Anke Dreier-Horning: Wie Anton S. Makarenko ein Klassiker der Pädagogik wurde
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.11.2023
Anke Dreier-Horning: Wie Anton S. Makarenko ein Klassiker der Pädagogik wurde. Zum Stand der Makarenkoforschung in Deutschland.
Berliner Wissenschafts-Verlag
(Stuttgart) 2022.
218 Seiten.
ISBN 978-3-8305-5161-4.
D: 44,00 EUR,
A: 45,30 EUR.
Schriftenreihe des Deutschen Instituts für Heimerziehungsforschung.
Ein pädagogisches Poem
Der russische Pädagoge Anton Semjonowitsch Makarenko (1888 – 1939) wirkte in der Zeit von 1920 bis 1939 in der damaligen Sowjetunion als Erziehungs- und Bildungswissenschaftler. Sein Werk wurde international vor allem dadurch bekannt, dass er in der 1920 in der Ukraine gegründeten „Gorki-Kolonie“ mitarbeitete und die pädagogischen und ideologischen Grundlagen der Aufbewahrung, Verwahrung und Betreuung von straffälligen Kindern und Jugendlichen legte und die theoretischen und praktischen Diskurse in seinem literarischen Hauptwerk „Pädagogisches Poem“ beschrieb. Im Rahmen des internationalen, pädagogischen Gedankenaustausches wurden seine Ideen vor allem in den Zeiten der politischen und ideologischen Ost-West-Konfrontationen in unterschiedlicher Weise aufgenommen: In der Zeit des Kalten Krieges wurde Makarenko im Westen eher als kommunistischer Pädagoge wahrgenommen und adaptiert, während er in den Ostblockstaaten sowohl als pädagogische Leuchtfigur, wie auch als bürgerlicher Reformpädagoge ausgewiesen wurde. Für Kritiker war er sogar Stalinist. Die Rezeption seines Werkes zeigte sich sogar darin, dass seine Arbeiten in unterschiedlichen Übersetzungen herausgegeben wurden.
Entstehungshintergrund und Autorin
Im heutigen, erziehungswissenschaftlichen Diskurs wird Makarenko als „Klassiker der Pädagogik“ wahrgenommen. Es war vor allem Hermann Nohl (1879 – 1960), der in der deutschen Nachkriegszeit auf die kontroversen Reformstrategien aufmerksam machte (siehe z.B. dazu auch: Peter Dudek, „Liebevolle Züchtigung“. Ein Missbrauch im Namen der Reformpädagogik, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/​12807.php). Nohls Schüler, Leonhard Froese (1924 – 1994), ordnete Makarenkos Werk als „hermeneutische Weichenstellung“ ein. Es ist die immerwährende, immer aktuelle und kontroverse Frage, wie sich im pädagogischen Dialog Theorie und Praxis zueinander verhalten; auf welchem ideellen und ideologischen Wissen basiert die wissenschaftliche Auseinandersetzung; wie lassen sich Individuum und Kollektiv einordnen; wie können Humanität, Gerechtigkeit und Solidarität lokal und global Wirklichkeit werden. Die Sozialwissenschaftlerin von der Ev. Hochschule Berlin, Anke Dreier-Horning, hat an der Universität Rostock promoviert. Sie legt ihre Forschungsarbeit 2023 in leicht gekürzter Fassung vor.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung und den Schlussbetrachtungen gliedert die Autorin ihre Arbeit in zwei Teile. Im ersten Teil setzt sie sich auseinander mit der „Person Anton S. Makarenko und zu seinem Wirken (1888 – 1939)“ auseinander. Im zweiten Teil thematisiert sie die „Rezeptionsgeschichte in Deutschland (1927 – heute)“. Damit greift sie ein in die kontroversen Auslegungen und Annahmen, ob Makarenko ein Stalinist oder Reformpädagoge war und als „Klassiker der Pädagogik“ bezeichnet werden kann. Die nicht leichte, durchaus mit Fallstricken ausgestattete Rezeption seines Werkes durch Dreier-Horning beruht auf dem Dilemma wie der Zielsetzung, „der Mystifizierung, die es in Ost und West gab, entgegenzutreten und die historische Figur Makarenko dadurch sichtbarer zu machen“. Die Autorin nimmt sich die wesentlichen, veröffentlichten – gegensätzlichen – Ergebnisse der Makarenko-Forschung vor: „Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR)“ und „Makarenko-Referat der Forschungsstelle für Vergleichende Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg“. Es sind die pädagogischen, theoretischen und praktischen Konzepte einer „freien Erziehung“, wie sie z. Beispiel von Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828 – 1919), von John Dewey (1859 – 1952), von Johann Heinrich Pestalozzi, Ellen Key, Maria Montessori, Georg Kerschensteiner, Paul Natorp, Hermann Lietz und Gustav Wyneken… ins Feld geführt wurden. Es sind die Verortungen und Institutionalisierungen, wie sie sich in Landerziehungsheimen und in den Gorki-Kolonien im ukrainischen Poltawa und Kurjasch vollzogen und sich im Charkiwer Bezirk ausweiteten. Im Makarenkos Hauptwerk – „Ein pädagogisches Poem“ (1934/1951/1971) – versammeln sich seine pädagogischen, politischen und kulturellen Auffassungen, die ihn bald Kritik und Widerstand von den ideologisierten, ethnozentristischen und nationalistischen, sowjetischen Mächten einbrachten, und sein Konzept als „anti-sowjetisch“ denunziert.
