Franz Hamburger, Tarek Badawia et al. (Hrsg.): Migration und Bildung
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz, 19.09.2006

Franz Hamburger, Tarek Badawia, Merle Hummrich (Hrsg.): Migration und Bildung. Über das Verhältnis von Anerkennung und Zumutung in der Einwanderungsgesellschaft.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2005.
344 Seiten.
ISBN 978-3-531-14856-4.
29,90 EUR.
Reihe: Schule und Gesellschaft - 35.
Einführung
„Die Zeit entlarvt den Bösen“ (Euripides, *480 v. Chr. oder 485/484 v. Chr.; 406 v. Chr.)
Das obige Zitat mag zwar als Entree in die Thematik etwas irritieren, es fasst aber in wenigen Worten genau das zusammen, was im folgenden Abschnitt eben kritisch berührt werden soll.
Die so genannten PISA-Studien der OECD (Programme for International Student Assessment), die seit 2000 in dreijährigen Abständen in den OECD-Staaten durchgeführt werden, schließen an die Forschungstradition der ersten Untersuchungen zur international vergleichenden Bildungssituation aus den 1970er und 1980er Jahren an und beabsichtigen die Messung alltagsrelevanter Kenntnisse und Fähigkeiten von 15-jährigen Schülern. Zu den internationalen Tests (PISA I, PISA II bzw. PISA III) kommen nationale Ausweitungsstudien hinzu, in Deutschland als PISA-E bezeichnet (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Pisa-Studie).
Die Ausgangsstudie PISA I hat in mehreren Teilnehmerstaaten kollektives Entsetzen ausgelöst und das Problem der sozialen Ungleichheit im Bildungswesen in den Forschungsfokus gerückt, so z.B. die desolate Bildungssituation speziell von Migrantenkindern.
Dabei haben die Nachfolgestudien nicht nur ein massives Gefälle zwischen den einzelnen Bundesländern aufgezeigt, sondern auch die Chancenungleichheit zwischen Arm und Reich augenfällig manifestiert. So entscheidet in Deutschland die soziale Herkunft stärker als in jedem anderen Land über Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen. Im Vergleich zu einem Facharbeiterkind beträgt die relative Wahrscheinlichkeit des Gymnasialbesuchs für ein Akademikerkind in Deutschland bei gleicher individueller Lese- und Rechenkompetenz 4 zu 1 (ebenda). Dass die doppelte Marginalisierung von Migranten in ökonomischer wie auch politischer Hinsicht mit § 3 des Grundgesetzes nicht vereinbar ist, braucht hier nicht näher erläutert werden.
In der Sonderstudie „Where Immigrant Students Succeed - a comparative Review of Performance and Engagement from PISA 2003Ó (deutsch: Wo haben Schüler mit Migrationshintergrund die größten Erfolgschancen? Eine vergleichende Analyse von Leistung und Engagement in PISA 2003) konnte deutlich aufgezeigt werden, dass Deutschland einsames Schlusslicht bei der Integration der Nachfolgegenerationen von Migranten ist.
Im Anschluss an die PISA-Studien und im Rahmen des pathologischen gesamtdeutschen Phänomens der Schuldigensuche stehen für die wissenschaftlichen und politischen Akteure die Schuldigen längst fest. „Die große Zahl türkischer Schüler, die kein Deutsch können“, so Edmund Stoiber in einem Anfall von intellektueller Berauschtheit. Da könnte man die berechtigte Frage stellen, warum Migrantenjugendliche und -kinder die Sprache eines Landes, das de facto ein Einwanderungsland ist, in denen sie aber noch immer als „Gäste“ gehandhabt werden, überhaupt lernen sollten. In der bildungspolitischen Diskussion wird das Thema Migration und Bildung somit auf einen einfachen Nenner gebracht und als „Elendsdiskurs“ (Hamburger 1997) auf Fragen nach dem Spracherwerb und dem mangelnden Engagement der Eltern reduziert. Die Forderung nach Anpassungsleistungen von Seiten der Migranten (wie z.B. durch die „Deutschpflicht“ oder die „Integrationspflicht“ a la Stoiber) dient eher der Exklusion als der Inklusion.
