Karl Held, Theo Ebel: Krieg und Frieden
Rezensiert von Johannes Schillo, 13.12.2023
Karl Held, Theo Ebel: Krieg und Frieden. Politische Ökonomie des Weltfriedens. Gegenstandpunkt Verlagsgesellschaft mbH (München) 2023. 2. Auflage. 336 Seiten. ISBN 978-3-96221-014-4. D: 15,00 EUR, A: 15,00 EUR.
Thema
Das Buch handelt von der politischen Ökonomie des modernen Staatenverkehrs. Es liefert einen Beitrag zur marxistischen Debatte über den Imperialismus, wobei es vor allem auf die Spannungsphase des Ost-West-Gegensatzes zu Beginn der 1980er-Jahre fokussiert.
Autoren
Karl Held und Theo Ebel waren marxistische Theoretiker, die aus dem studentenbewegten Aufbruch der westdeutschen Linken (Rote Zellen/Marxistische Gruppe) kamen und bis in die 2010er-Jahre an der Zeitschrift Gegenstandpunkt mitwirkten.
Entstehungshintergrund
Das Buch, das im Frühjahr 1983 fertiggestellt wurde, erschien im selben Jahr – auf dem Höhepunkt der westdeutschen Friedensbewegung – in der damals führenden linken Theorie-Reihe Edition Suhrkamp (Neue Folge, Nr. 149). Es stand im Kontext der Proteste, die sich angesichts der „Nachrüstungs“-Pläne der NATO und deren Befürwortung durch die Bundesregierung auf die drohende Kriegsgefahr bezogen. Es wurde jetzt vom Gegenstandpunkt-Verlag in einer redaktionell nur unwesentlich veränderten Fassung neu herausgegeben und zugleich online zur Verfügung gestellt.
Aufbau und Inhalt
Die beiden Autoren schreiben im Vorspann ihres Buchs: „Warum entdeckt weder der gesunde noch der gelehrte Menschenverstand am Ost-West-Gegensatz“ mit seiner „Kriegsgefahr“ und den zahlreichen anderen Konflikten „jenes Geschäft, das einmal bürgerliche wie sozialistische Theoretiker Imperialismus nannten?“ (S. 2). Wie die kurze Einleitung mit ihrem Überblick über die nachfolgenden Kapitel verdeutlicht, geht es der Veröffentlichung um diese Wiederentdeckung. Dabei wird aber auch die Distanz zu früheren marxistischen Erklärungen hervorgehoben: „Daß imperialistische Politik den Geschäftsinteressen tatkräftiger Kapitale einer Nation dient, heißt alles andere, als daß sie und ihre Macher Knechte des kapitalistischen Schachers wären“ (S. 11).
Der besagte ignorante weltpolitische Sachverstand wird im ersten Kapitel behandelt. Es will zum einen Ideologiekritik leisten – festgemacht an den Bedrohungsszenarien der Jahre 1982/83, als die westdeutsche Friedensbewegung Hunderttausende auf die Straße brachte – und zum anderen auf die zugrundeliegenden Interessen eingehen, also auf das kapitalistische Geschäftsleben, das beim grenzüberschreitenden Verkehr seine konfliktträchtige Dynamik zeige. Wichtig ist dabei der abschließende Exkurs zu dem Klassiker der marxistischen Imperialismustheorie, zu Lenins berühmter Schrift über „das höchste Stadium des Kapitalismus“, die wegen ihrer falschen Argumente, insbesondere wegen ihres Ökonomismus, kritisiert wird: „Lenin verzichtet großzügig auf die Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik, und das aus der ‚orthodoxen‘ Sicherheit heraus, daß letztere ohnehin in nichts anderem besteht als in der Exekution der Geschäftsinteressen des Kapitals“ (S. 51f).
