und Handlungsformen von jungen Migrantinnen. Eine sozio-biografische Untersuchung. IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation (Frankfurt) 2004. 396 Seiten. ISBN 978-3-88939-748-5. 22,90 EUR. CH: 36,60 sFr.
Einführung
Der Prozess der Einwanderung und Integration gestaltet sich nicht immer einfach und verlangt zuweilen nicht nur Zuwanderern, sondern auch der Aufnahmegesellschaft große Anstrengungen und Opfer ab. Das haben die jüngsten Entwicklungen in Paris und später auch in einigen anderen Städten Frankreichs deutlich aufgezeigt (vgl. http://www.zeit.de/online/2005/45/paris). Eine Ethnisierung und Kriminalisierung der Ereignisse und der Betroffenen, die von dem französischen Innenminister Nicolas Sarkozy (eigentlich: Nicolas Pal Stephane Sarközy de Nagy-Bocsa), Sohn eines ungarischen Immigranten und einer Griechin, in geradezu chauvinistischer Manier als "Gesindel" bezeichnet wurden, wird den jahrzehntelangen Ausgrenzungs- und Diskriminierungsprozessen in den europäischen Einwanderungsländern nicht gerecht und beweist zudem die inhärente Kurzsichtigkeit und "Pseudonaivität" der Politik, dass Einwanderungsprobleme (besser: Probleme des Umgangs mit der Einwanderung!) zwar verdrängt und aus dem Blickfeld und dem Bewusstsein, wenn auch nur kurzfristig, ausgeblendet werden können, aber irgendwann im Rahmen eines Katharsiseffekts und mit brachialer Wirkkraft zurückkehren. Die Gleichsetzung der Vorkommnisse mit reinem Hooliganismus oder Vandalismus zeugt von einer vorsätzlichen Ahnungslosigkeit. Die Aktionen sind vielmehr als ein Hilfeschrei der Entmündigten und Entrechteten, der Aussätzigen und Rechtlosen zu betrachten. Die Ghettokulturen der sog. Banlieues haben sich im Laufe der letzten Jahre geradezu verselbstständigt und der staatlichen Gewalt entzogen. Die genuin herrschaftsfreien, solidarisch vernetzten Frei- und Schonräume waren bis dato und in der gegenwärtigen Form nicht auszumachen und haben erstmalig unbekannte Ressourcen, Dynamiken wie auch Problemlagen an den Tag gelegt. Mit einer schallenden Ohrfeige ist die "Grande Nation" aus ihrer phlegmatischen Lethargie und multikulturellen, in Wahrheit aber postimperialistisch-postkolonialistisch konstruierten Idylle aufgewacht und hat dabei aber auch zum ersten Mal grundlegend begriffen, dass staatlich reglementierte Armut und ausdrückliche Marginalisierung zu einer sozial brisanten Zeitbombe werden können.
Tragisch ist in diesem Zusammenhang der Sachverhalt, dass insbesondere marginalisierte und diskriminierte Migrantenjugendliche nur im Kontext der Problemrelevanz und des "Anders-Seins" mit negativer Konnotation Zugang in die öffentliche Wahrnehmung finden. Die Vorfälle haben, so makaber es auch klingen mag, auch positive Effekte mit sich gebracht, denn die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Benachteiligung sowie individuelle Perspektivlosigkeit von Söhnen und Töchtern der sog. Etrangers aus den ehemaligen Kolonien werden erstmals systemkritisch hinterfragt und in ihrer Ganzheitlichkeit ernsthaft diskutiert. Dabei kommt es aber leider zu oft vor, dass gesellschaftlichen Veränderungen erst Tragödien vorangehen müssen. Das derzeit prägnanteste Beispiel hierfür ist die hitzige Diskussion um Zwangsverheiratung und Ehrenmord, die ebenfalls erst nach mehreren Gewaltexzessen die existenzielle Frage nach Integration und Segregation von ausländischen Menschen neu aufgeworfen und somit auch dringend benötigte Denkanstöße gegeben haben. Insbesondere für Deutschland müssten die Vorfälle in Frankreich, denen jahrzehntelange politische Ignoranz und Arroganz vorangegangen sind, eine deutliche Botschaft darstellen.
Folgende (frei übersetzte) türkische Volksweisheit bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt: "Für den, der versteht, gleicht die Fliege einer Gitarre. Für den, der nicht versteht, sind auch Pauken und Trompeten zu leise."
