Uwe Krebs (Hrsg.): Woher und Wie?
Rezensiert von Helmwart Hierdeis, 28.11.2023

Uwe Krebs (Hrsg.): Woher und Wie? - Verhalten und Erleben in der Geschichte der Menschheit.
Pabst Science Publishers
(Lengerich) 2023.
210 Seiten.
ISBN 978-3-95853-753-8.
30,00 EUR.
Reihe: Die Psychogenese der Menschheit Band IX.
Herausgeber
Prof. Dr. Uwe Krebs, Dipl. Psych., war nach Arbeiten an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und am Institut für Psychologie der Universität Regensburg von 1985 bis 2011 für Allgemeine Pädagogik an der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg tätig.
Aufbau und Inhalt
Der Band umfasst (in dieser Abfolge) drei Beiträge aus den Biowissenschaften, je einen aus der Ethologie der bildlichen Kunst, der Archäologie, Assyriologie, Ägyptologie, der Griechischen und römischen Antike sowie aus der Ethnologie, dazu 2 Beiträge aus der Pädagogik/​Erziehungswissenschaft. Er folgt damit einem Konzept Gert Jüttemanns, des Begründers der Reihe, der zur Erforschung der Psychogenese vor allem Psychologie, Historiografie, Kulturwissenschaften und Biologie heranziehen wollte, um unter dem Leitbegriff „möglichst viele […] Einflussfaktoren“ (17) zu erfassen. Uwe Krebs wandelt es leicht ab, indem er an der Stelle der Psychologie die Pädagogik/​Erziehungswissenschaft zu Wort kommen lässt. Jeder thematischen Abhandlung geht eine Vorstellung der jeweiligen Disziplin voraus.
In seiner Einleitung (11 ff.) begründet der Herausgeber die Forschungsdefizite hinsichtlich der Psychogenese in der Gattungsgeschichte mit universitären Fächerstrukturen und Methodenunterschieden in den historischen Wissenschaften, die ein interdisziplinäres Zusammenwirken über lange Zeit erschwert haben. Hinzu kommt, dass wesentliche Teile der Disziplin Psychologie, der amerikanischen Lerntheorie folgend, alles menschliche Verhalten als erlernt ansahen und blind waren für die Geschichtlichkeit ihres „Objekts“. Immerhin kann Krebs heute ein zunehmendes Interesse des Faches an der Evolution erkennen (Evolutionäre Psychologie). Gert Jüttemann hat als einer der Protagonisten dieser Neuorientierung die interdisziplinäre Erforschung der Psychogenese zum Programm gemacht und damit. „bleibende Veränderungen unseres Erlebens und Verhaltens, die entweder gerade in der Gegenwart zustande kommen oder bereits eingetreten sind“ (17), in den Blick genommen.
An „Apomorphien“ wie der „Bipedie“, der Entwicklung von Händen, Schädel und Gehirn, von Symbolbildungen sowie von Sprach- und Kooperationsformen liest der Biologe Ulrich Kull (21 ff.) den Übergang von der biologischen zur „kulturellen Evolution“ (30) ab. Als Vertreter einer „kognitiven Ökologie“ hebt Adolf Heschl (33 ff.) die Bedeutung von komplexen Sozialsystemen, die „visuelle Verhaltenskontrolle“ (38) und insonderheit die „Hand-Auge-Koordination“ (40) als entscheidende Impulsgeber für die kognitive Entwicklung hervor, wobei er „entspannte(n) Lebensumstände(n)“ (35) eine günstigere Wirkung zuschreibt als der Bewährung unter Handlungsdruck. Die Humanethologin Carla Cziliczer (47 ff.) verweist auf Beobachtungen Charles Darwins hinsichtlich Analogien im Verhalten von Tieren und Menschen und betont – in der Nachfolge von Konrad Lorenz – das biologische Erbe in menschlichen Verhaltensweisen und Gefühlsäußerungen wie Aggression, Trauer, Hierarchiebildung, Moral, Empathie, Scham und Reflexion bis hin zur Antizipation von Zukunft. Wie für Heschel so ist auch für sie die Fähigkeit (des Menschenaffen), sich im Spiegel zu erkennen, das deutlichste Anzeichen für eine „Objektivation des Selbst“ (54). Sie „(ermöglicht) die psychische Abgrenzung von Anderen im Sinne der Ich-/Du-Unterscheidung“ (ebd.) und öffnet den Weg zur Wahrnehmung und Einschätzung fremder Emotionalität.
Auf das Feld von Zeichen, die Intentionen und Erleben sichtbar machen, führt Christa Sütterlin (65 ff.). „Kunst“ geht für sie über bloße „Mitteilung“ hinaus (69). Als hypothetische Erklärungen für die Produktion bildlicher Kunst sieht sie das Bedürfnis nach Statuszuwachs, die Vermittlung von Bedeutungen und die Speicherung von Wissen an: „Die Freude, etwas zu gestalten und zu hinterlassen, was bleibt, dürfte ein Grundbedürfnis des Menschen sein […]“ (73). In den Objektivationen verbergen sich die „ältesten Emotionen“, unter ihnen „Furcht und Angst“ als „die großen Warner, ohne die wir wohl nicht lange überlebten“ (82).