Der Friedenszustand einer kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung ist Thema im zweiten Kapitel. Wie Ökonomie und Politik getrennt sind und wie sie auf Basis dieser Trennung zusammenwirken, wird hier entwickelt, wobei es auch eine kritische Anmerkung (S. 71) zu Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie gibt – also zu dem anderen Klassiker aus der Tradition der Arbeiterbewegung. Held und Ebel insistieren darauf, dass nicht ein quasi hoheitlich agierendes Monopolkapital zur Rettung seines Akkumulationsmodells die Politik in den Krieg treibt, sondern dass Staaten hier die selbstbewussten Akteure sind: „ihr ‚Geschäft‘ ist die Sicherstellung der ‚Kooperationswilligkeit‘ fremder Souveräne, die prinzipielle Garantie der Benutzbarkeit ihrer hoheitlichen Gewalt im eigenen Interesse“ (S. 73). Dabei kommen die Rolle der US-Führungsmacht, die Hierarchie der Staatenwelt und der Sonderfall eines nationalistisch motivierten europäischen Zusammenschlusses (S. 117 ff) zur Sprache, wobei im letzteren Fall auch kurz die faschistischen Gegentendenzen angesprochen werden (S. 131f). Ein Thema, das natürlich heute, nach dem Aufstieg eines antieuropäischen Rechtspopulismus, eine ganz neue Bedeutung erlangt hat.
Auf die „unverbrüchliche Feindschaft“ der Weltmächte geht das dritte Kapitel ein, das als Ausgangspunkt der Analyse festhält: „Der ‚freie Westen‘ hat sich als Militärbündnis konstituiert“ (S. 193). Die einzelnen Etappen einer durch die NATO in Stellung gebrachten freien Welt – vom amerikanischen Alleinbesitz der Atombombe über den Kalten Krieg und die Entspannungsära bis zur (wie man heute weiß) finalen Spannungsphase unter Präsident Reagan – werden hier thematisiert und auf ihren Grund zurückgeführt, auf die Identifizierung der SU als Störenfried in der US-Weltordnung: „Sie stört grundsätzlich, weil sie sich seit jeher und seit den Tagen der Beendigung des Zweiten Weltkrieges dem ‚Angebot‘ einer friedlich-freundschaftlichen Oberaufsicht der USA nicht fügt“ (S. 205). Die Autoren unterziehen dabei nicht nur die politische Ökonomie des Realen Sozialismus, sondern auch dessen machtpolitische Kalkulationen in der Außenpolitik einer Kritik, weisen aber die These von einem Imperialismus der SU zurück (231f). Die Logik des „Rüstungswettlaufs“, den die USA antrieben und die sowjetischen Politiker ihrerseits mitmachten, steht danach im Mittelpunkt, konzentriert auf die „Nachrüstungs“-Phase, als auf US-Seite die Möglichkeit eines „Entwaffnungsschlags“ (S. 254) zur Überwindung des „nuklearen Patts“ realisierbar erschien. Die abschließenden Punkte (Osthandel, Ausrufung des Kriegsrechts in Polen, Falklandkrieg…) sind von eher historischem Interesse, wobei sich jedoch im Einzelnen auch Parallelen zur Gegenwart zeigen. So, wenn es um das in der Entspannungsphase eingeleitete „Erdgas-Röhren-Geschäft“ (S. 284) geht, mit dem die BRD damals ihre strategische Energie-Partnerschaft Ost einleitete. Eine Partnerschaft, die übrigens schon damals ein Streitgegenstand mit den USA war, als diese den „Übergang zum Wirtschaftskrieg gegen die Sowjetunion“ (S. 280) einleiteten.
