Hartmut Mitzlaff: J.W.M. Henning
Rezensiert von Prof. Dr. Astrid Kaiser, 21.12.2023

Hartmut Mitzlaff: J.W.M. Henning (1783-1868). Aus dem Leben und Werk eines Pommerschen Pestalozzi-Schülers und Schulreformers des neunzehnten Jahrhunderts : von Rügenwalde über Stettin, Halle, Basel, Yverdon, Breslau und Bunzlau nach Köslin und Zürich. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2023. 139 Seiten. ISBN 978-3-98649-051-5. D: 19,80 EUR, A: 20,40 EUR.
Thema
Im Buch „J.W.M. Henning (1783-1868). Aus dem Leben und Werk eines Pommerschen Pestalozzi-Schülers und Schulreformers des neunzehnten Jahrhunderts: von Rügenwalde über Stettin, Halle, Basel, Yverdon, Breslau und Bunzlau nach Köslin und Zürich“ wird die Bildungsgeschichte der Heimatkunde im frühen 19. Jahrhundert neu geschrieben. Leben und Werk des bislang in der pädagogisch-historischen Literatur nicht beachteten Pädagogen Johann Wilhelm Mathias Henning werden der Fachwelt erstmals vorgestellt.
Autor
Der Autor, Hartmut Mitzlaff, ist seit seiner dreibändigen Dissertation für akribische historische Forschungsarbeit im Gebiet der Heimatkunde bekannt. Er war mehrfach führend im wissenschaftlichen Diskurs um die Geschichte von Heimatkunde und Sachunterricht und hat nachhaltig auf wichtige Aspekte der Geschichte des Faches Sachunterricht/​Heimatkunde hingewiesen. Deshalb war es für mich und Detlef Pech wichtig, ihn als Autor für ein Überblickskapitel zum Sachunterricht für den ersten Band der Reihe Basiswissen Sachunterricht zur Geschichte zu gewinnen.
Entstehungshintergrund
Sein bisher größtes Verdienst war es, auf die Bedeutung von Andreas Reyher für die Fachgeschichte hinzuweisen. Bislang galt Comenius als der eigentliche Ahnherr des Faches. Aber Mitzlaff hat zu Recht in seinem Beitrag für Basiswissen Sachunterricht betont, dass der pansophische Ansatz des böhmischen Gelehrten nicht dem weltlichen Verständnis einer auf das Leben vorbereitenden Weltkunde entspricht. Hier war der im Gothaer Schulreformprozess eingebundene Andreas Reyher wirklich führend.
Aufbau
In diesem Band historischer Pädagogik wird die Biographie des Pestalozzi-Jüngers Henning anhand von Dokumenten akribisch nachgezeichnet. Dabei steht die Zeit der unmittelbaren Interaktion mit Pestalozzi wie auch sein späteres Wirken als Seminarleiter in Pommern im Mittelpunkt, im zweiten Schritt wird das politische Wirken dieses Vertreters reformerischer Pädagogik im 19. Jahrhundert fokussiert. Die Schriften des Lehrerausbilders Henning werden im dritten Abschnitt des Buches einer gründlichen Interpretation unterzogen.
Inhalt
Mitzlaff hat einen unbekannten Pädagogen, Bewunderer Pestalozzis, neu entdeckt und durch gründliche Quellenarbeit wieder bekannt gemacht. Und trotz aller Vorsicht des Autors beim Auswerten der diversen historischen Quellen, seien es zeitgenössische Briefe oder gedruckte Schriften, kommt er schließlich zu erstaunlichen Schlussfolgerungen. Als sicher geglaubte Wahrheiten werden Schritt für Schritt – sorgfältig mit Dokumenten belegt – von den Thronen der wissenschaftlichen Erkenntnis gestoßen. Für mich besonders überraschend war die Argumentation, dass nicht Harnisch der Begründer der „Heimathkunde“ war, sondern Henning.