Erika Qasim (89 ff.) stellt ihrem Beitrag zur Einschätzung der Bedeutung archäologischer Funde (Objekte zu Alltagstechnologien, Wohnen, Ernährung) für die Psychogenese die notwendige Lesart voran: Alle Hypothesen seien stets vor dem Hintergrund der je eigenen Selbst-, Welt- und Menschenbilder zu verstehen. Aus den Funden ließen sich Problemlösungen des altsteinzeitlichen Menschen erkennen, die ihnen das Überleben ermöglichen oder erleichtern sollten. Ebenso verrieten seine Bemühungen, dauerhafte Gebilde zu schaffen, ein sich anbahnendes „Geschichtsbewusstsein“ (100).
Als Vertreterin der Altorientalistik (Assyriologie) geht Ulrike Steinert (107 ff.) den „Korrespondenzen zwischen Mensch und Umwelt“ (111) im antiken Mesopotamien nach. Analogien zum heutigen Fühlen und Denken lassen sich dort umso eher auffinden, als die Schriftkultur die Lesbarkeit psychischer Vorgänge erleichtert: „Keilschriften beschreiben Emotionen einerseits als körperliche Prozesse, die innerlich empfunden und äußerlich ausgedrückt werden. Andererseits werden Emotionen auch als personifizierte Kräfte (z.B. Dämonen) wahrgenommen, die auf den Menschen einwirken oder von Gottheiten in Gang gesetzt werden“ (117).
Seinen Aussagen über das Selbstverständnis des Altägypters stellt John Baines (123 ff.) gleichsam als Warnung vor Verallgemeinerungen voran, dass „die Belege über die Konzepte der antiken Gesellschaft […] weitgehend beschränkt [sind] auf die kleine Elite, die über die Ressourcen verfügte und sie kontrollierte“ (123). Die schriftlichen und bildlichen Zeugnisse verraten sowohl künstlerische Neigungen als auch ein komplexes, Menschliches und Göttliches verbindendes Verständnis der menschlichen Person und nicht zuletzt ein Interesse, sich selbst und die Gesellschaft historisch zu verorten.
Als Altertumswissenschaftler mit den Schwerpunkten Griechische und Lateinische Philologie sowie Alte Geschichte sieht Andreas Mehl (139 ff.) in den kulturellen Überresten (Texte, Bildende Kunst) das durch Situationen und Entwicklungen ausgelöste Erleben und zugleich dessen Wahrnehmung und psychische Verarbeitung. Die griechische Vorstellung von der Seele umfasst „Verstand und Gefühle“ (145) und sieht beide in Spannung zueinander. Insbesondere die griechische Tragödie demonstriert, wie schwer es dem Verstand fällt, widerstreitende Gefühle auszubalancieren.
Paul Schrömbges (153 ff.), der sich der Römischen Antike zuwendet, findet bedeutsame Facetten der Psychogenese im „Selbstempfinden der römischen Nobilität“ (154), wie es in Grabstätten, Grabreden, Autobiografien und Biografien zum Ausdruck kommt. Mehr noch als die „Stoa“ und die „Meditationes“ des Marc Aurel entfaltet für ihn Ciceros Schrift „De officiis“ das Bild einer vernunftgeleiteten Person, die „in Übereinstimmung mit dem Urheber des Weltgeschehens leben [soll], in Kenntnis und Anerkennung der eigenen Rolle im Ganzen“ (161) und die dabei ihrer „unverdorbenen Natur“ folgt (ebd.).
Mit dem Aufriss ihres Faches „Ethnologie“ erweitert Alice Schlegel (165 ff.) das historische Spektrum insofern, als die „Cultural Anthropology“ (die Autorin hat das amerikanische Fachverständnis vor Augen) ihr Forschungsinteresse auch auf die Gegenwart richtet. Die Autorin skizziert (ohne die Einbeziehung von Ergebnissen) drei Forschungsfelder: 1. „die Anpassungen von Gesellschaften an ihre natürliche und soziale Umwelt“ (167); 2. „Glaubensvorstellungen, Werte(n) und Vorstellungen über die Welt“ (168); 3. Antworten „auf Veränderungen sozialer und praktischer Belange moderner Gesellschaften“ (ebd.) (z.B. Medizin, Politik, Gender). Als vorrangige Forschungsmethode gilt für sie nach wie vor die „Teilnehmende Beobachtung“, assistiert von quantitativen und vergleichenden Verfahren (175 f.).
Es gibt keine kulturelle Entwicklung und mit ihr keine Psychogenese ohne Vermittlung zwischen den Generationen, also ohne Erziehung. Johanna Forster (179 ff.) listet „Vorläufer der Erziehung“ wie „Brutfürsorge, Brutpflege, Aufzucht, Unterweisung“ (180) auf. Ihre spezielle Ausdifferenzierung beim Menschen führt sie auf dessen „hohe Lernbedürftigkeit und Lernfähigkeit“ (184) zurück. Nachweise für kulturelles Lernen reichen in die Anfänge der Gattungsgeschichte zurück. Dabei lassen sich drei wesentliche Zielrichtungen pädagogischer Bemühungen ausmachen: Lebenssicherung, sozialer Zusammenhalt und rituell-religiöse Weltdeutung (188).