Ein kurzes viertes Kapitel „Die BRD: Entwicklungen eines Frontstaats“ schließt das Buch ab. Hier wird insbesondere die deutsche Kalkulation behandelt, sich als Zuständiger fürs potenzielle Schlachtfeld in der Systemauseinandersetzung zu positionieren und die eigene Rolle in dem von den USA dominierten Rüstungswettlauf zu definieren. Die damalige Friedensbewegung sah in der Politik von Schmidt und Kohl eine Art von nationalem Verrat, als Vasall folge man der militärpolitischen Zuspitzung durch eine verantwortungslosen Cowboy-Präsidenten im Weißen Haus. Held und Ebel kritisieren abschließend solche Thesen wie auch die ganze Stoßrichtung des damaligen Protests, der eine Rückkehr zur Friedfertigkeit der Entspannungspolitik forderte und den neuen Konfrontationskurs der beiden Supermächte beklagte: „Die vielbeschworene Tugend solcher deutscher Friedensdiplomatie ist nicht aus der Not geboren, sich einer ‚sowjetischen Bedrohung‘ zu erwehren, und schon gar nicht aus dem Zwang, sich im Kielwasser amerikanischer Großmachtpolitik bewähren zu müssen. Der ‚Zwang‘ löst sich unmißverständlich in die dankbar ergriffene Erlaubnis auf, die Sache der Freiheit auf deutsch und mit schwarz-rot-goldenem Sonderanspruch zu ‚verdolmetschen‘“ (S. 315).
Diskussion
Der begrenzte Erklärungswert der Publikation liegt auf der Hand: Sie wurde vor 40 Jahren unter einer ganz anderen welt- und innenpolitischen Konstellation vorgelegt und stand somit im Zeichen eines globalen Systemgegensatzes, der seit über 30 Jahren Historie ist. Dass sie Relevanz für die heutige sozialwissenschaftliche Debatte besitzt (und nicht einfach einen theoriegeschichtlichen Rückblick ermöglicht), hat zwei Gründe.
Erstens thematisiert sie das grundsätzliche Verhältnis der Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter den Bedingungen einer Pax Americana, die die Öffnung aller Nationen für den marktwirtschaftlichen Verkehr zur Bedingung machte und unter gewaltbewehrter US-Aufsicht einen Weltmarkt herstellte, der damals natürlich nur die westliche Hemisphäre umfasste. Damit war – einerseits – automatisch eine Frontstellung gegen die Schranke gegeben, die der „Eiserne Vorhang“ des Ostblocks für den freien Kapitalverkehr darstellte, und – andererseits – eine Gegnerschaft zu den Ansprüchen der europäischen Kolonialmächte, die ihre Besitzstände im Globalen Süden verteidigten, dann aber nach und nach aufgeben mussten. Bei diesem Umgestaltungsprozess gab es sogar eine bedingte Übereinstimmung von US- und SU-Bemühungen. Im Resultat wurde eine Weltordnung hergestellt, die seit den Wendejahren 1989ff für den ganzen Globus gilt und in der die Indienstnahme der Arbeitskraft durchs frei in der Konkurrenz agierendes Kapital die Machtbasis für die nationalen Standorthüter abgibt. Von Kritikern werden die unübersehbaren Elendslagen der neuen Weltordnung, die endlosen Konflikte und Kollisionen, meist als „postkoloniale“ Verstöße gegen die neue, völkerrechtlich abgesicherte Ordnung verstanden. Und seit dem russischen Angriff auf die Ukraine (sowie dem Aufwuchs der VR China zu einer Großmacht) ist auch in der westlichen Politik wieder der Imperialismusvorwurf aufgekommen. In der neuen nationalen Sicherheitsstrategie der BRD z.B. wird festgehalten, dass Russland mit seiner „imperialen Politik Einflusssphären“ einzurichten versucht, so dass eine „Rückkehr des Imperialismus nach Europa“ zu konstatieren sei. Zu diesen grundsätzlichen Fragen nach dem Funktionieren eines Weltmarkts und dem imperialistischen Charakter, der ihm innewohnt bzw. aus ihm als Fehlentwicklung hervorgehen soll, liefert das Buch von Held und Ebel ein marxistisches Statement, das nichts von seiner Relevanz verloren hat.