Entstehungshintergrund
Dr. Christine Riegel, Erziehungswissenschaftlerin und anerkannte Malerin und Fotografin mit eigenen Ausstellungen und Workshops, hat nach diversen Forschungsaufenthalten in Griechenland und Großbritannien und der Durchführung des Projekts "Internationales Lernen" an der Universität Tübingen 2003 promoviert. Sie arbeitet derzeit als Projektleiterin an der Universität Fribourg (Schweiz). Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Jugend- und Migrationsforschung, Interkulturelle Pädagogik, Rassismus/Rechtsextremismus, Geschlechterperspektive und Cultural Studies.
Die vorliegende Arbeit wurde an der Universität zu Tübingen als Doktorarbeit eingereicht und basiert hauptsächlich auf dem Forschungsprojekt "Internationales Lernen", an dem die Wissenschaftlerin mehrere Jahre lang beteiligt war. Das Jugendforschungsprojekt umfasste fünf Forschungsgruppen in Deutschland, Griechenland, Kroatien, Lettland und den Niederlanden. Die international vergleichende, quantitativ-qualitative Jugenduntersuchung, die zwischen 1997 und 1999 durchgeführt wurde und von der EU finanziell gefördert wurde, untersucht das Zusammenleben von Jugendlichen in heterogen zusammengesetzten Stadtteilen in verschiedenen Großstädten Europas und in diesem Rahmen auch Verfahren und Perspektiven der interkulturellen Jugendarbeit. Das eigene Forschungsinteresse der Autorin entstand im Rahmen der Mitarbeit am Jugendprojekt, das auch einen Stadtteil Stuttgarts umfasste.
Im Rahmen einer sozio-biografischen Analyse stellt Riegel die Lebenswelt von jungen Migrantinnen in der BRD in ihrer ganzen Komplexität vor. Im Schnittpunkt der Jugend-, Geschlechter- und Migrationsforschung hinterfragt die Autorin Orientierungs- und Handlungsmodelle im sozialen Integrations- und Segregationskontext: "In dieser Arbeit wird nun explizit der Blick auf die subjektiven Orientierungen und Handlungsweisen von jungen Migrantinnen im Umgang mit Ausgrenzung und Integration in Deutschland gerichtet. Dabei wird insbesondere untersucht, welche Verortungs- und Identifikationsmöglichkeiten für junge Migrantinnen als Vergesellschaftungs- und Integrationsinstanzen von Relevanz sind und wie sich dies im Transformationsprozess zwischen Jugendphase und Erwachsenenstatus gestaltet. Der Fokus liegt auf der Auseinandersetzung der jungen Frauen mit ihren sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, wie sie sie in ihrem derzeitigen Lebenskontext in Deutschland vorfinden" (S. 16). Riegel geht der vielschichtigen Frage nach, wie Töchter von ArbeitsmigrantInnen mit Fremdzuschreibungen, Integrationsanforderungen und Mehrfachzugehörigkeiten umgehen.
Dabei fasst sie in ihrer untersuchungsrelevanten Forschungsfrage folgende Teilfragen zusammen:
- Die Frage nach den subjektiven Umgangsformen mit Ein- und Ausgrenzungsverhältnissen
- Die Frage nach der Wahrung von Handlungsfähigkeit im sozialen und gesellschaftlichen Raum
- Die Frage nach der Relevanz des Migrationshintergrunds für die Biografie
- Die Frage nach subjektiven Verortungen und sozialen Identitäten
- Die Frage nach dem Zusammenwirken der Kategorien Ethnizität und Geschlecht
- Die Frage nach der Bedeutung der Übergangsphase von der Jugend zum Erwachsenenstatus
Sie möchte mit ihrer qualitativen Analyse die komplexe Lebenssituation von jungen Migrantinnen in Deutschland aufzeigen und dabei auch auf die Ambivalenzen der postmodernen Migrationsrealität hinsichtlich der Lebenslagen, Biografien, Denk- und Handlungsmöglichkeiten ausdeuten (die postmoderne Vielfalt der Lebenssituationen von Migrantentöchtern wird in der aus demselben Verlagshaus stammenden Untersuchung "Ausländische Inländerinnen. Migrantentöchter in der Postmoderne" von Angela Haubner eingehend beschrieben). Durch die Ausarbeitung der Pluralität und Widersprüchlichkeit der Lebenslagen der Einwanderinnen möchte sie die individuelle Innenperspektive der betroffenen Menschen dem momentan dominierenden Blick der Mehrheitsgesellschaft entgegensetzen. Einem lebensweltlichen Ansatz entsprechend will sie das soziale Umfeld der Probanden als Orientierungs- und Handlungsraum in die Untersuchung mit einbeziehen. Dabei soll von dem Stadtteil als Lebensmittelpunkt und der transkulturellen Jugendkultur als Identifikations-, Aktions- und Integrationsbereich ausgegangen werden.
