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Friedhelm Ardelt-Theeck, Willi Loose et al. (Hrsg.): Wald statt Asphalt

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 06.11.2023

Cover Friedhelm Ardelt-Theeck, Willi Loose et al. (Hrsg.): Wald statt Asphalt ISBN 978-3-95558-356-9

Friedhelm Ardelt-Theeck, Willi Loose, Angelika Seidler (Hrsg.): Wald statt Asphalt. »Fecher lebt!« – Autobahnbau trotz Klimakrise. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2023. 240 Seiten. ISBN 978-3-95558-356-9. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR.

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Vom zivilen, ökologischen, demokratischen Widerstand

Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“ (Helmut Schmidt). Die Werte- und Lebensnormen – Recht, Gerechtigkeit – sind in einer demokratischen Gesellschaft verfasst. Dort, wo Unrecht geschieht, wird, im Rahmen der Gesetze, Widerstand zur Pflicht. Individuell und in Bürgervereinigungen und Zusammenschlüssen werden menschen- und zivilrechtliche Ansprüche artikuliert und mit demokratischen Mitteln durchzusetzen versucht. Das gilt sowohl für privat-, als auch für hoheitsrechtliche Maßnahmen. Die Konflikte zeigen sich in konkreten, alltäglichen und speziellen Beispielen; etwa wenn Eigentum eigen- und nicht sozialnützig und zum Gemeinwohl benutzt wird (Hausbesetzungen), wie es in Artikel 14 des Grundgesetzes der Bundesrepublik heißt: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“. Auseinandersetzungen und Widerstand treten auch auf, wenn landschaftliche, umweltverändernde Projekte wie z.B. Rohstoffabbau (Kohle, Erz…) durch Mehrheitsgesetzgebung beschlossen und Dörfer und Siedlungen geräumt werden müssen; oder – und das ist hier unser Beispiel – wenn Wälder gerodet werden, um eine Autobahn zu bauen.

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Autobahnen und Verkehrstrassen sind infrastrukturelle Projekte, die dazu dienen, den zunehmenden, menschen- und umweltschädlichen Straßenverkehr aus den urbanen, dicht besiedelten Lebensräumen der Menschen heraus- und um die Städte herumzuleiten. Das ist richtig, lebens- und umweltnützlich. Freilich: Im Anthropozän ist mittlerweile das Bewusstsein angekommen, dass der Mensch bei seinen Gestaltungs- und Eingriffswünschen auf die Umwelt nicht mehr alles machen darf, was er kann oder zu können meint. Es kommt darauf anzuerkennen, das erdbewusste und kosmische, natürliche und kulturelle Dasein anders zu denken! Ein Perspektivenwechsel ist angesagt (Jörg Noller, Ethik des Anthropozäns. Überlegungen zur dritten Natur, 2023, www.socialnet.de/rezensionen/​31291.php). Lokal und global wird der „New Green Deal“ ausgerufen (Ann Pettifor, Green New Deal. Warum wir können, was wir tun müssen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​27787.php).

