Oliver Tobias Zetsche, Florian Johanning et al. (Hrsg.): Pädagogik in der Forensik
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 14.02.2025

Oliver Tobias Zetsche, Florian Johanning, Michael Lasthaus, Luis Gonzalez-Casin (Hrsg.): Pädagogik in der Forensik. Praxisbezogene Einblicke in die Bildungsarbeit im Maßregelvollzug.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2023.
239 Seiten.
ISBN 978-3-7344-1519-7.
D: 31,90 EUR,
A: 32,80 EUR.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
Thema
Patient*innen des Maßregelvollzugs (MRV) nach §§ 63, 64 StGB weisen u.a. prekäre Bildungsbiografien auf. Verschiedene Ansätze der Bildungsarbeit (in den Ebenen Schule, Beruf, Freizeit) gelten als sinnvoller Baustein der stationären Therapie untergebrachter psychisch und suchtkranker Straftäter*innen. Ein einheitliches pädagogisches Hilfskonzept hat sich allerdings in der Forensischen Psychiatrie in Deutschland bislang nicht etablieren können. Der Herausgeberband will diese Lücke mit Erfahrungsberichten, praktisch-methodischen Hinweisen und ersten Evaluationsergebnissen zur Bildungsarbeit im MRV schließen.
Herausgeber und Autor*innen
Die Herausgeber arbeiten in unterschiedlichen pädagogischen Positionen in deutschen Maßregelvollzugseinrichtungen, bzw. als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Berufsbildungswerk (Dr. Zetsche).
Aufbau und Inhalt
Der als Handbuch konzipierte Band ist in fünf Abschnitte unterteilt, welche die Aspekte
- Rahmenbedingungen
- Alphabetisierung und Grundbildung
- Schulabschlüsse (Schulische Bildung)
- Freie Bildungsprojekte
- Evaluation
thematisieren.
Rahmenbedingungen
Der erste Abschnitt gibt einen Überblick über den Bundesverband Pädagogik in der Forensik (Maßregelvollzug) e.V. (der maßgeblich am Erscheinen der Publikation beteiligt ist), thematisiert grundsätzliche Aspekte der Bildungsarbeit im MRV und wirft einen zeitgeschichtlichen Blick auf die Bedingungen pädagogischer Handlungsfelder im MRV, dargestellt an der Entwicklung in der Maßregelvollzugsklinik am Landeskrankenhaus Moringen in Niedersachsen. Die Beiträge verdeutlichen, dass die Geschichte pädagogischer Arbeit im MRV eine historisch eher kurze Spanne umfasst (der erste hauptamtliche Pädagoge im Deutschen MRV wurde 1977 eingestellt), die Aktivitäten des Bundesverbandes Pädagogik einen erheblichen Beitrag zur Standardisierung pädagogischer Methoden beitrugen und die Rahmenbedingungen vor allem durch die bestehenden Defizite der untergebrachten Straftäter*innen geprägt werden.
Alphabetisierung und Grundbildung
Der zweite Abschnitt besteht aus zwei Beiträgen zur Alphabetisierung und Grundbildung im Maßregelvollzug und reformpädagogischen Ansätzen in der forensischen Bildungsarbeit. Dargestellt werden hier Methoden in der Bildungsarbeit mit kognitiv schwer beeinträchtigten Patient*innen in Kliniken des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Lippstadt-Eickelborn, Herne und Dortmund, sowie die Umsetzung des reformpädagogischen Bildungsansatzes nach Maria Montessoris im MRV.
Schulabschlüsse
Schul- und berufsbezogene Bildungsarbeit ist das Thema des dritten Abschnitts. Vorgestellt werden verschiedene innerklinische Schulkonzepte, die Kooperation mit externen Schulformen und ein Erfahrungsbericht schulischer Bildungsarbeit aus der Forensischen Klinik Weissenhof in Baden-Württemberg. Im Vordergrund stehen hier vor allem Ansätze zur nachträglichen Erlangung von Schulabschlüssen.