Im Sinne des biografischen Ansatzes und des narrativen Interviews nach Schütze (1983) und Fischer-Rosenthal/Rosenthal (1997) untersucht Riegel 15 Migrantinnen zwischen 17 und 20 Jahren. Zu den Herkunftsländern der jungen Migrantinnen gehören Türkei, Griechenland, Italien, Kroatien, Spanien, Iran.
Aufbau und Inhalt
Die Arbeit besteht aus 8 Kapiteln.
- In Kapitel 1 "Forschungsfeld, sozialwissenschaftliche Diskussion und Fragestellung" geht es vorzüglich um die inhaltliche Bestimmung und deskriptive Darstellung des Forschungsfeldes und Forschungsgegenstandes mit dem Schwerpunkt der Lebenssituation der Probandinnen. Des Weiteren wird auch der Forschungsstand skizziert. Abschließend werden die für die Untersuchung relevanten Forschungsfragen fokussiert.
- Kapitel 2 "Integration - zur sozialwissenschaftlichen Diskussion eines facettenreichen Begriffs" dient der kritischen Betrachtung des forschungsrelevanten Integrationsbegriffs.
- Hier arbeitet Riegel theoretische Konzepte ab, die als Instrumentarium zur Analyse von Orientierungs- und Handlungsformen von jungen Migrantinnen dienlich sind. In einem Analyseschema wird das Verhältnis von gesellschaftlichen und sozialen Voraussetzungen und individuellem Denken und Handeln verdeutlicht. Zudem berührt sie die Struktur und Organisation von gesellschaftlichen wie auch sozialen Ein- und Ausgrenzungsprozessen (z.B. Theorien sozialer Ungleichheit, Konzepte des Wechselwirkungszusammenhangs von differenten Ungleichheitsverhältnissen, Theorien zur sozialen Differenzierung und Kategorisierung). Dabei geht sie insbesondere auf Geschlechter- und Ethnizitätsverhältnisse und Machtasymmetrien ein. Des Weiteren umreißt sie die Bedeutung des sozialen und kulturellen Raums für die Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten von jungen Migrantinnen. Die subjektwissenschaftliche Bestimmung von "Handlung", "Orientierung" und die Diskussion des Identitätsbegriffes sowie von Konzepten zu Zugehörigkeit und Anerkennung schließen das Kapitel "Theoretischer Analyserahmen" ab.
- In Kapitel 4 "Forschungsansatz und methodische Herangehensweise" werden der subjektwissenschaftliche Forschungsansatz und das methodische Verfahren beschrieben. Neben methodologischen Fragen und dem Forschungsdesign steht vor allem die sozio-biografische Methode im Mittelpunkt des Interesses.
- Kapitel 5 "Ergebnisse der Jugenduntersuchung des Projekts 'Internationales Lernen'" dient schließlich der eigentlichen Darstellung der empirischen Resultate. Zuvor werden aber untersuchungsrelevante Befunde aus der Jugenduntersuchung des Projekts "Internationales Lernen" dargeboten.
- Die Falldarstellungen von sechs Migrantinnen aus Kroatien, Griechenland, Spanien und der Türkei präsentiert Riegel in Kapitel 6 "Ergebnisse der sozio-biografischen Fallanalysen". Hier werden neben spezifischen Problemstellungen auch individuelle Orientierungs- und Handlungsstrategien von jungen Frauen im Migrationskontext verdeutlicht.
- In Kapitel 7 "Zwischen Anpassung, Integration und Widerstand - Zusammenschau und Diskussion der Ergebnisse" werden fallübergreifende Ergebnisse und Tendenzen angeführt und die ausgearbeiteten Ergebnisse theoretisch diskutiert.
- Diskussionsanstöße für die Sozialwissenschaft und pädagogische und politische Perspektiven werden in Kapitel 8 "Resümee und Ausblick" ausdiskutiert.
Zielgruppen
Angesprochen werden SozialarbeiterInnen, PädagogInnen und PsychologInnen, die in der pädagogischen bzw. interkulturellen Arbeit mit jungen MigrantInnen im Migrationskontext arbeiten und diese beim Übergang ins Erwachsenenalter pädagogisch wie auch therapeutisch begleiten.
