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Victoria Kumar, Werner Dreier et al. (Hrsg.): Antisemitismen

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 06.05.2025

Cover Victoria Kumar, Werner Dreier et al. (Hrsg.): Antisemitismen ISBN 978-3-7344-1456-5

Victoria Kumar, Werner Dreier, Peter Gautschi, Nicole Riedweg, Linda Sauer et al. (Hrsg.): Antisemitismen. Sondierungen im Bildungsbereich. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2022. 270 Seiten. ISBN 978-3-7344-1456-5. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR.
Reihe: Antisemitismus und Bildung.

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Thema

Auf die Frage, was sich nach dem 7. Oktober 2023 – dem genozidalen Massaker an der israelischen Bevölkerung durch die Terrororganisation Hamas – für die Bildungsarbeit gegen Antisemitismus an Schulen und Hochschulen geändert hat, gibt es eine ebenso simple wie wenig befriedigende Antwort: Nichts, dies aber in potenzierter Form. Die Herausforderungen waren schon lange vorher bekannt. Die Diskrepanz zwischen der hohen Virulenz des Antisemitismus und der dramatischen Hilflosigkeit von Schulen und Hochschulen im Umgang damit konnte niemand übersehen, der sich mit der Sache beschäftigt. Dies zeigt auch der hier zu besprechende Band, der vor der historischen Zäsur des 7. Oktobers publiziert wurde. In ihm kommen renommierte Antisemitismusforscher:innen und antisemitismuskritische Praktiker:innen zu Wort. Sie stellen das Problem dar und entwerfen Handlungsperspektiven für Schulen und Hochschulen, deren Umsetzung nach dem 7. Oktober an Dringlichkeit noch gewonnen hat.

Entstehungshintergrund und Herausgeber:innen

Der Band ist aus dem von der International Holocaust Remembrance Alliance geförderten Projekt „Gegen Antisemitismus an Schulen und Hochschulen“ (2020-2022) hervorgegangen. Ziel des Projekts war die Unterstützung von Institutionen der Lehrer:innenbildung bei der Qualifizierung von Lehrpersonen im Umgang mit Antisemitismus und Holocaust Distortion (Holocaust-Verharmlosung und -Verzerrung). An der Umsetzung waren drei Institutionen beteiligt: _erinnern.at_(Österreich), das Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern (Schweiz) und die Geschäftsstelle des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus (Bayern). Neben Victoria Kumar haben Werner Dreier, Peter Gautschi, Nicole Riedweg, Linda Sauer und Robert Sigel den Band herausgegeben.

Aufbau

Nach einer problemorientierten Einführung bilden 22 Interviews mit Expert:innen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen den Hauptteil des Buches. Im Schlussteil werden Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen und Hochschulen formuliert.

Alle Interviews folgen der gleichen Struktur: Einleitend werden die persönlichen Erfahrungen erfragt, die die Expert:innen innerhalb ihrer jeweiligen Bildungseinrichtung mit Antisemitismus haben. Dann folgt die Thematisierung des Umgangs mit Antisemitismus in den Einrichtungen. Gefragt wird nach Präventions- und Interventionsstrategien sowie speziellen Handlungskonzepten. Welche Schulfächer und welche Lernalter sich für welches didaktische Format als geeignet erweisen, wie angehende Lehrer:innen die Formate zielführend einsetzen können, wie eine Verankerung von Antisemitismuskritik in den Curricula und Lehrplänen aussehen könnte und welche fachlichen Befähigungen Lehrpersonen mitbringen müssen, um Antisemitismus in seiner Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit erfassen und kritisch vermitteln zu können, ist Thema eines weiteren Frageblocks. Abschließend wird den Interviewten Raum gegeben, Hoffnungen, aber auch Befürchtungen zu formulieren.

Inhalt

Exemplarisch sollen hier drei Interviews inhaltlich näher dargestellt werden.