Gerade die jüngsten Berichte über die Berliner Rütli-Schule dienten dazu, die Ursachen für die geradezu anarchistischen Konstellationen in den Klassenräumen mit dem hohen Anteil der SchülerInnen mit arabischem (34,9 %) und türkischem Migrationshintergrund (26,1 %) zu begründen. Zwar liegt der Gesamtanteil der Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft bei 83,2 %, doch unter dem Schlagwort „Kulturkonflikt“ dient er „der Ausblendung der sozialstrukturellen Benachteiligung junger Ausländer bzw. der Ausblendung der rechtlichen und sozialen Gründe für ihre Orientierungsschwierigkeiten“ (Auernheimer 1988, S. 9). Dass an der Schule keine MitarbeiterInnen aus anderen Kulturkreisen beschäftigt sind, ist die Kehrseite der Medaille und eine weitere bittere Wahrheit, die angesichts der multikulturellen Realität in Deutschland kaum noch zu begreifen ist (http://www.spiegel.de/unispiegel/schule/0,1518,408803,00.html).
Sprache und Bildung dürfen nicht als einzige Indikatoren und alleinige Garantien für eine gedeihliche Integration betrachtet werden. Das haben die jüngsten Gewaltexzesse im „Wilden Osten“ aufgezeigt, in deren Mittelpunkt klassische Integrierte standen (wie z.B. der deutsch-kurdische Linkspartei-Politiker Giyasettin Sayan oder der deutsch-äthiopische Ingenieur Ermyas Mulugeta). Der an Migranten in Deutschland gestellten Integrationsanforderung müssen auch Menschen ohne Migrationshintergrund auf institutioneller und alltagsbezogener Ebene nachkommen. Dass Integration kein einseitiger Eingliederungsprozess von Zugewanderten sein kann, sollte durch die Einführung von Integrationskursen für Einheimische belegt werden.
Die schizoiden Integrationsanforderungen zeigen sich bereits in der suggerierten provisorischen Einwanderungssituation mit einer geradezu perspektivlosen Ausgangslage für die betroffenen Menschen. Im Rahmen einer politischen Nacht- und Nebelaktion hat das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz mit dem so genannten Optionsmodell über 50.000 TürkInnen und deren Kinder mit dem Entzug ihrer deutschen Staatsbürgerschaft konfrontiert, da sie nach der Einbürgerung die türkische Staatsbürgerschaft wieder beantragt hatten und somit auf „illegale“ Weise die doppelte Staatsbürgerschaft besaßen.
Entstehungshintergrund
In den letzten Jahren sind auch im Zuge der vergangenen PISA-Ergebnisse und in geradezu inflationärer Weise, was auch gut ist, diverse Fachbücher zum Themenkomplex „Bildung im Migrationskontext“ auf den wissenschaftlichen Markt gekommen, wie z.B.
- Allemann-Ghionda, C.:Schule, Bildung und Pluralität: sechs Fallstudien im europäischen Vergleich, Bern u.a. 1999
- Beuchling, O.: Vom Bootsflüchtling zum Bundesbürger: Migration, Integration und schulischer Erfolg in einer vietnamesischen Exilgemeinschaft, Münster u.a. 2003
- Gogolin, I./Nauck, B. (Hrsg.):Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung: Resultate des Forschungsschwerpunktprogramms FABER, Opladen 2000
- Gogolin, I./Krüger-Potratz, M./Kuhs, K./Neumann, U./Wittek, F. (Hrsg.): Migration und sprachliche Bildung, Münster u.a. 2005
- Gomolla, M./Radtke, F.-O.: Institutionelle Diskriminierung: die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen 2002.
- Gomolla, M.: Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft: Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in England, Deutschland und in der Schweiz. Münster et al. 2005.