Zweitens hat das Buch eine spezielle Aktualität. Es bezieht sich auf das Ende der Entspannungsära, das mit der Forderung des damaligen Bundeskanzlers Schmidt nach eigenen Atomraketen für Westeuropa eingeleitet und mit der amerikanischen Aufrüstung islamistischer Terrormilizen zur Unterminierung der sowjetischen Stabilisierungsversuche in Afghanistan sowie der Umsetzung des – von langer Hand geplanten – „Nachrüstungs“-Vorhabens (Stationierung von Cruise Missiles und Pershing II in Westeuropa, speziell in Westdeutschland) in Angriff genommen wurde. In gewisser Weise ist die damals begonnene Konfrontation durch Gorbatschows Einlenken 1989 und das folgende Jelzin-Jahrzehnt nur unterbrochen, aber nicht aus der Welt geschafft worden, sondern findet jetzt, wo Putin seit mehr als 20 Jahren an der Restaurierung einer – kapitalistischen gewendeten – russischen Großmacht arbeitet, ihre Vollendung. Die These von Held/Ebel, dass der imperialistische Staatenverkehr aus sich heraus politökonomische Gegensätze schafft, die immer wieder den Übergang zur militärischen Gewaltanwendung auf die Tagesordnung setzen, findet hier somit eine empirische Bestätigung. Zur Zeit des Ost-West-Gegensatzes galt dessen Konfliktpotenzial als Ausfluss eines „totalitären“ östlichen Regimes, das sich den Prinzipien des demokratischen Kapitalismus widersetzte. So jedenfalls die „westliche“ Lesart. Heute zeigt sich, dass Rivalitäten im Rahmen einer kapitalistisch wirtschaftenden Weltordnung – systemimmanent, wie die marxistischen Beiträge zur Imperialismustheorie seit über 100 Jahren behaupten – Gegensätze hervorbringen, die das Jahrhundert der Weltkriege fortsetzen und für militärische Monstrositäten unvorstellbaren Ausmaßes sorgen. Als Nebenpunkt bei der Neuausgabe der 1983er-Schrift ist zudem festzuhalten, dass die beiden Autoren polemisch gegen den nationalistischen Charakter der damaligen Friedensbewegung antraten, also gegen eine Bewegung, in der ein Juso Olaf Scholz oder die sich zur Politikfähigkeit hinarbeitenden Grünen eine maßgebliche Rolle spielten. Also genau die Politiker, die heute die Bundesrepublik als „Führungsmacht“ in Stellung bringen wollen, die – bis hin zur Konsequenz einer „nuklearen Teilhabe“ – Kriegstüchtigkeit erlangen soll. Somit könnten sich die beiden Autoren heute in ihrer Diagnose bestätigt sehen, dass sich der damalige Protest überhaupt nicht durch wirkliche Kriegsgegnerschaft auszeichnete.
Fazit
Das Buch ist ein zeit- und theoriegeschichtliches Dokument im Hinblick auf Imperialismus und zugleich eine instruktive Grundlagenschrift. Ausgehend von den Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, diese fortschreibend und aktualisierend, aber durchaus in Distanz zu marxistisch-leninistischen Traditionslinien, behandelt es die Prinzipien des modernen Staatenverkehrs nach dem Ende des Kolonialismus und unter den Bedingungen einer Pax Americana, die sich feindselig gegen den Anspruch einer rivalisierenden, staatssozialistischen Wirtschaftsordnung stellte und deren Anträge auf „friedliche Koexistenz“ nur bedingt gelten ließ. In dem Kontext ist die Frage nach dem Verhältnis von Ökonomie und Politik, nach den wirtschaftlichen Grundlagen von Krieg und Frieden, zentral. Dabei fokussiert das Buch auf die Lage Anfang der 1980er-Jahre, als die Entspannungsära beendet und die Kapitulation des Ostblocks durch Gorbatschow eingeleitet wurde.
Rezension von
Johannes Schillo
Sozialwissenschaftler und Autor
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Zitiervorschlag
Johannes Schillo. Rezension vom 13.12.2023 zu:
Karl Held, Theo Ebel: Krieg und Frieden. Politische Ökonomie des Weltfriedens. Gegenstandpunkt Verlagsgesellschaft mbH
(München) 2023. 2. Auflage.
ISBN 978-3-96221-014-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31507.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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