Im dicht besiedelten Großraum Frankfurt/M. ist der Autobahn(aus-)bau ein wichtiges, lokales und zentrales Infrastrukturprojekt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass dabei unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse und Zielsetzungen aufeinanderprallen, die argumentativ und konfrontativ lautstark und machtvoll ausgetragen werden; vor allem dann, wenn geplante (und genehmigte) Autobahnaus- und -neubauten durch schützenswerte Landschaften geführt werden sollen und Felder und Wälder zerstören. Eine Bürgerinitiative tritt an, um das seit Jahrzehnten mit immer neuen Argumentationsmustern ausgestattete, geplante Verkehrsvorhaben, mit der Stadtautobahn A 66 und A 661 eine neue, verkehrs- und transportgünstige Nord- und Ostumgehung des Stadtzentrums zu bauen, zu verhindern. Vor allem deshalb, weil die geplante Trasse durch Straßen- und Tunnelbau das stadtnahe Landschafts- und Erholungsgebiet, dem „Riederwald“. Seit den 1960er Jahren wurden von den Stadt- und Landesverkehrsbehörden immer neue Generalverkehrspläne vorgelegt. Auch seit dieser Zeit bildeten sich zahlreiche Protest- und Widerstandsgruppen, die den Auwald schützen wollten, durch Umweltspaziergänge, Demonstrationen, Waldbesetzungen und Baumhausbauten. Immer wieder kam es zu polizeilichen Eingriffen, zu Räumungen und Verhaftungen. Gegner des Verkehrsplans schlossen sich zum Aktionsbündnis „Unmenschliche Autobahn“ zusammen, das 2019 zum erweiterten, einflussreichen Bündnis „Verkehrswende Frankfurt“ wuchs. In der hessischen Landes(verkehrs-)politik, einer Regierungskoalition der CDU mit den Grünen, blieb (bisher) allerdings der von den Widerstandsgruppen erhoffte Stopp, vor allem auch durch die unbestimmte Oppositionspolitik der SPD, aus. Mit dem Buch „Wald statt Asphalt“ soll die rund 60jährige Bürgerinitiativ-Geschichte gegen die Autobahnplanungen im Frankfurter Raum dokumentiert werden. Das Aktionsbuch wird herausgegeben von Friedhelm Ardelt-Theeck, der über sein 40jähriges theoretisches und praktisches Engagement beim Widerstand gegen den Autobahnbau in Frankfurter Osten berichtet; von Willi Loose vom Öko-Institut Freiburg; und von Angelika Seidler, Sozialarbeiterin und Lehrbeauftragte an der EHD Darmstadt.

Aufbau und Inhalt

Der Dokumentationsband wird neben der Einleitung in fünf Teile gegliedert. Im ersten Teil wird über die „Planungsgeschichte der Stadtautobahn A 66“ informiert. Im zweiten Teil geht es um „Betroffenheit durch Autobahnplanung und Autobahnbau“. Im dritten um „Baumhausarchitektur und Stimmen aus der Waldbesetzung“. Im vierten um die „Jüngere Geschichte des Widerstands“. Im fünften Teil wird die Frage thematisiert: „Wie geht es weiter mit dem Widerstand?“.

Der Schriftsteller Gerd Kossler setzt sich mit dem Beitrag „Im landschaftlich schönsten Winkel des Frankfurter Stadtgebietes“ damit auseinander, wie historisch und aktuell die Region durch den Autowahn kaputtgeplant wird: „Eine Straße kann eine Landschaft erschließen. Autobahnen… radieren die Landschaft aus“.

Friedhelm Ardelt-Theeck informiert mit dem Beitrag „Förderung des Straßenbaus hin zur autogerechten Stadt und der Weg zurück“ über die Geschichte der Autobahnplanung der A 66 und A 661. Die Möglichkeiten für die „Einhausung“ der Autobahnen sind gering. „Der Widerstand gegen Planungsprojekte ist nie umsonst“: wenn sie nicht verhindert werden können, bieten Bürgeraktivitäten auch die Chance, sie zu verbessern und zu verändern.

Der Architekt Oskar Voigt berichtet mit dem Beitrag „Die Aktion Moloch Autobahn als früher Zusammenschluss der Anti-Autobahn-Initiativen im Frankfurter Osten“ über Informations-, Aufklärungs-, Plakat- und Flugblatt-Aktionen.

Willi Loose konfrontiert mit dem Beitrag „Der Bagger des Baurechts“ die Planungsbehörden und -mächte mit Bildern und Berichten darüber, „wie eine schützenswerte Erholungslandschaft rechtskräftig zerstört wird. Der Sprecher der Bürgerinitiative Riederwald, Rainer Frey, und die Sozialpädagogin Inge Wendel vermitteln, „Wie der Riederwaldtunnel den Stadtteil Riederwald mobilisiert“. Es sind Straßen-, Nachbarschafts- und Stadtteil-Aktivitäten, bei denen die Riederwald-Bewohner sozial und politisch agieren und für eine umweltverträgliche Mobilität eintreten.