- Gröpel, W. (Hrsg.): Migration und Schullaufbahn: wissenschaftstheoretischer und praxisorientierter Diskurs inklusive internationalem Ausblick zu (Schul-)karrieren von Kindern ethnischer Minderheiten, Frankfurt a. M. 1999
- Gültekin, N.: Bildung, Autonomie, Tradition und Migration: Doppelperspektivität biographischer Prozesse junger Frauen aus der Türkei, Opladen 2003 (www.socialnet.de/rezensionen/810.php)
- Hormel, U./Scherr, A.:Bildung für die Einwanderungsgesellschaft: Perspektiven der Auseinandersetzung mit struktureller, institutioneller und interaktioneller Diskriminierung, Wiesbaden 1 2004
- Karakasoglu-Aydin, Y./Lüddecke, J. (Hrsg.): Migrationsforschung und Interkulturelle Pädagogik: aktuelle Entwicklungen in Theorie, Empirie und Praxis; Ursula Boos-Nünning zum 60. Geburtstag, Münster u.a. 2004
- King, V./Koller, C. (Hrsg.): Adoleszenz-Migration-Bildung, Wiesbaden 2006 (noch nicht erschienen)
- Leiprecht, R./Kerber, A. (Hrsg.): Schule und Einwanderungsgesellschaft: ein Handbuch, Schwalbach 2005 (www.socialnet.de/rezensionen/3100.php)
- Schroeder, J.: Bildung im geteilten Raum: Schulentwicklung unter Bedingungen von Einwanderung und Verarmung, Münster u.a. 2002
- Skubsch, S.: Kurdische Migration und deutsche (Bildungs-)Politik, Münster 1 2002
- Warzecha, B. (Hrsg.): Heterogenität macht Schule: Beiträge aus sonderpädagogischer und interkultureller Perspektive, Münster u.a. 2003
Hierzu gehört auch die vorliegende Publikation von den MigrationswissenschaftlerInnen Franz Hamburger, Tarek Badawia und Merle Hummrich. Doch zunächst zu den HerausgeberInnen.
- Prof. Dr. Franz Hamburger lehrt am Pädagogischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Migration und Minderheiten, Jugendhilfe, Internationaler Vergleich in der Sozialpädagogik, Öffentlichkeit der Sozialen Arbeit, Europa.
- Dr. Tarek Badawia M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Pädagogischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Migrationsforschung (Schwerpunkt Jugend), Interkulturelle Kommunikation, qualitative Forschungsmethoden, Identitätsentwicklung und Sozialisation.
- Dr. Merle Hummrich ist Diplom-Pädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Schulforschung (ZSL) der Martin-Luther-Universität Halle/Saale. Interessen: Bildung und Migration, Sozialisation, Biografieforschung
Wichtige Publikationen des „Dream Teams“ der Migrationsforschung, das auch den Sammelband „Wider die Ethnisierung einer Generation: Beiträge zur qualitativen Migrationsforschung“ (www.socialnet.de/rezensionen/1519.php) herausgegeben hat, sind u.a.
- Hamburger, F.: Einführung in die Sozialpädagogik, Stuttgart 2003 (www.socialnet.de/rezensionen/1455.php)
- Badawia, T.: „Der dritte Stuhl„: eine Grounded-theory-Studie zum kreativen Umgang bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher mit kultureller Differenz, Frankfurt a. M./London 2002
- Hummrich, M.: Bildungserfolg und Migration: Biographien junger Frauen in der Einwanderungsgesellschaft, Opladen 2002
In der vorliegenden Arbeit geht es vor allen Dingen um die Bedingungen von Migration und Bildung in Deutschland und den Versuch, Einsicht und Lösungen für migrationsrelevante pädagogische Probleme zu bieten. Hierzu sind 20 teils empirisch fundierte, teils theoretisch ausgerichtete Beiträge (siehe Aufbau und Inhalt) aus den verschiedensten Ressorts der Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zusammengetragen worden. Sie reichen von der Professionellenebene über die institutionellen und familialen Bildungsprozesse sowie Verknüpfung von Bildung und Lebenswelt bis hin zu konkreten pädagogischen Reflexionsversuchen.
Leider kann hier nicht auf jeden einzelnen Beitrag eingegangen werden, da dies den Rahmen der Rezension sprengen würde. Deshalb soll im Folgenden die einleitende Feldbeschreibung von Franz Hamburger partiell skizziert werden.