Alphabetisch geordnet steht das Gespräch mit Julia Bernstein am Anfang. Auch inhaltlich ist dies ein guter Auftakt, hat doch die an der Frankfurt University of Applied Sciences tätige Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft mit ihrer großen Studie über „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“ (2020) die wissenschaftliche Diskussion über den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus maßgeblich mitbestimmt und vorangetrieben. Bernstein begreift Schulen und Hochschulen als Spiegel der Gesellschaft. In ihnen ist Antisemitismus genauso wie in allen anderen Institutionen wiederzufinden. Historisch über Jahrhunderte gewachsen und kulturell tief verankert reproduziert sich die antisemitische Struktur wie selbstverständlich und oft unbewusst in vielen Kleinigkeiten des Alltags – auch an Schulen und Hochschulen. Bernstein illustriert dies an Beispielen aus dem Schulalltag: vom Unverständnis der Lehrer:innen, dass die Nutzung von „Jude“ als Schimpfwort ein Problem ist, bis hin zu der weitverbreiteten Gleichsetzung von Israel mit Nazi-Deutschland als dem absolut Bösen im Gewande der „Israelkritik“. Hinzukommt, und dies besonders in Deutschland, dass Gefühlserbschaften postnazistisch tradiert werden, weil die familiären Verstrickungen in die Organisation und Durchführung der Shoah bis heute selten thematisiert und noch seltener selbstreflexiv bearbeitet werden. Das Unbehagen, das Kinder und Kindeskinder von Täter:innen und Mitläufer:innen auch heute noch im Umgang mit Jüdinnen und Juden spüren, verweist auf Unbewusstes und Verdrängtes. „Man sollte sich bewusst werden“, so formuliert Bernstein, „dass Antisemitismus noch sehr viel mit Scham und Schuld verbunden ist […]. Das Selbstbild, die Bindung zu und das Bild der eigenen Familie, bei der man ahnt, dass sie im Nationalsozialismus verstrickt gewesen ist, aber es nicht konkret wissen und glauben möchte – das ist wirklich zentral für die heutige Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Wenn man genau verstanden hätte, wie es im Alltag, in der eigenen Familie klein anfängt, hätten heute nicht erst nach Halle die Glocken geklingelt, sondern man hätte viel früher Antisemitismusanteile im eigenen Umfeld erkannt“ (S. 38). Genau hier müsse antisemitismuskritische Bildungsarbeit ansetzen. Sie sollte biographie- und erfahrungsbezogen arbeiten, und dies primär mit den Lehrpersonen selbst, die in der Regel so wenig frei von Abwehr- und Distanzierungsmustern sind wie ihre Schüler:innen auch. Bewährt habe sich überdies, Repräsentant:innen der zweiten, dritten und vierten Generation der Überlebenden im Unterricht über ihre Lebenssituation sprechen zu lassen, sie also erzählen zu lassen, „wie es ist, als Jüdin oder Jude in Deutschland als Post-Shoah-Land zu leben“. Als erfolgreich könne die Arbeit gegen Antisemitismus dann bewertet werden, wenn es tatsächlich zu einer Verantwortungsübernahme bei den Nachfahren der Täter:innen komme: „Es wäre viel wert, wenn man [bei verbalen antisemitischen Attacken] zum Beispiel sagen würde: ‚Ich bin auch ein Deutscher und schäme mich, dass solche Sprüche in meinem Umfeld getätigt werden, weil es für mich persönlich wichtig ist, nach der Shoah die menschliche Würde an die höchste Stelle zu setzen, entschieden gegen Antisemitismus zu agieren und das freie jüdische Leben zu unterstützen! So verstehe ich in der Praxis meine Verantwortung als Deutscher!‘“ (S. 39). Eine solche Haltung allerdings ist noch immer viel zu selten, es überwiegen auch heute Schweigen, Indifferenz und moralische Distanznahme.

Wie Julia Bernstein gehen auch Marina Chernivsky und Romina Wiegemann, die beide leitend am Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung in Trägerschaft der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. tätig sind, davon aus, dass Antisemitismus ein totales soziales Phänomen ist, also in allen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen ist. Entsprechend kritisch sehen sie eine Verengung antisemitismuskritischer Bildungsformate auf bestimmte gesellschaftliche (Alters-)Gruppen, z.B. Jugendliche. Entschieden plädieren Chernivsky und Wiegemann für den Perspektivenwechsel hin zu den Erfahrungen von Jüdinnen und Juden. Erst durch ihn werde Antisemitismus als aktuelles gesellschaftliches Phänomen in seiner ganzen Breite und Tiefe sichtbar und als „Gewaltverhältnis“ fassbar, „welches gegenüber anderen Ideologien seine eigenen Ursprünge und Strukturen aufweist“ (S. 54). Sinnvoll sei eine „zweigleisige Vorgehensweise“, die einerseits die Intersektionalität von Antisemitismus und Rassismus thematisiere und andererseits die Spezifik des Antisemitismus wie auch antisemitismuskritischer Bildungsansätze nicht aus dem Blick verliere. Auch Chernivsky und Wiegemann betonen, dass es Bildungskonzepten im schulischen Kontext häufig an einem Verständnis der „Bedeutung von Gefühlserbschaften und [der] Komplexität der Postmigrationsgesellschaft im Umgang mit Geschichte und Gegenwart“ (S. 55) mangele. Genau hier bestehe ein großer konzeptioneller Nachholbedarf für eine antisemitismuskritische Bildung. Gemessen an dem, was aus Sicht der von Antisemitismus betroffenen Menschen notwendig ist, sei die Situation an Schulen und Hochschulen nach wie vor äußerst unbefriedigend. Häufig fehle es an einem wirksamen Beschwerdemanagement ebenso wie an einer Handlungsstrategie im curricularen und institutionellen Bereich.

