Thomas Niebisch: 360-Grad-Prozessmanagement
Rezensiert von Prof. Dr. Paul Brandl, 07.12.2023

Thomas Niebisch: 360-Grad-Prozessmanagement. Ein Framework inklusive Rollen und deren Aktivitäten. Springer Gabler (Wiesbaden) 2022. 277 Seiten. ISBN 978-3-662-64674-8. D: 32,70 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 39,00 sFr.
Der Autor
Thomas Niebisch absolvierte ein Informatikstudium. Seine beruflichen Tätigkeiten bewegen sich beständig an der Nahtstelle von Prozess- und IT-Management. Er arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Projektleiter und Berater sowohl auf den Gebieten des Prozess- als auch des Anforderungsmanagements – auch als Prozessarchitekt eines IT-Dienstleisters.
Thema und Zielsetzung
Eine zentrale Frage des Prozessmanagements lautet: Wer macht was, wann, wie, womit und warum? Jeder, der im Prozessmanagement aktiv ist, wird sich derartige Fragen bereits gestellt haben:
- Welche Rollen existieren im Prozessmanagement?
- Welche Aufgaben sind mit diesen Rollen verbunden?
- Wozu sind diese Aufgaben erforderlich? Wie sind sie auszuführen?
Aus der Sicht der verschiedenen Prozessmanagementrollen werden die jeweiligen Aufgaben beschrieben, Methoden vorgestellt und Zusammenhänge erläutert. Es wird ein Rahmen angeboten, in welchem jede Rolle ihren Platz erhält. Ähnlich wie die Zahnräder in einem Getriebe greifen die beschriebenen Rollen und deren Aufgaben lückenlos und überschneidungsfrei ineinander. Dieses Ineinandergreifen berücksichtigt auch das zunehmende Zusammenspiel von Prozess- und IT-Management aufgrund der fortschreitenden digitalen Transformation. Aufgaben des IT-Anforderungsmanagements sind in das Prozessmanagement zu integrieren. Alle an einem Prozess beteiligten Mitarbeiter:innen und vor allem die Führungskräfte (= 360°) haben hier einen Lesestoff, der dann auf den eigenen Arbeitsbereich übertragen werden kann.
Inhaltlicher Überblick
Die Struktur des Buches orientiert sich an folgendem Satz: Wer macht Was Wann Wie Womit: Nach einer kurzen Zusammenfassung des Buchinhaltes und der Ziele erfolgt der Einstieg ins Prozessmanagement mit Kapitel 2, in dem die Rollen der Akteure beschrieben werden. Es folgt dann das Kapitel 4, das das Framework vorstellt, welches die wesentlichen Rollen und Aktivitäten des
Prozessmanagements strukturiert – eine Struktur für die nachfolgende Gliederung des Buches. Anschließend richtet das Multiprozess-Management in den Kap. 5 - 7 den Blick auf die Rollen und Aktivitäten, die sich mit der übergreifenden Handhabung der Unternehmensprozesse als Ganzes befassen. Das Einzelprozess-Management beschreibt in den Kap. 8 - 13 die Aufgaben der Analytiker, Modellierer, Fachexperten, Projektleiter, Prozesseigner und Prozessmanager. In Kap. 14 werden die Aufgaben des IT-Managements an der Schnittstelle zum Prozessmanagement beleuchtet. Es folgen in den Kap. 15 bis 17 unterstützende Denkansätze anderer Managementdisziplinen. Kap. 18 widmet sich dem Rückblick auf das Gelesene inklusive einer Merkhilfe. Die Kap. 19 und 20 fassen als Anhänge das Wesentliche zu jeder erwähnten Rolle zusammen bzw. stellen gängige Methoden und Modelle bereit. Die Hilfsmittel und Templates zur Durchführung und Unterstützung der einzelnen Prozessaktivitäten müssen durch jedes Unternehmen individuell und passgenau adaptiert werden.