Einleitende Feldbeschreibung von Franz Hamburger
Als Introduktion und um die vergangene Fußball-WM 2006 gebührend zu würdigen, sei hier ein Zitat des brasilianischen Erziehungsministers über das Abschneiden seines Landes in der PISA-Studie 2000 erwähnt: „Esperava um disastre pior“ - „Ich habe ein noch schlimmeres Desaster erwartet“. Angesichts der pseudo-naiv verfehlten, ja sogar bewusst inszenierten bundesrepublikanischen Bildungs- und Integrationspolitik der letzten fünf Dezennien und unter Berücksichtigung der enormen Tragweite der tragischen Bildungsmisere ist man fast dazu geneigt, die fühlbare „Institutionalisierte Diskriminierung“ (Gomolla 2002/2005) hierzulande mit demselben südamerikanischen Optimismus, ja sogar einem gewissen pädagogischen Galgenhumor zu betrachten.
Oder man macht sich ernsthafte Gedanken wie Prof. Dr. Franz Hamburger, einer der Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, der den Sachverhalt des gegenwärtigen Migrationsdiskurses pointiert expliziert: „Die Kinder der Migranten sind wieder einmal ins Gerede gekommen“ (S. 7). Dieser Umstand zeigte sich auch in der jüngsten Polemik um Zwangsheirat und Ehrenmord in türkischen Familien deutlich auf. Meist sind Migranten, 1. wenn sie erwähnt werden, bereits ein Problem oder 2. sie werden zu einem Problem, weil sie erwähnt werden.
Dass die Ergebnisse zu einem einstudierten Schock bei den Verantwortlichen (und Schuldhaften, aber nicht Schuldbewussten) geführt haben, ist für Hamburger einfach grotesk: „PISA I und II haben übereinstimmend gezeigt, dass ihre Bildungsbenachteiligung deutlich ausgeprägt ist und ihr relativer Schulmisserfolg über einen längeren Zeitraum hinweg stabil bleibt. Die Schulbesuchs- und Abschlussstatistiken der Kultusministerkonferenz haben diese Befunde schon seit 30 Jahren dokumentiert; eine ernsthafte politisch-öffentliche Reaktion ist, von Ausnahmen abgesehen, ausgeblieben“ (ebenda). Diesen Satz kann man freilich weiter ausbauen. Die vergangenen Studien haben auch belegt, dass Deutschland sich endlich der demokratischen Verantwortung stellen und bildungsbezogene Bereiche mehr denn je kritisch hinterfragen muss. Dass migrationsrelevante Probleme (besser: das Problem des Fehlumgangs mit migrationsrelevanten Themen) jahrelang aufgeschoben, aber nicht aufgehoben wurden, müssten die jüngsten Resultate im Grunde fühlbar aufgedeckt haben. Das Unvermögen der Schule, auf veränderte Bildungsanforderungen angemessen zu antworten und die Sicherstellung der Partizipation von Kindern mit Migrationshintergrund am deutschen Bildungssystem wurden hierbei kaum thematisiert.
In der Introduktion beginnt Hamburger mit der Kritik an einer migrationspolitischen Tatsache, in der wahrscheinlich das gesamte Bildungs- und Integrationsdilemma begründet ist, nämlich in der „… fünfzigjährigen Verdrängung von Einwanderungsprozessen: die Behauptung der Nicht-Zugehörigkeit“ (S. 7). Diese politische wie auch gesellschaftliche Grundhaltung, die als integrationshemmendes Damoklesschwert über allen Zuwanderungsdiskursen schwebt, wird ergänzt durch die latente Problematisierung und raffinierte Ethnisierung von migrationsrelevanten Phänomenen, die in Wahrheit aber gesamtgesellschaftlichen Strukturelementen zuzuordnen sind. Hierzu Hamburger: „In Meinungsumfragen und Medienanalysen lassen sich dieselben Muster identifizieren, die fester Bestandteil des gesellschaftlichen Wissens sind. Beispielsweise: Stadtteile mit hohem Ausländeranteil sind Problemstadtteile, Schulen mit vielen Migrantenkindern sind schwierig, Ausländerkinder in der Klasse hemmen den Lernfortschritt der deutschen Kinder usw.“ (S. 8). Die konstitutiven Herrschaftsverhältnisse manifestieren sich auch in der paradoxen Unterscheidung von Deutschen und Ausländern, deren kausale Konstellationsschichtungen zeit- und ortresistente Determiniertheiten und lebensweltliche Provisorien suggerieren, deren Umgrenzungen auch durch eine rechtliche Mobilität (wie z.B. die Einbürgerung) kaum zu kompensieren sind. Statt einer reziproken Anerkennung durch kulturelle Akklimatisierung werden eher folkloristische Tendenzen sichtbar, die die Andersartigkeit der Migranten in einer zusätzlichen Weise forcieren und untermauern.
