Thomas Klatetzki, Günther Ortmann (Hrsg.): Organisation und Mythos
Rezensiert von Prof. Dr. Paul Brandl, 01.07.2024

Thomas Klatetzki, Günther Ortmann (Hrsg.): Organisation und Mythos. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2023. 276 Seiten. ISBN 978-3-95832-345-2. D: 39,90 EUR, A: 39,90 EUR, CH: 54,90 sFr.
Herausgeber und Autor:innen:
Thomas Klatetzki war bis 2022 Professor für Organisationssoziologie an der Universität Siegen.
Günther Ortmann war bis 2022 Professor für Führung an der Universität Witten/​Herdecke. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zum Themenbereich.
Dirk Baecker ist Seniorprofessor für Organisations- und Gesellschaftstheorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee.
Timon Beyes ist Professor für Soziologie der Organisation und der Kultur an der Leuphana Universität Lüneburg.
Stefanie Büchner arbeitet am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover.
Alfred Kieser war Professor an der Freien Universität Berlin, der Universität Mannheim, der Zeppelin Universität Friedrichshafen und der Universität Witten-Herdecke.
Maximilian Locher ist Soziologe und Transformationssekretär in der Bezirksleitung der IG Metall Baden-Württemberg.
Maria Moss ist Professorin für Nordamerikastudien an der Leuphana Universität Lüneburg.
Elke Weik, Associate Professor for Organization Studies at the University of Southern Denmark, Department of Business and Management
Bennet van Well ist Senior Consultant und Partner bei Metaplan
Stephan Wolff war Professor für Organisations- und Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim
Thema und Zielsetzung
Die in diesem Buch zusammengetragenen Texte hinterfragen die Organisation abseits des Mainstreams. Sind es Erfindungen, die von Organisationstheoretikern in die Welt gesetzt wurden? Sind es reale soziale Formationen, die sich allerdings der performativen Wirkung von Fiktionen und insbesondere Mythen verdanken. Ausgehend von einem Begriff des Mythos, der diesen nicht auf eine rational leicht zu entlarvende Lüge reduziert, geht die vorliegende Publikation den Mythen des Organisierens und der Organisationen nach.
Inhaltlicher Überblick
Nach einer sehr ausführlichen Einleitung durch die Herausgeber Klatetzki/​Ortmann startet Maria Moss mit einem Überblick über Hans Blumenbergs Konzeption des Mythos. Er versteht den Mythos unter dem Aspekt der Leistungsfähigkeit und weist die Auffassung, dass es sich um eine durch den Logos der Wissenschaft überholte Denkweise handelt zurück. Das Erzählen von Geschichten und das Malen von Bildern knüpft er an eine Voraussetzung, nämlich dass man sich sicher und geborgen fühlt. Diese werden dann selbst zur Wirklichkeit. Der wieder abgedruckte Aufsatz von Alfred Kieser zeigt in den Augen der Herausgeber, wie durch die Rhetorik von Management-Bestsellern eher pejorativ konnotierte Mythen produziert werden. Unter Mythos versteht Kieser „eine letztgültige und deshalb nicht weiter zu begründende Erzählung, in der die Existenz und Geschichte von komplexen Phänomenen auf magische oder göttliche Kräfte zurückgeführt“ werden. Der Herausgeber Günter Ortmann nimmt dann Blumenbergs Höhlenmetapher, um über Anfänge nachzudenken, wobei ihn insbesondere die „status naturalis“ interessieren, auf denen organisationswissenschaftliche Theorien basieren. Er versteht Organisationen als Höhlen oder Höhlenersatzeinrichtungen. Dabei liegt das Hauptinteresse der Luhmannschen Organosationstheorie. Im nächsten Kapitel nimmt Timon Beyes die Bilder des Künstlers und Geographen Trevor Paglen über „black sites“, Orte im Niemandsland, an denen sich Gebäude von Organisationen befinden, deren Strukturen und Technologien nicht eingeweihten Personen unzugänglich sind, zum Ausgangspunkt, um fundamentale Organisationsprinzipien zu thematisieren. Anschließend benutzt Dirk Baecker Karl Weicks Diktum „The word organization is a noun, and it is also a myth“ und dessen theoretische Überlegungen zum Organisieren als Ausgangspunkt für eine semiologische und soziologische Interpretation des Mythos.
