Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg und Tübingen (Hrsg.): Vom Körper und seinen Beseelungen
Rezensiert von Dr. Franziska Sophie Proskawetz, 10.03.2025

Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg und Tübingen (Hrsg.): Vom Körper und seinen Beseelungen. Lustvolle und schmerzliche Umschreibungen von Körperlichkeit. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2023. 212 Seiten. ISBN 978-3-95558-354-5. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Der Sammelband „Vom Körper und seinen Beseelungen. Lustvolle und schmerzliche Umschreibungen von Körperlichkeit“, herausgegeben vom Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg und Tübingen, ist aus der 20. Fachtagung des Vereins hervorgegangen, die im November 2022 in Rottenburg stattgefunden hat. Bei den Beiträgen handelt es sich um Verschriftlichungen der auf der Tagung gehaltenen Vorträge und Seminare zu verschiedenen Themen und Fragestellungen, die den Umgang mit Erscheinungsweisen wie Selbstverletzungen, psychosomatischen Symptomatiken und Themenkomplexen wie Transgender/​Transsexualität behandeln. In den Beiträgen wird von professionellen Begleitungen von Kindern und Jugendlichen erzählt, die von diesen und ähnlichen Problemen betroffen sind. Der Sammelband ist 2023 im Brandes & Apsel Verlag erschienen.
Herausgeber
Herausgeber ist der Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit e.V. Tübingen und Rottenburg, der seit 1978 besteht und sich auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit besonderen psychischen und sozialen Schwierigkeiten spezialisiert hat. Der Verein richtet Fachtagungen aus und bietet sozialtherapeutische Einzelstunden, Elterngespräche und weitere Kooperationen mit dem Umfeld, tagesstrukturierende Angebote, betreutes (Jugend-)Wohnen, stationäre Wohngruppen sowie Hilfen bei der Integration in Schule und Beruf. Weitere Informationen zum Verein können unter Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit e.V. – Tübingen und Rottenburg abgerufen werden.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband umfasst elf Einzelbeiträge und insgesamt 211 Seiten. Ich möchte im Folgenden exemplarisch zwei Beiträge herausgreifen und auf deren Inhalte ausführlicher eingehen.
Andreas Löwe „Ich esse, also bin ich“
Andreas Löwe, sozialpädagogischer Familienhelfer, erzählt in seinem Beitrag „Ich esse, also bin ich“ von der Einzelbetreuung einer Siebenjährigen. Der familiäre Hintergrund des Mädchens wird als hoch belastet beschrieben, die Mutter – selbst aus missbräuchlichen Verhältnissen stammend – überlebt in Anwesenheit ihrer damals zweijährigen Tochter Ella knapp einen Suizidversuch, der Vater wird als größtenteils abwesend beschrieben. Ella hat eine weitaus ältere und eine etwas jüngere Schwester. Löwe schildert den Beginn der Begleitung und das besondere Verhalten Ellas, die sich von Anfang an und während der Treffen sehr offen, fröhlich und redselig zeigt, aber Selbstgespräche führt, sich regelmäßig einnässt und bei der Verabschiedung jeweils verstummt. Löwe beschreibt das auffällige Essverhalten des Mädchens als „maßlos und unreguliert“ (S. 152), teils heimlich in seiner Abwesenheit, teils beim gemeinsamen Essen, denn Ella kann sich beim Essen oft kaum stoppen. „Für mich war klar, dass Ella Genuss und Befriedigung beim gemeinsamen Essen erlebt und sie dieses Gefühl möglichst lange spüren wollte“ (S. 152). Löwe kommt zu dem Schluss, dass sich Ella alles, was in der Beziehung zu ihren Eltern fehlt, unbewusst durch unkontrollierte Nahrungsaufnahme zu kompensieren versucht. „Ella hatte kein gesundes elterliches Introjekt entwickeln können, differenzierte deshalb an keiner Stelle und nahm sich im wahrsten Sinne, was sie bekommen konnte. Sie kannte weder die Grenzen ihres Körpers noch die Grenzen einer sozialen Beziehung“ (S. 154). Löwe hält das Potenzial, darauf zukünftig eine Essstörung zu entwickeln, zu Beginn der Begleitung für hoch. Abschließend zeigt Löwe auch, dass die Begleitung von Ella nach etwa drei Monaten signifikant wirkt: Einerseits zeigt sich dies darin, dass Ella anfängt, die Toilette aufzusuchen, andererseits darin, dass Ella ein Sättigungsgefühl entwickelt. Löwe erklärt sich diese Stabilisierung u.a. mit regelmäßigen Mahlzeiten, die in aller Ruhe eingenommen werden, aber auch „durch die Schaffung eines exklusiven und sicheren Raumes und einer verlässlichen und empathischen Beziehung“ (S. 154).