Was den Diskursduktus des vorliegenden Bandes ausmacht, offenbart sich auf Seite 12. Hier führt Hamburger die beiden Diskussionsstränge an, in deren Rahmen die Situation von Migrantenkindern behandelt wird: auf der einen Seite die defizitorientierte Perspektive, auf der anderen Seite die ressourcenorientierte Perspektive. Er hebt hervor, dass System- und Sozialintegration gleichrangig verlaufen müssen, da eine fundierte Gesellschaftspartizipation nur durch eine gerechte Bildungspartizipation erfolgen kann (S. 13 ff). Dabei spricht Hamburger auch einen wichtigen Gesichtspunkt der Migration an, die in der aktuellen problemzentrierten Diskussion meist untergeht, für ein gedeihliches Kolloquium aber unabdingbar ist: den Komplexitäts- und Aktivitätsgrad von Wanderungsbewegungen und deren AkteurInnen (S. 14 ff). Die soziale Bedingtheit von Bildungsressourcen und der Bildungsmisere von ausländischen Jugendlichen beschreibt Hamburger auf den Folgeseiten. Zum Schluss konstatiert er, dass sowohl im Schulleistungs- als auch Ausbildungsbereich Armut und Arbeitslosigkeit reproduziert würden: „Je genauer die Sonde angelegt wird, mit der sich die Analysen der Wirklichkeit nähern, umso deutlicher werden eben Licht- undSchattenseiten, Bildungsförderung und -verhinderung, biografische Chancen und Barrieren. Insbesondere wenn man sich auf die Perspektive der pädagogisch Handelnden einlässt, werden vor allem Ambivalenzen deutlich, was in der Konsequenz dann auch Handlungsspielräume eröffnet: für die Bildung der Handelnden und die Entwicklung der Organisationen“ (S. 21 ff).
Aufbau und Inhalt
Auf die Einleitung von Franz Hamburger („Der Kampf um Bildung und Erfolg. Eine einleitende Feldbeschreibung“) wurde schon eingegangen. Es folgen vier Kapitel:
Teil I: Die Perspektiven der Professionellen
- Claus Melter: „Also das gefällt mir nicht, wie der da jetzt über die Deutschen spricht“
- Carla Schelle: Migration als Entwicklungsaufgabe in der Schule und im Unterricht
- Paul Walter: Urteile und Fehlurteile von Lehrpersonen in der multikulturellen Schulwirklichkeit
- Martina Weber: „Ali Gymnasium“ - Soziale Differenzen von SchülerInnen aus der Perspektive von Lehrkräften
Teil II: Bildungsprozesse in Institution und Interaktion
- Claudio Bolzman/Rosita Fibi/Marie Vial: Bildungsprozesse und berufliche Integration der „Zweiten Generation“. Die Rolle der intergenerationellen Beziehungen
- Merle Hummrich/Christine Wiezorek: Elternhaus und Schule - Pädagogische Generationsbeziehungen im Konflikt?