Wer die Digitalisierung seiner Geschäftsprozesse anstrebt, muss primär das Pro-
zessmanagement beherrschen. Dieses bietet eine gut gefüllte Werkzeugkiste für die Analyse und Gestaltung der Prozesse an. Zu welchen Werkzeugen tatsächlich gegriffen wird, kann insbesondere anhand der Ziele und der Kultur eines Unternehmens entschieden werden. Der Autor geht in der Folge auf Prozessexperten und -akteure ein. Er kommt zu dem Schluss, dass es Wissende um das Prozessmanagement benötigt und es dazu „Anwenden und Umsetzen Könnende“ benötigt. Es braucht die Prozesssicht sowohl in einem Einzelprojekt als auch in der Gesamtsicht: Wer macht Was Wann Wie. Das Ziel dieses Prozessmanagement-Getriebes besteht in der ständigen Verbesserung der Effektivität und Effizienz der Unternehmensprozesse.
- Das gedankliche Prozessmanagement-Getriebe besteht aus unterschiedlichen Zahnrädern (= unterschiedliche Rollen des Prozessmanagements mit ihren Aufgaben, beispielsweise des Analysierens, Dokumentierens oder Kosten ermittelns.
- Die einzelnen Zahnräder müssen für das optimale Funktionieren des Prozessmanagements gut aufeinander abgestimmt sein; sie müssen perfekt ineinandergreifen, um einen hohen Wirkungsgrad für das Unternehmen zu erzielen. Das Getriebe ist robust zu konstruieren und gegen negative Einflüsse zu schützen.
- Das Getriebe muss einem Unternehmen die Möglichkeit bieten, sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorwärts zu bewegen. Falls Sie erst am Anfang stehen, benötigen Sie zunächst ein einfaches Prozessmanagement, um in einem späteren Entwicklungsschritt einen Gang höher zu schalten und das Prozessmanagement weiterausbauen zu können.
Es gilt Rollen und Aufgaben zu Verknüpfen sowie diese in einen Rahmen zu setzen. Beginnend bei Einzelprozessen gilt es eine Übertragung auf die anderen Prozesse vorzusehen mit Unterstützung der IT. Diese Sichtweisen gilt es zu integrieren. Es ist Aufgabe der Führungskräfte sichtbar hinter dem Prozessmanagement zu stehen.
Die allgemeine Richtschnur für das Regeln von Prozessen liest sich wie ein Kalender-
spruch: »So wenig wie möglich, so viel wie nötig«:
- Jeder Prozess benötigt einen »Prozesseigner« und einen »Prozessmanager«. Der Pro-zesseigner trägt die Gesamtverantwortung für die strategische Ausrichtung des ihmzugeordneten Prozesses, der Prozessmanager sorgt für die operative Umsetzung undVerbesserung. Da der Prozessmanager am Prozess arbeitet, ist für den PM-Erfolg die Zusammenarbeit mit Akteuren, die im Prozess tätig sind, erforderlich. Deshalb sollten auch »fachliche Prozessverantwortliche« benannt werden.
- Das demokratische Prinzip der »Gewaltenteilung« kann man auch im Prozessmanagement berücksichtigen, indem die Aufgaben und Verantwortlichkeiten für die Legislative (Management, Prozesseigner), Exekutive (Fachbereiche, Prozessmanager) und Judikative (Revision, Auditoren) festgelegt werden.
- Das Unternehmen bekennt sich zur Umsetzung des »AKV-Prinzips«: Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung müssen in einer Hand sein.
- Die Diskussion um Prozessgestaltung und -ausrichtung schweift erfahrungsgemäß schnell in die Richtung einmaliger Sonderfälle oder komplizierter Ausnahmen ab. Daher die Maxime: »Ausnahmen sind wie Ausnahmen zu behandeln und nicht wie der Regelprozess«.
- Für eine verständliche und einheitliche Darstellung der Prozesse lassen sich durch den Prozessarchitekten eine Prozessarchitektur incl. Prozessbeschreibung erstellen und pflegen.
- Modellierte Prozesse unterliegen einem »Freigabeverfahren«. Sie werden durch die jeweiligen Verantwortlichen in einem definierten Verfahren freigegeben – ebenso die Außerbetriebnahme von Prozessen.