In seinem Beitrag zur „Schulgeschichte im Zusammenhang der Kulturentwicklung“ verweist Max Liedtke (193 ff.) auf die Bedeutung der institutionalisierten Unterweisung für die Psychogenese, d.h. auf das „Denken und Fühlen“ (194) der nachwachsenden Generationen. Dass sie über eine entsprechende Ausstattung verfügen, ist die Bedingung der Möglichkeit von Unterricht und Schule. Aber: „Es genügt nicht, über eine bloße kognitive Fähigkeit zu verfügen, sie muss auch in Gang gesetzt werden. Auf der Sender- wie auf der Empfängerseite gehört dazu die Bereitschaft, den jeweiligen Partner in der Nähe zu dulden, zu akzeptieren“ (196 f.). Erleichtert wird dieser kognitive Prozess, wenn einsichtig gemacht werden kann, dass er – zumindest für den Augenblick – „von Vorteil“ (197) ist.
Diskussion
Wenn im Alltag überhaupt so etwas wie Psychogenese zur Kenntnis genommen wird, dann entweder bei der Beobachtung von Kindern und Jugendlichen oder bei späteren als auffällig wahrgenommenen psychischen Veränderungen, die Fragen nach dem Warum aufwerfen. In der Regel werden die Erklärungen ontogenetisch, also auf die Geschichte der jeweiligen Person bezogen sein. Bei Menschen, die in pädagogischen, psychologischen und psychotherapeutischen Berufsfeldern tätig sind oder die sich darauf vorbereiten, ist das meist nicht anders. Sie werden bei ihrer Professionalisierung sogar in ontogenetische Sichtweisen und Einschätzungen eingeübt. Schließlich steht dafür ein umfassendes anthropologisches, psychologisches, psychoanalytisches und heute auch neurowissenschaftliches Wissen zur Verfügung, das für ein angemessenes Handeln gebraucht wird. Warum dann Forschungen zur „Psychogenese der Menschheit“? Eine plausible Antwort gibt der Herausgeber selbst: „Waren einst Verhalten und Erleben – wenngleich indirekt – die Motoren des Fortschritts, so erscheinen sie gegenwärtig in einigen kulturellen Bereichen – ebenfalls indirekt – als überfordert, sei es in der Beherrschung des Bevölkerungsanstiegs, sei es in der Begrenzung des Wohlstandsgefälles in globaler wie nationaler Perspektive, sei es durch mediale Reizüberflutung, oder sei es durch Zeitmangel bei der kognitiven Durchdringung und emotionalen Verarbeitung von Ereignissen“ (17). Die Langzeitperspektive könnte also dazu verhelfen, aktuelles Verhalten und Erleben historisch einzuordnen und über den wachsenden Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten und Lösungsstrategien in der Vergangenheit Hypothesen zum Verständnis heutiger Phänomene zu gewinnen. Dabei ließe sich die unter dem Titel „Psychogenese“ versammelte Forschung mit der mentalitätsgeschichtlichen Forschung verbinden, die sich seit dem Ausgang des vergangenen Jahrhunderts entwickelt hat (vgl. z.B. Ariès 1994; Dinzelbacher 2008; Raulff 1987) und die gleichfalls auf der Suche nach Analogien in epochenübergreifenden kognitiven und emotionalen Prozessen ist. Die Erforschung psychogenetischer Verläufe findet also – mit vergleichbarem Erkenntnisinteresse – auch an anderer Stelle statt. Vielleicht könnte sie künftig ihr Interesse noch stärker auf die Untersuchung von Beziehungen richten, unter denen die Enkulturation und ihre Absicherung erfolgen. Sie sind die eigentliche Schule und Schauplatz der Gefühle in einem. Schließlich wäre zu überlegen, ob die psychogenetische Forschung nicht mit komplexeren Konzepten von Psyche arbeiten könnte, die den heutigen Erkenntnissen zur menschlichen Psychodynamik näher kommen (vgl. z.B. Roth 2001, Seidel 2018).
Fazit
Der von Uwe Krebs herausgegebene Band schließt die von Gert Jüttemann initiierte Reihe (nach dem Tod Gert Jüttemanns in diesem Jahr vorläufig?) in höchst respektabler Weise ab und eröffnet ein Arsenal von Themen zur kooperativen Weiterarbeit, unter welchem Leitbegriff auch immer.
Literatur
Ariès. Ph. (1994): Die Geschichte der Mentalitäten. In: J. LeGoff, R. Chartier, J. Revel (Hrsg.): Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 138–165 f.
Dinzelbacher, P. (Hrsg.) (2008). Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Kröner (2. Aufl.).
Raulff, U. (Hrsg.) (1987). Mentalitätengeschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Berlin: Wagenbach.
Roth, G. (2003). Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Seidel, R. (2018). Die Evolution der Psyche. Wieviel Tier ist der Mensch? Lengerich: Pabst Science Publishers.
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