Die Wissenschaftskoordinatorin der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung, Julia Krohmer, analysiert „Die ökologische Bedeutung und Besonderheit des Fechenheimer Waldes“ und verweist auf die Bedeutung der Wälder für Klima- und Artenschutz. Die Pädagogin Simone Kühn und Willi Loose setzen sich im Beitrag „Baurecht versus Artenschutz“ mit der juristischen Relevanz von Biodiversität im Fechenheimer Wald“ auseinander. Willi Loose stellt das alternative Verkehrskonzept der Bürgerinitiativen vor: „Ohne Autobahn den Frankfurter Osten verkehrsberuhigen“.

Im Kapitel „Stimmen aus der Waldbesetzung“ werden mit Bildern und Texten Informationen vermittelt; z.B.: „Virtueller Waldspaziergang“, „Der Heldbock“, Interview mit zwei AktivistInnen aus dem Fechenheimer Wald, Walderlebnisse, ein persönlicher Erfahrungsbericht von der Räumung, ein trotziges: „Wir sind immer noch da“.

Die Sozialpsychologin Daniela Tamme-Kodjovi erzählt von ihren Erfahrungen bei „Sechzehn Monate Waldbesetzung“, mit Motivationsaktivitäten, Mahnwachen und Versorgungsstrategien.

Die pensionierte Pädagogin, Aktivistin bei den Grandparents for Future und Klimatac, Ursula Simeth, berichtet über die „Polizeiliche Räumung und Baumfällungen im besetzten Fechenheimer Wald vom 18. bis zum 20. Januar 2023“. Mit gemeinsam geschrienen Parolen – „Du bist nicht allein“, und „Danke, dass du oben warst“ – solidarisierten sich die Widerständler gegen das Polizei-, Räumungs- und Baumfällungs-Aufgebot.

Die Sozialpädagogin und Umweltaktivistin Angelika Seidler appelliert mit ihrem Beitrag „Erinnern – Mahnen – Hoffen“ daran, dass demokratischer, freiheitlicher Widerstand gegen Menschen- und Umweltunrecht wichtig, notwendig, welt- und identitätsstiftend ist. Die Umbenennung der Aktionsgruppen in „Sunday for Fecher“, die Wiederaufnahme der Spaziergänge in den Restwald sollen verdeutlichen: Widerstand gegen Klima- und Umweltschädigungen sind weiterhin notwendig.

Willi Loose informiert über Intensivierung von „Politische(n) Gesprächsinitiativen“ mit PolitikerInnen und gesellschaftlichen Gruppen. Nicht verwunderlich dabei ist, dass die Umwelt-Initiatoren über unterschiedliche, positive und negative Erfahrungen berichten. Willi Loose zieht als Ergebnis seiner Widerstandserfahrungen „Schlussfolgerungen aus den letzten Jahren des Kampfes gegen den (verlorenen, JS) Autobahnbau im Frankfurter Osten“ eine persönliche Bilanz: Nach dem neuen Planfeststellungsbeschluss von 2019 werden die Autobahn A 66 und A 661 endgültig zu Ende gebaut werden; was bedeutet, dass der Wald verschwunden ist. Doch der von der Ampelkoalition am 3. Mai 2023 vorgelegte „Masterplan Mobilität“ bietet die Hoffnung, dass künftig Wälder und Landschaften für neue Autobahnen nicht mehr vernichtet werden können.

Auch Friedhelm Ardelt-Theeck antwortet auf die Frage: „Ist da noch was zu machen?“, durchaus optimistisch: „Ja, es gilt, eine Katastrophe zu verhindern!“. Wie? Durch aktive Teilnahme an den lokalen und globalen politischen Entwicklungen! Angelika Seidler und Daniela Tamme-Kodjovi postulieren: „Vielfältiger Widerstand geht weiter“. Es ist die geforderte Verkehrswende im Frankfurter Raum, in Deutschland und global: Statt Verdoppelung des Autoverkehrs – Verkehrsvermeidung und Vorrang für die Schiene. Statt immer mehr Schadstoffe und Lärmbelästigung – saubere Luft und Ruhe. Statt Zerstörung und Entwertung von Grüngebieten – Naturschutz.