In beider deutscher, kontroverser Diskurse über kanonisierte Bildungs- und Erziehungsziele stehen vor allem die individuellen und kollektiven Auffassungen des Menschseins im Vordergrund. Es sind einerseits die bürgerlichen, liberalen Schwerpunktsetzungen, andererseits die sozialistischen, kommunistischen Ideologien, die sich in der Makarenko-Forschung und Politik ausdrücken. Wie in einem Filter auf der einen, einer Mauer auf der anderen Seite, wurden die kollektiven Ideen etwa bei der israelischen Kibbuz- und der europäischen Genossenschafts- und Gewerkschaftsentwicklung, wie auch in den „Kalter-Kriegs“-Konfrontationen artikuliert. Eine besondere Aufmerksamkeit erhielt Makarenko auch im Prozess der SBZ/DDR-Entwicklung. Und im bundesrepublikanischen Diskurs werden die Unterschiede und Wertigkeiten der geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Bildung thematisiert.
Diskussion
Immer wenn Autoritäten oder solche, die durch undemokratische, diktierte und ideologisierte Machtausübung Macht über Menschen erringen und diese mit dem Ziel der Unterwerfung unter ihre Wertvorstellungen gegen ihren Willen zwingen, entstehen sichtbare und unsichtbare, körperliche und seelische Narben. Insbesondere die aktuellen Auseinandersetzungen mit der DDR-Familienbildung und Heimerziehung machen es notwendig, die pädagogischen Konzepte und Konstrukte zu befragen, die sich – zu recht wie auch ungerechtfertigt – auf Makarenko beziehen (siehe z.B. auch: Ralf Marten, „Ich nenne es Kindergefängnis“, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/​20068.php). Im historischen, sozialwissenschaftlichen Diskurs wird deshalb „Ambiguitätstoleranz“ gefordert, als „Unterscheidung zwischen Rezeptionsvarianten bzw. Urteilen zu Makarenkos Lebensleistung einerseits und historischen Tatsachen andererseits verzichten zu können“. Die in der Analyse von Makarenkos Werk entweder ambivalente oder definite Betrachtung von Person und Schaffen führen sowohl zu Irrwegen als auch zu Kenntnissen. Eine Lösung kann nur sein, Erziehung wieder (zum Bestandteil) einer Gesellschafts- und Sozialethik (werden zu lassen), in der beantwortet (wird): Was ist ein gelingendes Leben und was kann die Pädagogik dafür tun?“.
Das 21-seitige Literatur- und Quellenverzeichnis weist aus, dass die Autorin mit ihrer Forschungsarbeit tief in die historische, fachwissenschaftliche und interdisziplinäre Nachschau über Makarenkos Werk eingestiegen ist. Sie aktualisiert ihre Arbeit, indem sie sie ihren ukrainischen Kolleginnen und Kollegen widmet: „Ich hoffe, dass wir eines Tages in Friedenszeiten gemeinsam nach Triby zurückkehren werden“.
Fazit
Ist es sinnvoll und angebracht, im pädagogischen, erziehungswissenschaftlichen Diskurs „Pädagogische Klassiker“ herauszustellen? Natürlich! Denn ein Nachdenken darüber, wie wir geworden sind, wer und was wir sind, ist Grundlage unseres humanen Bewusstseins.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 17.11.2023 zu:
Anke Dreier-Horning: Wie Anton S. Makarenko ein Klassiker der Pädagogik wurde. Zum Stand der Makarenkoforschung in Deutschland. Berliner Wissenschafts-Verlag
(Stuttgart) 2022.
ISBN 978-3-8305-5161-4.
Schriftenreihe des Deutschen Instituts für Heimerziehungsforschung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31516.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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