Es braucht dazu eine strategische Ausrichtung von Prozessen, dazugehörig ein Prozesscontrolling sowie Reifegrade für die Entwicklungsrichtungen. Das Reifegradmodell ist der Body-Maß-Index für die Prozesse mit richtungsweisenden Anhaltspunkten. Es gilt daher die Prozesse strategisch auszurichten, zu dokumentieren und die Ablagestruktur entsprechend zu gestalten. Entsprechend gilt es auch Modellierungsrichtlinien festzulegen, um dies auch auf alle relevanten Prozesse übertragen zu können. Auch die Ausbildung der beteiligten Mitarbeiter:innen des Dienstleisters und der jeweiligen Lieferanten ist gefordert. Nicht nur die Prozessarchitekt:innen zeichnet übergreifend Denken im detaillierten Handeln aus, sondern auch die Mitarbeiter:innen. Dazu braucht es auch die Unterstützung durch die IT mit den entsprechenden Tools. Diese gilt es, an den Anforderungen der Beteiligten incl. Stakeholdern auszurichten.
Im Sinne des Projektmanagements gilt es die Phasen eines Projektes zu durchlaufen – begleitet von der Prozesssicht. Dabei heißt Digitalisieren, verschiedene Varianten von Prozessen durchzuspielen. Letztlich muss die IT den Prozess unterstützen. Die IT kann den Weg zur Agilität ebnen, womit der/die Klient:in in den Mittelpunkt rückt. Der Mensch ist im Mittelpunkt und damit wird die Leistung dann am höchsten sein, wenn Können, Wissen, Wollen und Dürfen miteinander harmonieren. 9 Denkmodelle unterstützen den/die Leser:innen beim Begreifen des Prozessmanagements:
- Die Mäusestrategie
- Das Pareto-Prinzip
- Der Hype-Zyklus
- Das Resistenz-Modell
- Shu Ha Ri
- Das Reifegradmodell
- Das AKV-Prinzip
- Das Prinzip von Objekt und Verrichtung
- Das Token-Prinzip
Abschließend gibt es noch eine kurze Übersicht über die verschiedenen Rollen des Prozessmanagements vom Chief Process Officer, Prozessarchitekt. Prozesseigner, Prozessanalytiker, Prozessmodellierer, Projektmanager, Prozessmanager, Fachexperte, Anforderungsmanager. Diese Rollen werden in der Regel auf mehrere Personen aufgeteilt. Schließlich gibt es noch einen Methodenüberblick: Erhebungsmethoden, Analysemethoden, Modellierungsmethoden und Qualitätssicherungsmethoden.
Diskussion
Sehr verdienstvoll in dieser Publikation ist die Betrachtung der Projekte und Prozesse aus der Sicht der beteiligten Personen und Rollen. Gleichzeitig treten dabei die Prozesse fast in den Hintergrund, auch wenn über die Rollen und Aufgaben immer wieder auf den Einzelprozess und das Multiprozessmanagement verwiesen wird. Der Stellenwert der IT als Unterstützer einer Prozessorganisation und natürlich der agilen Organisation ist ebenso hilfreich, ebenso die konsequente Ausrichtung auf die Kund:innen. Das AKV wird immer wieder hervorgehoben und die Reifegrad sind nicht nur ein Body-Mass-Index, sondern auch eine Leitlinie für die strategische Ausrichtung und damit die Weiterentwicklung der Prozesse. Einzig die Prozesslandkarte in Form eines generischen Modells sowie die generische Prozessdarstellung könnten bei den angebotenen Werkzeugen noch dazukommen
Die Sozialwirtschaft ist stark personenorientiert und die Publikation unterstützt deshalb die Mitarbeiter:innen von sozialen Dienstleistern – auch wenn die Prozessperspektive manchmal zu sehr in den Hintergrund tritt. Der Inhalt kann so die sozialen Dienstleister hervorragend unterstützen, zumal auch die Perspektiven IT und agile Organisation integriert sind. Die Klient:innen stehen auch bei der strategischen Ausrichtung der Prozesse immer im Zentrum.
Fazit
Prozessmanagement aus allen Perspektiven (= 360°) zu betrachten, macht Sinn. Es gibt dem Buch eine sehr interessante Struktur und ebnet auch den Weg zu einer unternehmensübergreifenden Betrachtungsweise. Damit ist zum wiederholten Male eine neue Qualität im Kapitel Qualitätsmanagement aufgeschlagen: die unternehmensübergreifenden Qualitätskriterien im Sinne von Wertschöpfungsketten.
Rezension von
Prof. Dr. Paul Brandl
war Professor für Organisationsentwicklung und Prozessmanagement an der FH Oberösterreich, Department für Sozial- und Verwaltungsmanagement und ist Berater insbesondere für die prozessbasierte Optimierung und Neugestaltung von sozialen Dienstleistern
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