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Georg Theunissen: Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen

Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 02.01.2024

Cover Georg Theunissen: Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen ISBN 978-3-7841-3544-1

Georg Theunissen: Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen. Lehrbuch für die Heilerziehungspflege, Heilpädagogik und (Geistig-) Behindertenhilfe. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2022. 2. Auflage. 376 Seiten. ISBN 978-3-7841-3544-1. D: 27,00 EUR, A: 27,80 EUR.
Reihe: Inklusion.

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Thema

In den letzten Jahren sind zahlreiche Publikationen über hochfunktionale Personen aus dem Autismus Spektrum erschienen. Dabei ist festzustellen, dass der Personenkreis mit (schweren) mehrfachen, sensorischen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen in diesen Veröffentlichungen unterrepräsentiert ist. Um dieses Ungleichgewicht zu verändern erschien nun dieses Lehrbuch für die Heilerziehungspflege und Heilpädagogik mittlerweile 2022 in 2. Auflage.

Autor

Verfasser des Buches ist der Universitätsprofessor Dr. Georg Theunissen (i.R.), Jg.51 Diplom-Pädagoge und Heilpädagoge. Er war von 1994 bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik bei kognitiver Beeinträchtigung und seit 2012 Inhaber des zusätzlichen Lehrstuhls für Pädagogik im Autismus-Spektrum, damit Gründer des 1. Lehrstuhls für Pädagogik bei Autismus im deutschsprachigen Raum am Institut für Rehabilitationspädagogik der Universität Halle-Wittenberg. Theunissen hat zahlreiche Artikel und Bücher veröffentlicht und intensiv in den USA geforscht

Der Buchumschlag wurde von Gee Vero gestaltet. Sie ist Initiatorin des internationalen Projektes Art of Inklusion und lebt selber unter den Bedingungen von Autismus. Gee Vero hat 2014 das Buch „Autismus (m)eine andere Wahrnehmung“ veröffentlicht (Rezension dazu).

Aufbau und Inhalt

Das vollständige Inhaltsverzeichnis findet sich auf der Homepage der Deutschen Nationalbibliothek.

Das Buch ist im Softcover Format erschienen und hat einen Umfang von 376 Seiten, die sich in drei umfangreiche Kapitel plus Anhang sowie in zahlreiche Unterkapitel gliedern. Am rechten oberen Rand ist die Kapitelüberschrift gedruckt, am linkeren oberen Rand der Titel des jeweiligen Unterkapitels. Der Inhalt ist strukturiert. Der Fließtext enthält zahlreiche farbige Textboxen (mit Bezeichnungen wie Merkbox, Beispiel, pädagogischer Hinweis) sowie Tabellen mit Vergleichen z.B. zwischen Autismus und ADHS. Der Verlag stellt die Möglichkeit zur Verfügung, das Buch kostenlos auf smartphone, tablet oder PC zu laden (Aktivierungscode und Passwort sind im Buch abgedruckt).

Mit diesem Buch verfolgt Theunissen das Anliegen, den Personenkreis mit unterdurchschnittlicher Intelligenz in den Blick zu nehmen, der – das haben Meta-Analysen herausgefunden – in der Forschung zum Autismus Spektrum marginalisiert wird. Die Auswertung von 301 Publikationen ergab eine mangelnde Berücksichtigung in Bezug auf alle Bereiche der Autismusforschung, neurowissenschaftliche Studien, Untersuchungen über wirksame Interventionen und soziale Systeme an Dienstleistungen.

Das Buch gliedert sich in drei große Kapitel plus Anhang:

  • Kapitel I: Einführung zum Verständnis der Leitbegriffe
  • Kapitel II: Spezielle Besonderheiten und Begleiterscheinungen
  • Kapitel III: Arbeitsfelder und pädagogische Hilfen

Eine Einführung zum Verständnis der Leitbegriffe Autismus, komplexe Beeinträchtigungen und Autismus und komplexe Beeinträchtigung bilden über 60 Seiten das erste Kapitel. Im Kontext des Leitbegriffes „Autismus“ wird die Klassifikation von Autismus nach DSM-5 und ICD-11 besprochen, der Behindertenbegriff nach ICF erläutert, dazu gibt es Einblicke zum Thema Autismus aus der Betroffenensicht. Unter dem Leitbegriff „Komplexe Beeinträchtigungen“ beleuchtet Theunissen den Begriff der sog. „geistigen Behinderung“ und weist auf die Klassifikation von „Intellektueller Entwicklungsstörung/Intelligenzminderung“ nach DSM-5 und ICD-10/​ICD-11 hin. Im Unterkapitel „Autismus und komplexe Beeinträchtigungen“ werden Ursachen und neurobiologische Erkenntnisse besprochen, Intelligenz und Auswirkungen thematisiert und die Frage der primären Behinderung reflektiert.