Projektorientierte pädagogische Angebote
Unter einem weiter gefassten Bildungsbegriff werden im Folgeabschnitt verschiedene Bildungsprojekte im forensischen Kontext vorgestellt: Erlebnis- und erfahrungspädagogische Projekte, Freizeitangebote, ein Theaterprojekt im Landeskrankenhaus Moringen/Niedersachsen, Lesegruppen, Schreibwerkstatt, Musikgruppen, Bewerbungstraining und themenzentrierte Interaktionsgruppen in Form von länger angelegten Projektwochen und Themeneinheiten.
Evaluation
Beispielhaft für die Erfassung von Wirkeffekten forensischer Bildungsarbeit erfasst ein Textbeitrag im letzten Kapitel die Ergebnisse und Auswirkungen eines Hauptschulabschlusskurses im MRV Leipzig. Die Ergebnisse aus diesem Evaluationsprojekt belegen einen manchmal deutlichen, gelegentlich schwächeren positiven Wirkeffekt in den unterschiedlichen Schulfächern (Deutsch, Mathematik, Aufmerksamkeit/Konzentration). Der Text endet mit einem zweiseitigen Fazit, das den aktuellen Stand forensisch-pädagogischer Bildungsarbeit (es gibt keine standardisierten Testverfahren im Bereich pädagogischer Diagnostik, hoher Bildungsbedarf auf Patient*innenebene, fehlende Evaluationsprojekte im MRV, Entwicklungsbedarf der „Straffälligen-Pädagogik“ und Anschluss an den Bereich der Sonderpädagogik) zusammenfasst und im Literaturverzeichnis die -übersichtliche- Literaturlage zu diesem Themenfeld erschließt.
Zielgruppe des Buches
Pädagogische Berufsgruppen im Maßregelvollzug, Verantwortliche in Politik, Verwaltung und Klinikleitungen.
Diskussion
In den Deutschen Maßregelvollzugseinrichtungen sind schwer psychisch und/oder suchtkranke und erheblich straffällig gewordene Menschen untergebracht. Der Störungshintergrund ist enorm: chronifizierte oft ungünstig verlaufende Erkrankungen, Multimorbidität, umfangreiche Ausgrenzungserfahrungen und geringe Teilhabechancen. Forensische Kriminaltherapie zielt auf Stabilisierung der Grunderkrankung und dadurch Reduktion der Gefährlichkeit bzgl. Delinquenz. Bildungsarbeit ist in diesem Zusammenhang keine Ergänzung, sondern elementarer Bestandteil von Selbstermächtigung, Entwicklung und Resozialisierung. Der Herausgeberband von Zetsche et al. ist als Praxishandbuch konzipiert und zeigt, welche unterschiedlichen Ansatzpunkte und Methoden Erwachsenenbildung im schwierigen Umfeld einer forensischen Klinik bestehen. Ein wichtiger Beitrag zur Weiterentwicklung pädagogischer Angebote im MRV. Deutlich wird aber auch, dass der Beitrag „der Pädagogik“ im MRV bisher unter den eigentlichen Möglichkeiten bleibt, auch wenn in den letzten Jahren mehr Kolleg*innen dieser Berufsgruppe in den Forensischen Kliniken angestellt wurden. Der Entwicklungsbedarf hinsichtlich Bandbreite der Methoden und der Auswertung (Evaluation) und damit die Chance den Stellenwert von Bildungsarbeiten im Kontext kriminaltherapeutisch-forensischer Interventionen darstellen zu können ist enorm. „Pädagogik in der Forensik“ leistet hier einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, womit der Zielgruppe, marginalisierten schwer erkrankten Menschen Bildungschancen eröffnet werden, welche ein wichtiger Baustein für Selbstverwirklichung und Resozialisierung sind.
Fazit
Das Praxishandbuch erschließt unterschiedliche Ansätze und Methoden schulischer, beruflicher und freier Bildungsarbeit und zeigt beispielhaft, wie solche Interventionen evaluiert werden können. Ein wichtiger Baustein in der Professionalisierung der „Pädagogik in der Forensik“.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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