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Markus Pohlmann: Einführung in die Qualitative Sozialforschung

Rezensiert von ao. Univ.Prof. Dr. i.R. Gerhard Jost, 18.04.2024

Cover Markus Pohlmann: Einführung in die Qualitative Sozialforschung ISBN 978-3-8252-5530-5

Markus Pohlmann: Einführung in die Qualitative Sozialforschung. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2022. 318 Seiten. ISBN 978-3-8252-5530-5. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 26,90 sFr.
Reihe: UTB - 5530. Sozialwissenschaften.

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Autor

Markus Pohlmann ist Professor am Max-Weber-Institut für Soziologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Ein Schwerpunkt seiner Arbeiten liegt in der Organisationssoziologie. Dieser spiegelt sich in einem anderen (Einführungs-) Buch wider, in dem organisationale Phänomene und Themen sowie grundlegende Denkweisen vorgestellt werden. Von besonderem Interesse erscheinen darüber hinaus die Publikationen des Autors über Karrieren, Lebensläufe und Werthaltungen von (Top-)Managern/ökonomischen Eliten.

Thema

Qualitative (empirische) Sozialforschung basiert auf der Erhebung und/oder Analyse qualitativer Daten, umfasst vielfach „weiche“, offene Erhebungs- sowie (interpretative) Analyseverfahren. Der Begriff ist sehr breit gehalten, spezifischere Vorstellungen kommen in den Bezeichnungen „rekonstruktive“, „interpretative“ oder „performative“ Sozialforschung zum Ausdruck. Diese Vorstellungen rekurrieren vielfach auf eine methodologische Eigenständigkeit und verweisen auf andere Gütekriterien als für die quantitative Sozialforschung herangezogen. In Forschungen einer solchen Ausrichtung werden häufiger Fragestellungen über den Verlauf und die (detaillierte) Struktur sozialer Phänomene behandelt, sowie deren Genese rekonstruiert. Betrachtet man die Bandbreite und Zugänge zur qualitativen Sozialforschung, erscheint es in einer Einführung aufschlussreich, welche Bandbreite an qualitativen Methoden als zentrale Zugänge vermittelt werden und welcher Bezug zur quantitativen Sozialforschung besteht.

Aufbau

Eingangs wird bereits auf zwei besondere Merkmale des Buches hingewiesen:

Erstens möchte das Buch nicht nur einen Überblick über den Aufbau und die Verwendung qualitativer Methoden geben, sondern auch Möglichkeiten der Kombination mit quantitativen Methoden aufzeigen. Trotzdem also qualitative Methoden mit ihren Prinzipien und theoretischen Bezugspunkten besprochen werden, werden immer wieder Forschungsdesigns und Studien mit quantitativen Methoden aufgenommen. Folglich wird ein breites Spektrum an qualitativen Erhebungs- und Analyseverfahren sowie – wie angeführt – Optionen von „Mixed-Methods“ (mit-)vermittelt, u.a. Experimente, Beobachtungen, Interviews sowie Inhaltsanalyen bzw. hermeneutische Verfahren. Die Struktur des Buches wird dabei wesentlich durch theoretische bzw. methodologische Ansätze (mit-)geprägt. In jedem methodischen Kapitel werden in einem eigenen Abschnitt Theorien bzw. Methodologien behandelt, also aufgrundlagen verwiesen.

Zweitens wird auf die Konzeption der Publikation als Lehr- und Arbeitsbuch verwiesen: Das Buch soll im Wesentlichen zum Kennenlernen von Denkweisen und Methoden der qualitativen Sozialforschung beitragen, aber durch Nachfragen und Übungen sowie durch Informationen in „Toolbox“-Form zu (ersten) eigenen Erfahrungen mit qualitativen Methoden anregen.

