Inga Wilke: Muße als Strategie
Rezensiert von Prof. Dr. René Börrnert, 11.06.2024
Inga Wilke: Muße als Strategie. Eine Kulturanalyse von Achtsamkeits- und Entschleunigungskursen.
Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2023.
270 Seiten.
ISBN 978-3-8309-4607-6.
34,90 EUR.
Reihe: Freiburger Studien zur Kulturanthropologie - Band 5.
Thema
Die aktuellen großen Schlagworte im sozialen Fachdiskurs lauten „Selbstfürsorge“, „Achtsamkeit“ oder auch „Resilienz“. Fachautor:innen versuchen aktuell, mehr oder minder professionelle Erklärungen und Lösungen für das Ausbrennen (Burnout) von Fachkräften in der Sozialen Arbeit zu konzeptionieren. Dabei wird der Umgang mit Hektik, Leistungsdruck und zunehmender Sinnlosigkeit im Job sowohl aus psychologischer als auch aus der Perspektive Betrieblicher Sozialer Arbeit beleuchtet.
Das vorliegende Buch geht aus kulturwissenschaftlicher Sicht auf die Problematik ein und untersucht den Begriff „Muße“ im weitesten Sinne. Das Ziel der Arbeit besteht darin, „gegenwärtige Kursangebote im Themenfeld Achtsamkeit, Entschleunigung, Stressreduktion und dazugehöriger Selbst- und Körpertechniken kulturanthropologisch zu erforschen und so Erkenntnisse über ein gegenwärtiges Verhältnis von Gegenwartsdiagnosen und Muße zu gewinnen“ (28).
Autorin und Entstehungshintergrund
Dr.in Inga Wilke studierte Medien- und Kulturwissenschaft, Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie in Düsseldorf, Tübingen und Wien. Von 2017 bis 2022 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Sonderforschungsbereich 1015 „Muße. Grenzen – Raumzeitlichkeit – Praktiken“ an der Universität Freiburg.
In diesem Zusammenhang entstand das vorliegende Buch (Dissertation), die in der von Timo Heimerdinger und Marcus Tauschek beim Waxmann-Verlag herausgegebenen Reihe „Freiburger Studien zur Kulturanthropologie“ (Band 5) erschienen ist.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung (Teil 1 und 2) wird Muße als Feldbegriff ausführlich definiert und der methodische Angang umfangreich erläutert. Die Autorin wählt die Mischung als Interview- und Beobachtungsforschung. Ihr Interesse hat die zentrale Fragestellung im Blick, „wie die Kurse als kulturelle Formate und die Kursakteur:innen in ihnen Gegenwart entwerfen und reflektieren und wie sie daraus eine Notwendigkeit für Muße als Strategie der Gegenwartsbearbeitung ableiten und umsetzen“ (21).
Im dritten Teil wird Muße in Alltag und Lebenszeit untersucht. Hier werden Zusammenhänge hergestellt zu Zeiterfahrung, Auszeit, Biographischer Zeit und Zeitalternativen.
Was Muße in der Leistungsgesellschaft bedeutet, erläutert Wilke im vierten Teil. Hier rehabilitiert sie den Begriff und formuliert ihn dann als Ressource und als Strategie gegen das gesellschaftlich vorherrschende Leistungsprinzip („Du bist, weil und was du leistest„; vgl. 138ff).
Die im Untertitel genannten Kurse werden im fünften Teil des Buches ausführlich beschrieben. Wilke geht hier auf das jeweilige Programm (Zeitliche Vorgaben und Freiräume; Rhythmus, Rituale und die wertvolle Ausfüllung von Zeit), Ort (Atmosphäre, Rückzugsraum, Naturräume) und Gemeinschaft (Anbietenden-Rolle, Leitungsstil) ein.
Im sechsten Teil wird das Lernen von Muße erläutert. Hierbei spielt die Vermittlung von Wissen (Probleme, Lösungen) und Können (Körpertechniken) eine entscheidende Rolle.
Schließlich formuliert Wilke in Fazit und Ausblick noch einmal Muße als Strategie der Gegenwartsbearbeitung. Sie unterscheidet hierbei die kollektive und die temporäre von der individuellen Strategie der Selbstwerdung und Selbstgestaltung.
Diskussion
Gegenwärtig ist eine Zunahme an Publikationen festzustellen, die unter den Begriffen Selbstmanagement, Selbstfürsorge oder auch Resilienzförderung Tipps und Ratschläge formulieren, wie man sich als Fachkraft in den Sozialen Kontexten vor Überbelastung oder gar Burnout schützen kann. Mehr oder weniger aufwendig gestaltet, bieten die Autor:innen einen Mix aus Theorie und Praxis (vgl. Zito/Martin 2020) oder gar komplettes Kursprogramme samt Begleitmaterial (vgl. Juchmann 2022).
Wilkes Ansatz ist kulturwissenschaftlich; es handelt sich um eine Dissertationsschrift. Das heißt, mit dem Text bedient sie an vielen Stellen in erster Linie den Nachweis zu liefern, dass und wie sie geforscht hat. So erläutert die Autorin auf den ersten ca. 50 Seiten ihre Forschungsmethodik und begründet ausgiebig, worum es ihr in ihrer Studie zur Kulturanthropologie eigentlich geht und welche Fragen sie ergründen will. Damit soll nicht die Qualität der Arbeit in Frage gestellt werden, sondern lediglich die Erwartungshaltung von Leser:innen, die hier kurzweilige Ratgeber-Lektüre erwarten. Das bietet Inga Wilke nicht. Stattdessen befragt sie Kurs-Anbieter:innen und Kurs-Teilnehmer:innen nach ihren Beweggründen als Gebende und Nehmende. Sie arbeitet aber auf der Folie der relevanten aktuellen Diskursliteratur sehr umfänglich heraus, wie diese Akteure versuchen, aktuelle Probleme wie Zeitdruck und hohe Leistungsansprüche mit Hilfe der Einübung von Achtsamkeit und Entschleunigung in Einklang zu bringen.
Wer die Zeit und Muße hat, sich auf diese umfangreiche Lektüre einzulassen, bekommt vorgeführt, wie die genannten Personen „als Diagnostiker:innen ihrer eigenen Alltage“ ihre Gegenwartsdiagnosen im Rahmen der hier untersuchten Kurse „gemeinschaftlich entwerfen und mit Muße als Gegenmittel bearbeiten“ (23).
Fazit
Wer sich dem großen Thema Selbstfürsorge widmet, kommt an dem Band von Wilke nicht vorbei. Sie beleuchtet verschiedene Achtsamkeits- und Entschleunigungs-Konzepte aus kulturwissenschaftlicher Sicht.
Zitierte Literatur
Juchmann, U. (2022): Selbstfürsorge in helfenden Berufen. Wie Achtsamkeit im Arbeitsalltag gelingt. Verlag Kohlhammer (Stuttgart).
Zito, D., Martin, E. (2021): Selbstfürsorge und Schutz vor eigenen Belastungen für Soziale Berufe. Mit Online-Materialien. Verlag Beltz Juventa (Weinheim und Basel).
Rezension von
Prof. Dr. René Börrnert
Fachhochschule des Mittelstands (Rostock)
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Es gibt 43 Rezensionen von René Börrnert.
Zitiervorschlag
René Börrnert. Rezension vom 11.06.2024 zu:
Inga Wilke: Muße als Strategie. Eine Kulturanalyse von Achtsamkeits- und Entschleunigungskursen. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2023.
ISBN 978-3-8309-4607-6.
Reihe: Freiburger Studien zur Kulturanthropologie - Band 5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31541.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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