Das zweite Kapitel mit dem größten Umfang (> 200 Seiten) beinhaltet spezielle Besonderheiten und Begleiterscheinungen. Alle 11 Unterkapitel sind inhaltlich gleich aufgebaut: zuerst werden spezielle Besonderheit und Begleiterscheinungen beschrieben, davon werden Konsequenzen für die pädagogische Praxis abgeleitet und diese werden punktuell mit Beispielen konkretisiert.

Besprochen werden: Hyperlexie, Sensorischen Besonderheiten Sinnesbehinderungen im Hören und Sehen Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS), Stress und Krisen, Herausfordernde Verhaltensweisen, Psychische Begleitstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Traumata und Traumatisierung, Epilepsie, Altern und schwere neurokognitive Störungen (Demenzen)

Das letzte dritte Kapitel mit 70 Seiten bespricht Arbeitsfelder und pädagogische Hilfen. In Bezug auf die Arbeitsfelder werden die Geschichte, Entwicklung und die Schwerpunkte benannt:

  1. Das Arbeitsfeld Frühförderung und Autismus-Zentrum
  2. Das Arbeitsfeld Vorschulische Kindertageseinrichtung
  3. Das Arbeitsfeld Schule
  4. Das Arbeitsfeld berufliche Ausbildung und Teilhabe am Arbeitsleben
  5. Das Arbeitsfeld Wohnen

Im Abschnitt „Pädagogische Hilfen“ sind pädagogisch relevante Handlungskonzepte, Methoden, Interventionen oder Arbeitsformen in einer Übersicht zusammengefasst. Die Übertragung des Nachweises von Evidenz, ein Begriff, der aus der Medizin- und Pharmaforschung stammt, ist mittlerweile aus vielerlei Gründen umstritten. Aus dieser Kritik heraus hat ein Stufenmodell (mit sechs Stufen) der Evidenz an Bedeutung gewonnen, das Theunissen kurz vorstellt. Es wird diskutiert, ob ein vierstufiges Verknüpfungsmodell (ohne Stufe 5 und 6) geeigneter ist, um einem Methodenmix von quantitativen, qualitativen und hermeneutischen Verfahren wie Feldbeobachtungen und Fallstudien besser Rechnung zu tragen. Für den Autor stellt die Erweiterung durch qualitative Methoden eine Bereicherung der bisherigen Forschung zur Evidenz dar, da damit der alleinige Nachweis durch quantitativ ermittelte empirische Nachweise ergänzt wird. Theunissen drückt an dieser Stelle auch sein Bedauern aus, dass dieses erweiterte Evidenzverständnis in der S3 Leitlinie Autismus Spektrum Störungen nur unzureichend Beachtung fand, mit dem Effekt, dass damit praktische Empfehlungen zu kurz greifen.

Das Buch endet mit einem umfangreichen Anhang, in dem 16 klinische Bilder (syndromaler Autismus und klinische Bilder) von A-Z in Hinblick auf Häufigkeit, Ursachen/​klinische Besonderheiten, Entwicklungsbesonderheiten und Verhaltensprobleme sowie Stärken und Vorlieben beschrieben werden.

  • Angelman-Syndrom
  • Cornelia-de-Lange-Syndrom
  • Down-Syndrom
  • Duchenne/​Becker muskuläre Dystrophie
  • Fetales Valproinsäure-Syndrom (Dysmorphie-Syndrom)
  • Fragiles-X-Syndrom
  • Klinefelter-Syndrom
  • Prader-Willi-Syndrom
  • Phelan-McDermid Syndrom (PMS)
  • Rett-Syndrom
  • Sanfilippo-Syndrom
  • Smith-Lemli-Opitz-Syndrom
  • Smith-Magenis-Syndrom
  • Tuberöse Sklerose (Bourneville-Pringle-Syndrom)
  • Williams-Beuren-Syndrom

Zu jedem dieser Bilder wird ein kurzer pädagogischer Tipp gegeben.

Diskussion

Das Buch ist ein Lehrbuch für die Heilerziehungspflege, Heilpädagogik und (Geistig-) Behindertenhilfe. Kapitel I führt in Leitbegriffe ein, eine Tabelle auf S. 66 stellt in Hinblick auf 15 Bereiche Unterschiede zwischen „typisch für Autismus“ und „typisch für kognitive Beeinträchtigungen (geistige Behinderung)“ gegenüber z.B. in Bezug auf das Lernverhalten, emotionale Kompetenz oder lebenspraktische Kompetenz.