Inhalte

Nach der Einleitung mit einem Überblick über Aufbau und Inhalt des Buches werden zunächst erkenntnistheoretische Reflexionen angestellt (Kapitel 2). Konstruktivistische Theorien unterschiedlicher Provenienz verweisen darauf, dass das Erkennen eines Gegenstandes (im Alltag) immer aufgrund von Interpretationen und Konstruktionen erfolgt. Wahrnehmungen und Beobachtungen sind folglich von Personen und/oder der Gesellschaft abhängig – Wirklichkeit ist jedenfalls kein Abbild einer Realität, wird „gemacht“. Eingegangen wird u.a. auf die „Kritik der reinen Vernunft“ (Kant), auf die Erkenntnisse von Piagets Entwicklungspsychologie oder auf den Radikalen Konstruktivismus als auch den stärker soziologischen Ansätzen (Sozialkonstruktivismus). Für sozialwissenschaftliche Forschung erscheint wichtig, Wirklichkeitskonstruktionen als sozial hergestellt und auf Alltagswissen beruhend zu sehen.

Im daran anschließenden Kapitel 3 werden Prinzipien der qualitativen Sozialforschung sowie zwei theoretische bzw. methodologische Denkweisen (Phänomenologie, Grounded Theory) diskutiert. Zunächst wird auf die Forschungslogik der Induktion verwiesen, die Offenheit als – erstes – Prinzip voraussetzt. Dieses Prinzip verweist darauf, dass die Theorien erst aus den qualitativen Daten entwickelt werden. Als zweites Prinzip wird jenes der Kommunikation ausgeführt: Man muss mit den untersuchten Personen in eine (kommunikative) Beziehung treten, um ihre Erfahrungswelten und Sichtweisen kennenzulernen. Drittens ist qualitative Sozialforschung ein Prozess, der ständig weiter gestaltet werden muss. Daten dienen nicht nur dazu, (erste) theoretische Erkenntnisse zu generieren, sondern sind genauso im Hinblick auf den Forschungsverlauf zu reflektieren. Verfahrensweisen können während der Forschung adaptiert werden, auch die Instrumente können modifiziert werden. Daten über soziale Welten, subjektive Wirklichkeitskonstruktionen oder über kollektive Deutungsmuster – je nach Zielsetzung der Forschung – müssen folglich kontinuierlich reflektiert werden. Nicht nur dieses letzte Prinzip der Reflexion, das Problem des Vorwissens und des Theoretischen Samplings sind Ansatzpunkte für Kritik an Methoden der qualitativen Sozialforschung, die in Kapitel 3.2 näher behandelt werden. Im Folgenden wird auf die Phänomenologie (Husserl) Bezug genommen und vier (Interpretations-)Schritte phänomenologischen Denkens vorgestellt, um bespielhaft Daten zu analysieren. Im daran anschließenden Abschnitt wird die Grounded Theory, die grundsätzliche Vorgangsweise und die Schritte des Kodierens, vorgestellt. In diesem Kapitel wird abschließend (Abschnitt 3.5) noch darauf eingegangen, in welcher Weise qualitative und quantitative Methoden verbunden werden können und vier Formen von „Triangualationsdesigns“ besprochen.

In Kapitel 4 stellt der Autor sehr ausführlich das qualitative Experiment vor. Bei dieser Methode wird eine Bedingung des Handelns verändert und beobachtet, was die Veränderung bewirkt. Zum besseren Verständnis dieses Untersuchungsdesigns werden beispielhaft Studien vorgestellt. Diese Forschungsstrategie wird noch weiter verdeutlicht, indem ausführlicher auf ethnomethodologische Grundlagen und das Krisenexperiment eingegangen wird. In diesen werden Regeln und Muster von Alltagsinteraktionen durch Reaktionen auf überraschende Interventionen aufgedeckt. Wenn Interaktionsordnungen und – rituale thematisiert werden, ist es naheliegend, dass die Arbeiten von Erving Goffman beachtet werden. Der Autor stellt vor allem das Konzept seiner Rahmenanalyse vor, den Erfahrungsschemata als Hintergrund der Wahrnehmung und Einordnung von Situationen des Alltags. Letztlich wird noch die Differenz zwischen Feldexperiment und dem natürlichen Experiment sowie Untersuchungsdesigns in beiden Ausrichtungen (qualitativ und quantitativ) besprochen.

