Theresa Bechtel, Elizaveta Firsova et al. (Hrsg.): Perspektiven diskriminierungskritischer Politischer Bildung
Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 08.11.2024
Theresa Bechtel, Elizaveta Firsova, Arne Schrader, Bastian Vajen, Christoph Wolf (Hrsg.): Perspektiven diskriminierungskritischer Politischer Bildung.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2023.
224 Seiten.
ISBN 978-3-7344-1552-4.
D: 31,90 EUR,
A: 32,80 EUR.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
Thema
Wie soll politische Bildung auf Diskriminierung reagieren? Der Band geht dieser Frage aus der Perspektive von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern unter einer vorrangig macht- und herrschaftskritischen Perspektive nach. Eine vielschichtige Analyse – so der Anspruch – soll methodisch-didaktische Empfehlungen für die politische Jugend- und Erwachsenenbildung ermöglichen, unter Berücksichtigung der Chancen und Grenzen diskriminierungskritischer Bildungsarbeit.
Herausgeberinnen und Herausgeber
Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind im Mittelbau am Institut für Didaktik der Demokratie an der Universität Hannover tätig. Theresa Bechel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin mit dem Forschungsschwerpunkt Vergesellschaftung und Rassismuskritik. Elizaveta Firsovas Forschungsschwerpunkte gelten der Wirkungsforschung, dem deutsch-israelischen Jugendaustausch und israelbezogenem Antisemitismus. Arne Schrader ist neben seiner Tätigkeit am genannten Institut zugleich wissenschaftlicher Mitarbeiter an der MSB Medical School Berlin, ferner tätig am Demokratiezentrum Wien. Bastian Vajen ist parallel wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hannover; seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Vorstellungsforschung und im Bereich der „citizenship studies“. Christoph Wolf ist als Post-doc am genannten Institut in Hannover tätig.
Kontext
Der Sammelband geht auf eine am Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz-Universität Hannover durchgeführte Onlinenachwuchstagung der Gesellschaft für politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) zurück. Diese hatte sich im Frühjahr 2021 mit der Frage beschäftigt: Quo Vadis diskriminierungskritische Politische Bildung? Im Vordergrund stand der Austausch über einschlägige Promotions- und Forschungsprojekte, ergänzt um Beiträge weiterer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Der vorliegende Band versteht sich als Ergänzung zu einer Publikation im Zusammenhang mit einer Nachwuchstagung im Jahr zuvor, publiziert unter dem Titel „Heterogenität in der politischen Bildung“ (herausgegeben von Anja Bonfig und Elia Scaramuzza; Frankfurt am Main 2021).
Aufbau
Der Band, der insgesamt dreizehn Beiträge umfasst, gliedert sich in zwei große Hauptteile:
- I. Kategorien struktureller Diskriminierung
- II. Bildungsperspektiven auf strukturelle Diskriminierung
Vorgeschaltet ist eine längere Einleitung der Herausgeberinnen und Herausgeber zum Hintergrund sowie zum Aufbau des Bandes.
Die beiden Hauptteile des Bandes werden jeweils durch die Beiträge der Keynotespeakerinnen auf der genannten Tagung eröffnet: Teil I wird eröffnet durch Astrid Messerschmidt, Erziehungswissenschaftlerin und Andragogin an der Universität Wuppertal. Ihr Beitrag trägt den Titel: Fremd machen – Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus als Themen Politischer Bildung in der Migrationsgesellschaft. Teil II beginnt mit einem Beitrag von Tatiana Zimenkova und Mareike Fröhlich, beides Soziologinnen an der Hochschule Rhein Waal, mit dem Titel: Konzepte des Zusammenhalts in der Politischen Bildung: zwischen politischer Normativität und Empowerment.
Der Band wird durch einen Autorenspiegel beschlossen.
Inhalt
Im Folgenden werden aus den beiden Hauptteilen des Bandes jeweils die Eröffnungsbeiträge und jeweils zwei weitere Anschlussbeiträge vorgestellt.