- Angelika Kaffrell-Lindahl: Eltern und Kinder - Zur Dynamik von Erziehungsvorstellungen in interethnischen Familien
- Heinz Reinders/Tanja Mangold/Karina Greb: Ko-Kulturation in der Adoleszenz. Freundschaftstypen, Interethnizität und kulturelle Offenheit im Jugendalter
- Uwe Sandfuchs/Clemens Zumhasch: Die Primarstufe der Deutsch-Italienischen Gesamtschule Wolfsburg - Konzept und ausgewählte Befunde der wissenschaftlichen Begleitung
Teil III: Bildung in lebensweltlicher Perspektive
- Rosario Alonso Alonso: Lernen am eigenen Rassismus als Entwicklungsprozess
- Tarek Badawia: „Am Anfang ist man auf jeden Fall zwischen zwei Kulturen“ - Interkulturelle Bildung durch Identitätstransformation
- Isabell Diehm/Melanie Kuhn: Ethnische Unterscheidungen in der frühen Kindheit
- Susan Edholm-Wenz: Biographien, die ins Heim führen. Eine Fallrekonstruktion
- Peter Nick: Spiel mit der Differenz - Konstruktionen von Fremdheit, Kultur und Identität
- Heike Niedrig:Der Bildungsraum junger Flüchtlinge
Teil IV: Räume der Reflexion
- Ingrid Gogolin: „Integration“ - deutsche Erfahrungen und Beispiele von anderswo
- Ulrike Hormel/Albert Scherr: Migration als gesellschaftliche Lernprovokation - Programmatische Konturen einer offensiven Bildung für die Einwanderungsgesellschaft
- Paul Mecheril: Pädagogik der Anerkennung. Eine programmatische Kritik
- Tarek Badawia/Franz Hamburger/Merle Hummrich: Krise der Integration. Hilflosigkeit der Institution?
Zielgruppen
Das Buch richtet sich an alle, die auf erziehungs- und bildungsprofessioneller Ebene Menschen mit Migrationshintergrund pädagogisch begleiten, therapieren, unterrichten und fördern, gleichzeitig aber reflexiv arbeiten möchten. Ich kann es insbesondere FachwissenschaftlerInnen, DozentInnen und Studierende in den Fachbereichen Erziehungswissenschaft und Allgemeine Pädagogik an Universitäten und Fachhochschulen, Bildungsverantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen sowie FachjournalistInnen der Ressorts Bildung und Wissen wärmstens empfehlen.
Diskussion
Der brillante Sammelband schließt im Bereich der Migrationsforschung eine große Lücke und ist nicht nur aus aktuellen Anlässen bereits jetzt als richtungweisendes Standardwerk der Migrationsforschung zu bewerten. Er überzeugt durch seinen thematischen Facettenreichtum, seine kritische Annäherungsweise an ein äußerst komplexes und hochsensibles Praxisfeld sowie die wertvolle Präsentation gegenwärtiger Forschungsvorhaben im Bereich der Bildungs- und Migrationsforschung. Angesichts der modernen Einwanderungsrealität sollte er in keiner öffentlichen und freien Bildungseinrichtung fehlen und in die Aus- und Fortbildung von LehrerInnen, ErzieherInnen und TherapeutInnen fest integriert werden, da die darin enthaltenen Artikel die wichtigsten Themenbereiche des aktuellen Themendiskurses skizzieren und ein überzeugendes und glaubhaftes Abbild der reflexiven Migrationspädagogik wiedergeben. Die größtenteils empirisch gestützten Beiträge beharren nicht auf einer monokausalen Deutungsebene, sondern eröffnen neben konkreten Lösungsvorschlägen auch (was wichtiger ist!) wissenschaftlich attraktive Diskussionsanreize. Dabei unterliegen die Beiträge nicht der nahe liegenden Versuchung, die Hauptverantwortlichen inquisitorisch ausfindig zu machen, sondern vielmehr empirisch und theoretisch zu hinterfragen.
Der einzige formale Minuspunkt geht an die Lesbarkeit des Buches. Zwar haben die zahlreichen Fehler eine geradezu aufmerksamkeitsfördernde Wirkung inne, doch teilweise lenken sie auch vom Inhalt ab, insbesondere dann, wenn man beginnt, gezielt nach Fehlern zu suchen. Dies sollte in einer eventuellen Zweitauflage berücksichtigt werden.