Im folgenden Kapitel 5 wird die Beobachtung, die Formen und Vorgangsweise, vorgestellt. Prinzipiell stellen sich bei dieser Forschungsstrategie die Fragen, die dann umfangreicher diskutiert werden (S. 115 ff.): Was und wer wird beobachtet? Wie erlangt man Zugang zum Feld? Wie zeichnet man die Beobachtungen auf? Was lässt sich durch offene/​verdeckte Beobachtung wahrnehmen? Wie lange soll die Beobachtung dauern? Wie sollen/können Beobachtungsprotokolle analysiert werden? Welche zusätzlichen Materialien, vor allem Interviewdaten, werden benötigt? Ist die Forschung ethisch vertretbar, wie sind Regelungen des Datenschutzes umzusetzen? Wie auch beim Experiment, wird im Bereich der Beobachtung die Differenz zu quantitativen Formen angesprochen und in einem Abschnitt auf die möglichen Beobachtungsfehler bei qualitativem Vorgehen hingewiesen. Gerade durch die Beobachtung von Handlungsverläufen lassen sich die Bedeutungsstrukturen, die in Interaktionen entstehen und aufrechterhalten werden, gut herausarbeiten. Der Autor behandelt daher in diesem Kapitel die Theorie des Symbolischen Interaktionismus. Interessante Informationen erfolgen in diesem Kapitel noch über den hermeneutischen Zirkel und über das Konzept des „Habitus“ (Bourdieu), das in Forschungsfragen zentral behandelt werden kann.

In Kapitel 6 wird die Inhaltsanalyse behandelt. Gegenstand solcher Analysen können unterschiedliche Daten sein. Die Bandbreite reicht von Interviewtranskriptionen über selbstgeschriebene Texte (z.B. Tagebücher), Gerichtsakte, Dokumente oder Akten. Wissenschaftlich erstellte Materialien (wie Interview- oder Beobachtungsprotokolle bzw. Transkripte) sind in Forschungsdesigns häufig Grundlage für qualitative wie auch quantitative Inhaltsanalysen. Die Differenz im Vorgehen und der Ausrichtung von qualitativen und quantitativen Verfahren wird auch an dieser Stelle wieder genauer besprochen und die Optionen einer Kombination reflektiert. Nach der Klärung von Begriffen wie latente Strukturen, des Unterschiedes von Information, Mitteilung und Verstehen (Luhmann) wird die Sequenzanalyse der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik (nach Soeffner) vorgestellt. Die Schritte dieses Verfahrens werden an einem Interview – neben den allgemeinen Prinzipien -verdeutlicht. Die Analyse baut sich durch die Bildung von Lesarten über Sequenzen auf, um Hypothesen über die erkennbare(n) Sinnstruktur(en) zu bilden und zu verifizieren. Um die grundsätzliche Perspektive noch weiter zu vermitteln, wird ein Abriss über die geisteswissenschaftlichen Wurzeln zum Verstehen (Dilthey) eingebracht. Ausführlich wird dann am Beispiel von Kontaktanzeigen gezeigt, wie verschiedene Formen von qualitativer und quantitativer Inhaltsanalysen in einer Studie angewandt werden können. Das Forschungsdesign umfasst eine Frequenzanalyse, die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring – die auch genauer vorgestellt wird – sowie einer hermeneutischen Analyse der Texte. Bezugspunkte dieser Analysen sind folglich nicht nur manifeste Kommunikationsinhalte, sondern genauso im Text enthaltene, subjektiv nicht intendierte Sinnstrukturen, die erst durch eine genaue Analyse erarbeitet werden können.

Das Kapitel 7 befasst sich mit qualitativen Interviews. Von den vielen Varianten werden in diesem Buch die Form des narrativen und problemzentrierten Interviews als auch (teilstandardisierte) Experteninterviews behandelt. Die ersten beiden Formen sind darauf ausgerichtet, die Sichtweisen, Erfahrungen und Relevanzen der Handelnden eines Feldes, sichtbar zu machen. Die Vorbereitung umfasst die Entwicklung eines Eingangsstatements (Vorstellung, Gesprächsführung etc.) und z.B. beim narrativen Interview einer Erzählaufforderung. Die einzelnen Abschnitte des Buches behandeln diese Punkte detailliert, genauso wie die für diese Interviewform bedeutenden Textsorten, Phasen und „Zwänge“. Darüber hinaus wird das Expert:inneninterview in der teilstandardisierten Variante noch näher vorgestellt, auch im Kontext einer Studie über Rechtspopulismus, die qualitative und quantitative Orientierungen kombiniert.