I. Kategorien struktureller Diskriminierung
Astrid Messerschmidt geht es in ihrem Eröffnungsbeitrag um die kritische Aufarbeitung der Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Das Verhältnis zwischen Rassismus und Antisemitismus sei gegenwärtig zum Streitfall um eine angemessene Erinnerungskultur in einer globalisierten Welt geworden, möglicherweise sogar vergleichbar mit dem Historikerstreit der Achtzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Thema hat durch die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten und die darauf bezogenen Proteste in Deutschland seit dem Erscheinen des Bandes noch weiter an Brisanz gewonnen. Die Autorin plädiert in diesem Zusammenhang für einen verstärkten Austausch zwischen postkolonialer bzw. dekolonialer Kritik und Antisemitismuskritik. Zusammen mit dem Antiziganismus lassen sich nach Messerschmidts Ansicht nach auf diese Weise drei fremd machende Denkmuster mit Sexismus in interseektionaler Betrachtung ideologiekritisch verbinden: „Jede dieser Ideologien imaginiert ein Gegenbild, das nichts mit der Wirklichkeit derer zu tun hat, gegen die sich diese Denkmuster richten. Eher handelt es sich um Beharrungstechniken für Selbstbilder, die die eigene Natürlichkeit und Anständigkeit behaupten“ (S. 25). Wie soll die politische Bildung in der Migrationsgesellschaft darauf reagieren? Problematisch erscheint der Autorin das „Nie-wieder“-Paradigma, das suggeriere, als sei das Selbstbild der früheren Ideologien bereits überwunden. Heute erfülle der kulturalistische Rassismus, so Messerschmidt, die Funktioin zwischen einem nationalen Wir und den anderen zu trennen. Die politische Bildung sollte nicht allein auf die antithetische Unterscheidung zwischen Demokratie und Diktatur achten, sondern verstärkt die alltäglichen Erfahrungen von Rassismus und Alltagsrassismus in den Blick nehmen.
Christoph Wolf nimmt in seinem Beitrag – auf Basis von Lehrerinterviews – Antisemitismus als Gegenstand des Politikunterrichts in den Blick, einsetzend mit der Einschätzung für Niedersachsen, dass das Thema nur einen geringen Stellenwert im Fach einnehme. Gleiches gelte für den Nahostkonflikt. Die Beschäftigung mit diesem hänge in starkem Maße vom Engagement einzelner Lehrkräfte ab. Als Gründe nennt der Beitrag etwa eine fehlende Verankerung im Rahmen der Lehrerausbildung oder eine Verunsicherung der Lehrkräfte angesichts der normativ aufgeladenen Debatte. Eine verstärkte inhaltliche Aus- und Weiterbildung zu den Themen müssen „neben der Wissensvermittlung auch zentrale Aspekte antisemitismuskritischer Bildung, wie das Reflektieren eigener antisemitischer Fragmente, Ressentiments und Wissensbestände“ (S. 38) berücksichtigen.
„Nationendenken im Kontext Politischer Bildung“ lautet der Beitrag von Theresa Bechtel. Die Autorin benenent einleitend ihre Ausgangsthese: „Die plurale, demokratische Gesellschaft ist auf die gleiche Teilhabe ihrer Subjekte angewiesen – aus nationalistischen Perspektiven heraus resultierende unterschiedliche Grade der Mitgliedschaft stellen damit eine Schieflage dar, die politische Bildung adressieren sollte“ (S. 101). Nationalismus konkretisiere sich dabei besonders stark in integrationspolitischen Diskursen. Dem Konzept Nation sei eine Homogenisierungslogik inhärent. Nationaler Identität werde in Studien ein seit Jahren stabiler Zustimmungswert nachgewiesen. In der postmigrantischen Gesellschaft sei es allerdings wichtig, dass die notwendigen Aushandlungsprozesse so geführt würden, dass sie mehr Durchlässigkeit und Offenheit gegenüber Einwandererbiograpien zur Folge hätten. Eine migrationspolitische Bildung sollte die inhärenten Problemgehalte und Exklusionspraktiken von Nation thematisieren: „Damit sollte die Nation in der politischen Bildung notwendigerweise stärker betont und in problem-, konflikt- und subjektorientierter Perspektiven als Gegenstand von Bildungsprozessen in den Blick genommen werden“ (S. 112).