Der Arbeitervertreter und Betriebsrat Emanuel Schaaf weist darauf hin, dass sich die „Erderwärmung schneller als erwartet“ vollzieht, und er warnt vor gesundheitlichen Belastungen und Gefährdungen durch den Klimawandel. Die Journalistin und Informatikerin Viola Rüdele ruft auf: „Bildet Bande(n)!“. Sie argumentiert für Netzwerkarbeit und gesellschaftspolitische Teilhabe. Der selbstständige Handwerker und Umweltaktivist Harry Unger stellt fest: „Unsere Träume fliegen höher, als eure Hebebühnen reichen!“. Er tritt ein für Wald- und Baumbesetzungen, für Waldspaziergänge und politische Proteste.

Die beiden Pädagoginnen Simone Kühn und Christine Börstler verweisen im Schlussbeitrag darauf, dass „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ schulisches und außerschulisches, unverzichtbares, theoretisches und praktisches Lernen bedeutet. Durch die Rodungs- und Planierungsarbeiten ist der „Fecher“ kein Lernort mehr, es sei denn aufzuzeigen, was Umweltzerstörungen anrichten. BNE ist notwendig (siehe z.B. das vom BMZ und von der KMK herausgegebene Handbuch: „Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung, 2. aktualisierte Auflage 2016, ISBN 978-3-06-065687-5, 464 S.).

Diskussion

„Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Diese „globale Ethik“ ist Basis der gesellschaftlichen Meinungsbildung, auch und vor allem bei Meinungsverschiedenheiten. Der kritische Dialog, nicht Ordre par Mufti oder Meinungsmacht dürfen bestimmen, was richtig oder falsch, was Recht oder Unrecht ist. Es ist die demokratische, freiheitliche Meinungsvielfalt, die Zustimmung und Widerstand zu legitimen Einstellungen und Handlungen machen. Die Jahrzehnte langen Konflikte über Mobilität und Verkehrsplanung im Frankfurter Raum haben vielfältige Formen des gesellschaftlichen Widerstands hervorgebracht und aktiviert. Es sind Fragen nach ökonomischem Wachstum und ökologischem Denken und Handeln, nach Zivilisation und Nachhaltigkeit, die sich in den Widerstandsaktivitäten um den „Fecher“ darstellen. Sie zu reflektieren und zu dokumentieren ist Grundlage des zivilisatorischen Bewusstseins Hier, Heute und Morgen (siehe dazu auch: David Wengrow, Was ist Zivilisation?, 2023, www.socialnet.de/rezensionen/​30551.php).

Die zahlreichen farblichen Abbildungen, Skizzen, Tabellen, Statistiken und Kartenausschnitte illustrieren und bereichern den Dokumentationsband. Die Zusammenarbeit mit attac, BUND, Naturfreunde, ADFC, Greenpeace und VCD hat es ermöglicht, den Info- und Doku-Band herauszugeben.

Fazit

Die Berichte, Erzählungen und Analysen über die vielfältigen Widerstands- und Protest-Aktivitäten zum kapitalistischen, wachstumsfixierten Autobahnbau im Frankfurter Raum, verbunden mit Wald- und Umweltzerstörungen, sind sowohl standortgebundene als auch exemplarische Beispiele dafür: Wie wollen wir leben? Erd- und kosmosbewusst oder egozentristisch und verbrauchend?

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 06.11.2023 zu: Friedhelm Ardelt-Theeck, Willi Loose, Angelika Seidler (Hrsg.): Wald statt Asphalt. »Fecher lebt!« – Autobahnbau trotz Klimakrise. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2023. ISBN 978-3-95558-356-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31502.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


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