Im letzten Kapitel wird die Deutungsmusteranalyse vermittelt. Zentral ist für dieses Konzept bzw. Verfahren, objektiv latente Sinnstrukturen zu rekonstruieren und auf diese Weise „generative“ Regeln der subjektiven Orientierungen sichtbar zu machen. Das Konzept der „kollektiven Deutungsmuster“ bzw. des impliziten Alltagswissens wurde von Oevermann entwickelt und ist in umfangreichen methodologischen Reflexionen integriert. Im Kontext dieses Verfahrens wird auch nochmals punktuell die Grounded Theory aufgegriffen, die bereits an früherer Stelle des Buches ausführlicher besprochen wurde.

Diskussion

Das Buch ist sehr umfassend und anspruchsvoll konzipiert. Erstens wird versucht, zu jedem der angesprochenen Methoden und Kapitel (sozial-)theoretische/​methodologische Grundlagen näher vorzustellen. So wird in Kapitel 2 der Konstruktivismus, in Kapitel 3 die Phänomenologie und die Grounded Theory Methodologie usw. vorgestellt. Zweitens besteht der Anspruch, die qualitative Sozialforschung durch Formen der Triangulation (Mixed-Methods-Ansätze) immer wieder mit quantitativen Methoden zu ergänzen und miteinander zu verbinden. Drittens wird der Charakter eines Lehr- und Arbeitsbuches durch verschiedene Elemente wie „Toolboxen“ sowie mit Fragen zur Vertiefung und Übungen – jeweils am Ende eines Kapitels – versehen. Viertens werden nach jedem Kapitel nicht nur die Quellen als Bezugspunkte des Textes angeführt, sondern auch noch ergänzend weiterführende Literatur aufgelistet. Fünftens ist das Buch mit 320 Seiten sehr umfangreich und schließt auch eine umfangreiche Darstellung von Experimenten mit ein, die aus Sicht des Autors in Zukunft in den Sozialwissenschaften eine (noch) größere Bedeutung haben werden. 

Der eigene Anspruch – am Bucheinband formuliert – wird sicherlich eingelöst. Hervorzuheben ist die Fülle an Thematiken und Reflexionen zu methodologischen, theoretischen und praktischen Fragen qualitativer Methoden. An vielen Stellen werden sie mit dem Blickwinkel versehen, quantitative Methoden in Forschungsdesigns und Vorgehensweisen einzubeziehen. Letztlich kommt durch den Aufbau eine methodische bzw. methodologische Positionierung des Autors zum Ausdruck, die über die anfangs erwähnte Gruppierung von Ausrichtung(en) qualitativer Sozialforschung hinausgeht.

Fazit

Die breite Perspektive, genauso wie die Einflechtung theoretischer Ansätze, erhöht die Komplexität der Konzeption, daher ist davon auszugehen, dass die vielfältigen Inhalte und Ausrichtungen mit den pädagogischen Elementen in der Lehre erprobt sind und die Konzeption für Studierende trotz dieser hohen Komplexität nachvollziehbar ist. Insofern wären Kritikpunkte, die möglicherweise an manchen thematischen An- und Einordnungen auftreten, eher den eigenen Vorstellungen von qualitativer Sozialforschung geschuldet. Aus der Sicht des Rezensenten liegt ein Buch vor, das einen originären Weg geht und vielleicht nicht nur für Studierende von Interesse ist bzw. sein sollte.

Rezension von
ao. Univ.Prof. Dr. i.R. Gerhard Jost
Mitarbeiter am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, WU, Wirtschaftsuniversität Wien, Department für Sozioökonomie.
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Es gibt 23 Rezensionen von Gerhard Jost.

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ISSN 2190-9245