II. Bildungsperspektiven auf strukturelle Diskriminierung
Tatiana Zimenkova und Mareike Fröhlich wollen in ihrem Hauptbeitrag der normativen Rahmumg der Kategorie Zusammenhalt und dem damit verbundenen Potenzial für die politische Bildungsarbeit nachgehen. Die Überlegungen nehmen kritisch das Dortmunder Projekt „ZusammenhaltsNarrative Miteinanander erarbeiten“ (ZuNaMi) in den Blick. Inwiefern könne, so die Frage der Autorinnen, ein mit normativen Begriffen arbeitendes Projekt dem Selbstverständnis einer sich dezidiert diskriminierungskritisch verstehenden politischen Bildungsarbeit entsprechen. Zentral sei gewesen, dass im Projekt die lebensweltliche Expertise der Teilnehmenden als zentraler Teil der Auseinandersetzung in den Workshops wahrgenommen und in den Mittelpunkt gestellt worden sei. Diskrimierungskritische Bildungsarbeit müsse nicht nur die Inhalte, die bearbeitet werden, und die damit verbundenen historischen, gesellschaftlichen und epistemischen Machtstrukturen kritisch befragen, sondern auch die konkrete praktische Durchführung: „Um Hierarchien zwischen den Teilnehmenden und den Implementierenden zu minimieren, bedarf es einer Problematisierung davon, was als Wissen anerkannt wird“ (S. 129). Wenn dies gelingt, könne eine so verstandene Bildungsarbeit die Teilnehmenden motivieren, die Bildungsarbeit selbst kritisch zu befragen. Und dies heißt nicht zuletzt: die Hierarchie der Lernsituation zu dekonstruieren – ein zentrales Moment angestrebten Empowerments. Für die Lehrenden bedeutet dies, dass sie nicht schon mit einem „perfekten“ Konzept der politischen Bildung in die pädagogische Auseinandersetzung gehen müssten – ein entlastendes Moment. Aber sie müssen in der Lage sein, ihre eigene Machtposition zu erkennen und kritisch zu reflektieren.
Franziska Wittau und Thomas Overberg beschäftigen sich mit Narrationen in der ungleichheitssensiblen Politischen Bildung und rücken damit das Thema Klassismus in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Narrationen seien sowohl als Produkt als auch als Prozess zu verstehen: „Der Einsatz von Narrationen in politischen Bildungsprozessen trägt […] dazu bei, einen verstehenden statt bloß reproduzierenden Zugriff auf das Politische zu eröffnen“ (S. 140). Expliziert wird an der Arbeit mit dem autosoziobiographischen Roman „Ein Mann seiner Klasse“, wie eine literarische Annäherung an Klassismus zur politischen Teilhabe befähigen könne. Klassismussensible Bildungsarbeit, so das Autorenduo in seinem Fazit, sollte sich sowohl an Lernende wenden, die selber benachteiligt sind, als auch an jene, die nicht dazu zählen. Mindestens könne so eine defizitorientierte, stereotypisierende Auseinandersetzung vermieden werden. Ferner könnte eine Reflexion über die eigenen Muster, die dazu beitragen, solche Auseinandersetzungen zu reproduzieren, angestoßen werden.