Die anfangs eher unglücklich wirkende Gliederung und Lokalisierung der Beiträge durch ungenügende Differenzierung erweist sich im Laufe der Lektüre und angesichts des komplexen Themenfeldes als auch der anspruchsvollen Materie als unabwendbar. Dennoch wäre eine zusammenfassende Übersicht der einzelnen Beiträge am Anfang des Sammelbandes sicher sinnvoll gewesen, in deren Rahmen man durch einführende Abstracts auch die gewählten Themenüberschriften besser einordnen hätte können. So wirken die Beiträge, auch wenn es substantiell bedingt ist, willkürlich zusammengefügt. Überlegenswert wäre, ob der letzte Beitrag (von Tarek Badawia/Franz Hamburger/Merle Hummrich: Krise der Integration. Hilflosigkeit der Institution?) als einleitender Beitrag genutzt und dem obigen inhaltlichen Zusammenführungsvorschlag entsprechend erweitert werden könnte. Vielleicht wäre auch ein struktureller Aufbau auf dem Beitrag von Franz Hamburger denkbar.
Fazit
Bleibt zu hoffen, dass die Grundintention der Autoren, nämlich einen objektiven Einblick in die erziehungswissenschaftliche Komplexität und bildungs- und integrationspolitische Brisanz des Untersuchungsfeldes zu gewähren, ohne gleichzeitig auf einer rein deskriptiven Ebene zu verharren, bei den Adressaten (genannt seien hier vor allem die Politiker auf Landes- und Bundesebene) ankommt. Es steht fest, dass weder mit einer folkloristischen Kuschelpädagogik noch mit einer „altbayrischen“ Radikalpädagogik der Sache gedient sein kann. Die Integration der seit nunmehr 50 Jahren stiefmütterlich behandelten Migrantengenerationen kann nur durch die Gewährleistung einer freiheitlich-demokratischen Weltauffassung sowie eines humanen Menschenbilds realisiert werden. Die wahnsinnige Idee, straffällig gewordene Migrantenschüler notfalls auszuweisen, wie kürzlich von CDU-Politiker Pflüger geäußert, würde wahrscheinlich an dem Umstand scheitern, dass deren Herkunftsländer (obgleich dieser Begriff schon verkehrt ist, da viele in Deutschland zur Welt gekommen sind) ihre Grenzen einfach dicht machen. Dies könnte man ihnen auch gar nicht übel nehmen, zumal die „versagenden“ Schüler Produkte der deutschen Gesellschaft und des deutschen Bildungs- bzw. Politiksystems sind. Hier zeigt sich aber auch, dass ein praktisches Verantwortungsbewusstsein noch immer nicht existent ist und dass der Fisch, um die Rezension mit einem norddeutschen Sprichwort auch endlich abzuschließen, vom Kopf stinkt.
Literatur
- Auernheimer, G.:
Der sogenannte Kulturkonflikt: Orientierungsprobleme ausländischer
Jugendlicher, Frankfurt a. M./New York 1988
- Gomolla, M./Radtke, F.-O.: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Opladen 2002
- Gomolla, M.: Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in England, Deutschland und in der Schweiz. Münster et al. 2005
- Hamburger, F.:Kulturelle Produktivität durch komparative Kompetenz. In: Gogolin, I./Nauck, B.: FABER-Konferenz: Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung. Dokumentation einer Fachtagung, Chemnitz 1997 (S. 151-163)
Für einen ergiebigen Einblick in die Thematik empfehle ich folgende Onlineressourcen:
- http://www.pisa.oecd.org/pages/
- http://www.bildungsserver.de/
- http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/ergebnisse.html
- http://pisa.ipn.uni-kiel.de/
- www.theologie-systematisch.de/bildung/
- http://www.gew-bw.de/PISA-E-2003.html
- www.bildungspolitikniedersachsen.de/
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz
Migrationsforscher.
Freiberufliche Tätigkeit in der Migrationssozialberatung und Ganzheitlichen Nachhilfe
Es gibt 18 Rezensionen von Yalcin Yildiz.