Katrin Zimmer „Du nimmst jetzt meine Hand! Sofort!“ – über die langjährige Betreuung eines 13-Jährigen mit frühkindlichem Autismus
Katrin Zimmer, Dipl.-Sozialpädagogin, erzählt in ihrem Beitrag von einem Jungen mit frühkindlichem Autismus, den sie im Rahmen ihrer Tätigkeit bei einem kleinen Jugendhilfeträger mit einem psychoanalytischen und heilpädagogisch orientierten Konzept in Form von zwei wöchentlichen Terminen begleitet hat. Im Beitrag wird deutlich, wie herausfordernd sich die Begleitung des Jungen, den Zimmer Ben nennt, gestaltete. Zimmer bezieht sich in ihrem Beitrag auf Francis Tustin und sein Verständnis von Autismus, stellt den Autismus jedoch nicht ins Zentrum des Beitrags, sondern fokussiert auf affektgeladene leibliche Handlungen, die sie beobachten kann. Bens traumatisch verlaufene Geburt zieht weitreichende Entwicklungsstörungen im Kleinkindalter mit sich, auch seine Sehfähigkeit ist stark beeinträchtig. Die ersten Begleitversuche Bens beschreibt Katrin Zimmer als sehr herausfordernd, da Ben sich Ben äußerst lebhaft verhält: „Ich fühlte mich, als wäre ein Sturm durch die Einrichtung gezogen, der meine Fähigkeit zu denken und zu planen außer Kraft gesetzt hat. Ben wirkt in diesem initialen Kontakt völlig impulsgesteuert“ (S. 160). Im weiteren Verlauf der Begleitung zeigt sich Ben überschwänglich, übererregt, unlenkbar, affektorientiert und attackiert Zimmer teils auch körperlich. Zimmer berichtet, dass Ben sie boxt, schubst, bespuckt und mit Gegenständen bewirft, was in ihr Angst von Bens Unberechenbarkeit und weiterführende Fragen auslöst: „Ich frage mich, wie meine bloße Anwesenheit und mein Beziehungsangebot ein solches Verhalten auslösen kann“ (S. 162). Zimmer führt Bens Verhalten auf seine traumatischen, lebensbedrohlichen Geburtserfahrungen zurück. Das Betreuungssetting wird mit der Zeit tragender und Katrin Zimmer berichtet, dass sie Ben von der Schule abholen kann und mit ihm gemeinsam essen kann, wenn auch weiterhin unter herausfordernden Bedingungen. Es entwickelt sich eine besonders enge Beziehung zwischen Zimmer und Ben. Am Ende der Begleitung, fünf Jahre später, besucht Ben das Gymnasium und hat viele positive Schritte gemacht, dennoch ist Bens Geburtstraumata weiterhin stark zu spüren.
Diskussion
Nicht nur die beiden für diese Rezension zufällig ausgewählten und thematisierten Beiträge, sondern auch alle weiteren Beiträge sind äußerst anschaulich geschrieben. Die Autor*innen nehmen die Leser*innen mit in ihre Welt und erzählen facettenreich und eindrücklich von ihren Erfahrungen und ihrer Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen. Da ich selbst bislang wenige Berührungspunkte mit Kindern und Jugendlichen mit besonderen psychischen und sozialen Schwierigkeiten hatte, waren die Inhalte der Beiträge neu für mich. Die Erzählungen haben mich teils erheitert, teils nahezu schockiert, da die Autor*innen u.a. von stark aggressiven Jugendlichen erzählen und sich damit in ihrer Arbeit einem hohen Risiko aussetzen. Allein das Lesen der Beiträge hat einen hohen Respekt vor ihren Tätigkeiten bei mir hervorgerufen. Alle Beiträge lesen sich aufgrund der sehr hohen Erzählanteile zudem sehr flüssig. Der Sammelband ermöglicht einen sehr guten Einblick in Tätigkeitsbereiche der psychoanalytischen Sozialarbeit.
Fazit
Der Sammelband behandelt psychische und soziale Herausforderungen von Kindern und Jugendlichen, darunter Selbstverletzungen, psychosomatische Symptome und Transidentität. Anhand praxisnaher Fallbeispiele, wie der Begleitung eines essgestörten Mädchens und eines autistischen Jungen, verdeutlichen die Beiträge die Bedeutung stabiler, einfühlsamer Beziehungen in der therapeutischen Arbeit. Die anschaulich erzählten Erfahrungen vermitteln Einblicke in die psychoanalytische Sozialarbeit und würdigen die anspruchsvolle Tätigkeit der Fachkräfte.
Rezension von
Dr. Franziska Sophie Proskawetz
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