„Das kann immer noch in Wien passieren“, heißt ein bekanntes Buch (2001) von Ruth Wodak über Alltagsantisemitismus. Aber natürlich weiß die emeritierte Professorin für angewandte Sprachwissenschaften und kritische Diskursanalyse ganz genau, dass antisemitische Invektiven sie fast überall auf der Welt treffen können. „Unvergesslich“ allerdings bleibe ihr, so Wodak, ein Lehrer aus einer Lehrer:innenfortbildung an der Universität Wien, „der mich zunächst fragte, welches Parfüm ich verwende; und dann nach meiner Antwort sagte: ‚Und ich dachte, Juden stinken immer‘“ (S. 223). Nicht immer so offen, aber keineswegs selten sind antisemitische Ressentiments auch heute wieder. Mit Verweis auf Adornos Studie zum autoritären Charakter begreift Wodak Antisemitismus als „Archetypus von ausgrenzenden und diffamierenden Vorurteilen“. Deshalb sei es in einer Postmigrationsgesellschaft wie der Österreichs wichtig, in der Bildungsarbeit „an Diskriminierungserfahrungen von allen hier lebenden Minderheiten anzuknüpfen“. Daneben aber gelte es, die Spezifik der gegenwärtigen Formen des Antisemitismus ebenso wenig zu vernachlässigen wie das Thema „Israel“: „Da gerade dieses Thema oft hochgradig emotionalisiert diskutiert wird, sind Aufklärung und Sachlichkeit besonders gefordert“. Könne es davon gar nicht genug geben, so bleibt doch Ruth Wodaks Fazit äußerst pessimistisch: „Ich selbst habe angesichts der jahrtausendealten Geschichte des Antisemitismus, der in immer neuen (und alten) Formen hervorkriecht, keine Hoffnung auf eine positive Veränderung“ (S. 229).

Auf der Grundlage der in den Interviews dargestellten Problemdimensionen und Perspektiven formulieren die Herausgeber:innen im Schlussteil des Bandes sechzehn Thesen zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen und Hochschulen. Diese reichen von der Fachdidaktik bis zu den Hochschulgesetzen, von der Qualifizierung des Lehrpersonals über die Implementierung antisemitismuskritischer Bildung im Curriculum, der Einführung eines nachhaltigen Case-Managements bis hin zu einer institutionellen Gesamtstrategie, die auf der Makro-, Meso- und Mikroebene gleichermaßen ansetzt. Wenn man tatsächlich etwas gegen Antisemitismus an Schulen und Hochschulen erreichen will, ist ein Engagement auf allen Ebenen notwendig.

Diskussion

Durch das niedrigschwellige Format der strukturierten Interviews bekommt der Band den Charakter eines leicht zugänglichen Lesebuchs, das mosaikförmig Elemente einer gegenwartsbezogenen Antisemitismusanalyse wie auch einer antisemitismuskritischen Bildungsarbeit zusammenträgt. Insbesondere Praktiker:innen an Schulen und Hochschulen bietet das Buch eine Fülle von Perspektiven und Orientierungen, die durch die Handlungsempfehlungen im Schlussteil einen hohen Konkretionsgrad gewinnen.

Fazit

Das Buch ist allen zu empfehlen, die nach wirksamen Handlungsstrategien im Umgang mit Antisemitismus an Schulen und Hochschulen suchen. Von der Problemanalyse bis hin zur konkreten Handlungsempfehlung bietet es in leicht zugänglicher Weise eine Vielzahl von Einblicken und Impulsen.

Literatur

Bernstein, Julia (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Analysen – Befunde –Handlungsoptionen. Weinheim/​Basel: Beltz Juventa.

Wodak, Ruth (Hg.) (2001): Das kann immer noch in Wien passieren. Alltagsgeschichten. Wien: Czernin

Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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Es gibt 24 Rezensionen von Wolfram Stender.

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ISSN 2190-9245