Den größten Umfang nimmt das zweite Kapitel ein, hier werden spezielle Besonderheiten und Begleiterscheinungen vertiefend behandelt. Alle 11 Unterkapitel sind gleich aufgebaut: zuerst werden spezielle Besonderheiten und Begleiterscheinungen beschrieben, auf dieser Grundlage werden Konsequenzen für die pädagogische Praxis abgeleitet, die punktuell mit Beispielen konkretisiert werden. Die pädagogischen Tipps und die Fallvignetten ergänzen die theoretischen Ausführungen. Komplexe Inhalte sind in Tabellen zusammengefasst.

Das dritte Kapitel nimmt Geschichte, Entwicklung und Schwerpunkte der Arbeitsfelder in den Fokus. Es gibt Einblicke in verschiedene Bereiche des Lebens von der Frühförderung, über Schule bis in den Beruf und das Wohnen. Im Unterkapitel „Pädagogische Hilfen“ sind pädagogisch relevante Handlungskonzepte, Methoden, Interventionen oder Arbeitsformen in einer Übersicht zusammengestellt.

In den letzten Jahren ist die Zahl der Publikationen zu Förder- und Unterstützungsprogrammen sowie zu konkreten Ansätze angestiegen, problematisch ist, dass für die meisten dieser Methoden kaum oder keine wissenschaftlichen Nachweise für deren Wirksamkeit vorliegen. Auch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) legt Wert auf den Nachweis von Qualitätssicherung und Nachweis zur Wirksamkeit von Leistungen. „Das Wissen um nachweislich erfolgversprechende Konzepte und Methoden kann dazu beitragen, ineffektive und gar schädliche Maßnahmen zu vermeiden und im Interesse des Leistungsträgers unnötige Ausgaben einzusparen“ (S. 345). Gemeint sind beispielsweise aversive und restriktive Maßnahmen, die ethisch umstritten sind und nicht zu einer positiven Persönlichkeitsentwicklung und zu keiner dauerhaften Verbesserung führen.

Auf den Seiten 351–353 findet sich eine Tabelle zur Einschätzung von 42 pädagogisch relevanten Förder- und Unterstützungsangeboten, kategorisiert nach Arbeitsfeldern, Förder- und Unterstützungsbereichen, autismusspezifisch und Wirksamkeit. Orientierung bietet ebenso das sechsteilige Stufenmodell der Evidenz (S. -348). Stufe 1 und 2 wie z.B. die Positive Verhaltensunterstützung oder TEACCH® bilden den Goldstandard bzw. eine hohe Wirksamkeit, Stufe 6 beschreibt eine negative Evidenz mit negativen Effekten genannt bei der Gestützten Kommunikation oder der Festhaltetherapie.

Der Anhang beschreibt 16 weitere Erscheinungsbilder in alphabetischer Reihenfolge mit folgender Struktur: Name des erkennbaren Symptoms, Häufigkeit, Ursachen/​klinische Besonderheiten, (häufige) Entwicklungsbesonderheiten und Verhaltensprobleme sowie (häufige) Stärken und Vorlieben. Jedes Erscheinungsbild endet mit einem kurzen pädagogischen Tipp.

In den letzten Jahren sind zahlreiche Publikationen über sogenannte hochfunktionale oder Asperger Autist:innen erschienen. Georg Theunissen hat einen großen Beitrag daran. Mit der Herausgabe dieses Buches macht er darauf aufmerksam, dass die autistische Personengruppe mit (schweren) mehrfachen, sensorischen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen signifikant unterrepräsentiert ist. Das Buch hat zum Ziel, hilfreich für alle Personen aus dem Autismus-Spektrum zu sein. Dieses Lehrbuch für die Heilerziehungspflege und Heilpädagogik ist prall gefüllt mit Inhalt. Durch die gute aufgelockerte Struktur, die eingeschobenen Textblöcke zu pädagogischen Hinweisen oder Tipps sowie den Beispielen aus der Praxis ist es gut zu lesen. Die Sprache ist verständlich, ein Stil, der oft bei Fachbüchern vermisst wird. Das Inhaltsverzeichnis gliedert sich in drei Kapitelüberschriften und zahlreichen Unterkapiteln, sodass es möglich ist, gezielt nach Themen zu suchen.

Fazit

Neben sog. hochfunktionalen Menschen aus dem Autismus Spektrum sollte auch der Personenkreis mit (schweren) mehrfachen, sensorischen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen nicht marginalisiert werden. Das hier vorgelegte Lehrbuch für die Heilerziehungspflege und Heilpädagogik ist sprachlich verständlich geschrieben, aufgelockert strukturiert, es beinhaltet kleine eingeschobene Textblöcke zu pädagogischen Hinweisen oder Tipps sowie Beispielen aus der Praxis.

Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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ISSN 2190-9245