Susanne Rentsch geht in ihrem Beitrag der aktuellen Herausforderung Künstlicher Intelligenz (KI) nach. Steht diese doch im Verdacht, Diskrimnierungen, Stereotypen und andere Exklusionsmechanismen digital zu vervielfältigen statt abzubauen. Die Autorin bestätigt diese Befürchtung an konkreten Beispielen: z.B. sexistische Einstellungsalgorithmen bei Amazon, Bevorzugungsmechanismen bei Weiterbildungsangeboten von Arbeitsämtern, rassistische Patientenauswahl im Gesundheitssystem. Politische Bildung müsse sich diesen Herausforderungen stellen – und tue dies noch zu wenig. Aber Rentsch sieht auch Chancen: Diskriminierende KI biete die Möglichkeit, mit Scham, Wut oder Abwehr besetzte Themen auf einer abstrakteren Ebene anzusprechen und so bearbeitbar zu machen.
Diskussion
Die Stärke des vorliegenden Bandes ist zugleich seine Schwäche: Auf der einen Seite vermittelt er eine aktuelle, durch die Länge der Beiträge prägnante Übersicht zum Selbstverständnis, den aktuellen Themen und künftigen Herausforderungen diskriminierungskritscher politischer Bildung. Quo vadis politische Bildung? Wer auf diese Frage Antworten sucht, ist mit dem Band bestens beraten.
Auf der anderen Seite bewegen sich die versammelten Beiträge auf einem ähnlichen disziplinären Selbstverständnis. Der Grund hierfür mag nicht zuletzt darin zu suchen sein, dass der Band im Rahmen einer Fachgesellschaft entstanden ist und der Herausgeberkreis an einem gemeinsamen Institut angesiedelt ist. Kontroversen zwischen unterschiedlichen Positionen sollte nicht erwarten, wer den Band zur Hand nimmt. Die Auseinandersetzung mit Nation mag hier pars pro toto stehen. Jüngere Entwicklungen innerhalb der politischen Ethik und Philosophie, das positive Potenzial von Nation wieder stärker zu würdigen (wie dies etwa beispielhaft Francis Fukuyama in seinem Band „Idenität“ vorgemacht hat) und nicht allein defizitorientiert daran heranzugehen, werden im vorliegenden Band nicht aufgegriffen. Und so bleibt eine Frage offen: Welche positiven Leitbilder kann politische Bildung anbieten, wenn es um gesellschaftlichen Zusammenhalt und politsche Stabilität geht, gerade auch dann, wenn politische Institutionen möglicherweise versagen?
Die thematische Bandbreite des Bandes ist groß und greift aktuelle gesellschaftliche Themen auf. Kritik sollte immer auch Selbstkritik bzw. Selbstreflexion einschließen. Hierzu gibt der Band allen, die in der schulischen oder außerschulischen politischen Bildung tätig sind, deutliche Anregungen. Möglicherweise wäre es spannend gewesen, Tagung und Band am Ende noch durch eine bilanzierende Tagungsbeobachtung und Kommentierung anzureichern. Dabei hätte vielleicht auch das Folgende reflektiert werden können: (Fach-)didaktisch fällt auf, dass die Beiträge nach einer Hochphase der Kompentenzorientierung von (Unterrichts-)Gegenständen der politischen Bildung sprechen. Eine Vertiefung, was ein Gegenstand in der politischen Bildung ist oder sein sollte und wie sich die Gegenstände zu den Kompetenzen verhalten, die diskriminierungskritische politische Bildung fördern soll, wäre weiterer Überlegungen wert.
Fazit
Der Band bietet eine prägnante Bestandsaufnahme zum gegenwärtigen Stand diskrimierungskritischer Bildung, verzichtet allerdings bei seiner Anlage auf interne Kontroversen.
Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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Zitiervorschlag
Axel Bernd Kunze. Rezension vom 08.11.2024 zu:
Theresa Bechtel, Elizaveta Firsova, Arne Schrader, Bastian Vajen, Christoph Wolf (Hrsg.): Perspektiven diskriminierungskritischer Politischer Bildung. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2023.
ISBN 978-3-7344-1552-4.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31522.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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