Diskussion
Bevor ich zu den "Schokoladenseiten" des Buches komme, möchte ich zwei kleine kritische Anmerkungen machen:
- Sicherlich sind die fundierten theoretischen Ausführungen im Präludium von besonderer Bedeutung für den nachfolgenden empirischen Part der Arbeit, doch eine Minimierung bzw. Fokussierung zugunsten der Falldarstellungen wäre sicherlich sinnvoller gewesen, zumal die qualitativen Resultate von innovativer Provenienz sind. Nach der Lektüre des empirischen Teils und angesichts der vorhergehenden informativen Reizüberflutung, die durch die korpulenten Fußnoten mitbedingt ist, verspürt man ein fast zwanghaftes Bedürfnis nach einer wiederholten Einsicht des theoretischen Teils. So hätte eine noch stärkere Vernetzung der beiden Teile die Verständlichkeit und Lesbarkeit sicherlich noch weiter erhöht.
- In dem Buch habe ich eigenartigerweise Tabellen, Grafiken und Schaubilder vermisst. Im Gegensatz zu Haubners Untersuchung (s. o.) mit über 53 Darstellungen auf über 264 Seiten sind die Illustrationen bei Riegel etwas mager ausgefallen (lediglich 2 Tabellen auf über 396 Seiten!). Gerade für Einsteiger ist eine bildliche Präsentation bisweilen unabdingbar.
Nichtsdestotrotz dringt Riegel mit ihrer brillanten Forschungsarbeit in ein recht komplexes und diffiziles Feld vor. Trotz des umfangreichen und detaillierten theoretischen und empirischen Rahmens bleibt die Arbeit auch für Fachfremde recht übersichtlich und interessant. Wertvoll ist in diesem Zusammenhang das Anschneiden wichtiger Phänomene, die für die Migrationsforschung wichtig sind, aber in vielen Arbeiten leider allzu oft übersprungen werden. Hierzu gehören u. a. Fragen zur Wertschätzung der Probandinnen als Interaktionspartner, das Thema der interkulturellen Forschungsinteraktion und auch das Problem der Brauchbarkeit von Ergebnissen im praktisch pädagogischen, theoretischen und politischen Hinblick.
Anhand sechs exemplarischer Fälle zeigt Riegel unterschiedliche, teils widersprüchliche Umgangsformen sowie Zukunftsoptionen junger Migrantinnen der zweiten Generation kritisch auf. Trotz und gerade wegen der individualistischen Schwerpunktsetzung werden der ganzheitliche Aspekt der Lebenslagen und Umgangsstrategien sowie die gesellschaftliche Bedingtheit von persönlicher Handlungsfreiheit niemals vernachlässigt. Einen besonderen Ertrag stellt hierbei das Herausstellen der bipolaren Erwartung der Migrantinnen (Gleichheit bei gleichzeitiger Differenz) dar: "An der Lebenssituation der jungen Migrantinnen wurde deutlich, dass es in dieser Frage nicht um ein "Entweder-oder", nicht um Toleranz der Pluralität oder Gleichberechtigung gehen kann, sondern um ein "Sowohl-als-auch": ihre formelle und informelle Gleichbehandlung trotz ihres Migrationshintergrunds sowie die Achtung der Besonderheit ihrer Lebenssituation aufgrund ihres Migrationshintergrunds. Beide Seiten der Anerkennung sind jedoch nicht auf kulturelle Aspekte zu reduzieren" (S. 356).
Fazit
Der vorliegenden Arbeit kommt gerade in der heutigen Zeit eine große Aufmerksamkeit zu. Bleibt zu hoffen, dass auch in anderen Themenbereichen der Migrationsforschung ähnliche subjektzentrierte und lebensweltorientierte Untersuchungen entstehen und dazu beitragen, die vielfach herrschenden Generalisationen und damit verbundenen Vorurteile abzubauen, um so auch das "Innenleben" der Lebensmilieus von EinwanderInnen sowie deren Familien besser verstehen zu können. Dies gilt insbesondere für Untersuchungen, die sich mit der Lebenssituation und -bewältigung von älteren sowie jüngeren Männern mit Migrationshintergrund beschäftigen. Insgesamt gesehen stellt das Buch einen großen Zugewinn für die interkulturelle und gemeindliche Jugendarbeit dar und eröffnet auch für die kommunale Politik neue Perspektiven für den humanen, gerechten und demokratischen Umgang mit Minderheiten und deren Problemlagen.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz
Migrationsforscher.
Freiberufliche Tätigkeit in der Migrationssozialberatung und Ganzheitlichen Nachhilfe
Es gibt 18 Rezensionen von Yalcin Yildiz.