Der Herausgeber Thomas Klatetzki nimmt anschließend die Weicksche Aussage, die Organisation sei ein Hauptwort und auch ein Mythos, um einen theoretischen Ansatz vorzustellen, der Organisationen als sprachabhängige Realitäten versteht. Aus der Organisation als einer fiktiven Realität wird eine von dem sprachlichen Handeln von Akteuren abgelöste Realität sui generis, ein Mythos, wenn sie zu einem „believed-in-imagining“ wird. Stephan Wolff geht vor diesem Hintergrund auf zwei Aspekte der Arbeit von March näher ein: Organisation und Organisationsforschung ist selbst ein Mythos und die Bedeutung von Mythen als Interpretationsfolien für Erfahrung und Lernen. Elke Weik unterscheidet in ihrem Beitrag drei Verständnisweisen des Mythos: ein esoterisches Verständnis, eine Sichtweise, dass Mythos ein falsches Wissen ist und ein Ansatz, der den Mythos als eine Wissensform versteht. Stefanie Büchner beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der zunehmenden Relevanz digitaler Technologien in Organisationen. Sie argumentiert, dass für das Verständnis und die Wirkungsweise von Mythen nicht nur deren narrative Struktur, sondern zudem auch abstrakte kulturelle Konzepte relevant sind – etwa das der Potenziale. Abschließend beschäftigen sich Maximilian Locher und Bennet van Well mit der Rolle der Mythen in der Organisationsberatung. Um Verbesserungen zu erzielen, plädieren die beiden Autoren dafür, in der Beratungspraxis problembezogen, induktiv und degeneralisierend vorzugehen. Insgesamt – so die Herausgeber – kreisen die Texte um die Vermutung, dass man in der praktischen und auch theoretischen Beschäftigung mit Organisationen nicht ohne Mythen auskommt.
Diskussion
So schaut die akademische Diskussion aus, wenn ein Maximix von Professoren und Expert:innen mit geballter Kompetenz zusammen ein Fachbuch zum Thema Organisationstheorie und -praxis schreiben. Da liest man sicher nicht in einem Durchlauf das Buch, wohl aber mehrfach die vielfältigen Aspekte – spannend auf welche Perspektiven die Autor:innen da eingehen. – vom „alten“ Professor bis zur „jungen“ Professorin. Die praktische Relevanz der Diskussionen mag von den Leser:innen reflektiert, hinterfragt und beurteilt werden. Die Auseinandersetzung mit neueren, weiterführenden Theorieansätzen scheint als logische Fortsetzung der bisherigen Ansätze der Organisationstheorie zu gelten. Auch die Digitalisierung wird angesprochen. Eine problemorientierte Betrachtung wird einer lösungsorientierten Vorgangsweise der Vorzug gegeben. Die Publikation kann als reflexive Auseinandersetzung auf der Metaebene für besonders interessierte Student:innen und aber auch Lehrende dienen.
Fazit
Ein Buch für reflektierende Nachdenker:innen. Wenn man auf das humane Maß der Quintessenz wartet, dann ist auch die Einleitung mit 23 Seiten relativ lang. Spannend sind die vielfältigen Perspektiven der elf Autor:innen, die manchmal in epischer Breite ausgefaltet werden. Es ist ein Buch, bei dem man beim Lesen nicht immer nach dem Nutzen fragen darf. Frei nach dem Motto: „Zur intellektuellen Durchdringung der Transparenz vulgo Durchschaubarkeit“ – ein Buch der Wissenschaft an und für sich.
Rezension von
Prof. Dr. Paul Brandl
war Professor für Organisationsentwicklung und Prozessmanagement an der FH Oberösterreich, Department für Sozial- und Verwaltungsmanagement und ist Berater insbesondere für die prozessbasierte Optimierung und Neugestaltung von sozialen Dienstleistern
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