Dieser wurde – wie die Quellen belegen – von Pestalozzi gefördert, eingeladen, mit persönlichen Wünschen bedacht. Nicht nur inhaltlich, auch interpersonal waren Pestalozzi und Hennig Weggefährten. Der jüngere der beiden, Henning, war aber nicht nur Adept, sondern auch konstruktiver Entwickler didaktischer Konzepte.
Besonders beeindruckend ist die Nachzeichnung von Hennings Biografie, obgleich es dazu bislang keine Literatur gab, an der man aufbauend anknüpfen könnte. Diese wird mit vielen veranschaulichten Abbildungen lebendig gemacht, nicht nur das Ölgemälde von Henning, das sich im Pestalozianum in Zürich befindet, sondern auch Ansichten des Kösliner Seminars, in dem Hennig wichtige Jahre als Lehrerseminardirektor wirkte sowie der dortigen Elementarschule. Auch Abbildungen originaler handschriftlicher Dokumente zeigen anschaulich, welchen Mühen der Entzifferung sich der Autor unterzogen hat.
Alle seine Ausführungen werden sorgsam in die Zeitgeschichte eingeordnet, nicht nur die zeitgenössische Pestalozzi-Verehrung in Preußen und von den dortigen Autoritäten der Schulaufsicht auch die Jahrzehnte später massiv umgreifenden restaurativen Entwicklungen, die auch vor Pommern – In Köslin war Henning fast 25 Jahre Lehrerseminardirektor – nicht Halt machten, kann man aus Mitzlaffs Ausführungen gut erkennen.
Und auch das Werk Hennings, seine Elementargeographie wurde weit rezipiert, wird nicht nur auf die Auswertung der Schriften beschränkt. Der Autor macht sich die Mühe anhand von vielfältigen Dokumenten auch das praktische Werk von Henning zu skizzieren. Etwa, dass er 1831 eine kostenlose Modellschule für 180 arme Kinder eröffnete oder eine Kindertagesstätte gründete, um den Seminaristen – ganz nach dem heutigen Laborschulprinzip – praktische pädagogische Erfahrungen zu ermöglichen. Aber auch sein bildungspolitisches Engagement zeichnet Mitzlaff anhand von zeitgenössischen Zeitschriften nach. So belegt er, dass Henning sich für eine längere Ausbildungszeit in den Lehrerseminaren von zwei Jahren auf drei Jahre eingesetzt hat. Die Aktivitäten von Henning im Lehrerverein, den er selbst gegründet hatte, werden ebenfalls in die Skizzierung des Lebenswerkes vorgestellt. Und viele Jahre wurden diese vielfältigen Engagements auch positiv von den Autoritäten gesehen – bis hin zur Ordensverleihung. Bis er im Zuge der allgemeinen restaurativen schulpolitischen Entwicklungen sein Amt aufgeben musste.
Aber sein Werk war damals bereits in vielen Köpfen der ausgebildeten jungen Lehrer eingegangen. Welche Gedanken darin stecken, hat Mitzlaff in sehr gründlicher Analyse der Elementargeographie für Kinder von 8–12 Jahren in diesem kleinen Band aufgeschlüsselt. Dabei bediente er sich sogar grafischer Veranschaulichungen im Sinne von Concept maps. Der Autor betont, dass Henning nicht nur ein Werk der Anschauungspädagogik verfasst hat, sondern auch pädagogisch richtungsweisende theoretische Fundierungen geleistet hat. Er hat damals schon das vorherrschende methodische Prinzip „vom Nahen zum Fernen“ als unzureichend identifiziert und plädierte dafür, im Unterricht vom Horizont der Kinder auszugehen. Also letztlich entwickelte er eine Didaktik, die heute – nicht nur in der Grundschulpädagogik – als zeitgemäß gilt, nämlich von den Lernvoraussetzungen der Kinder auszugehen. Mitzlaff betont deshalb völlig zutreffend, dass er damit weiter war als die Heimatkunde über 100 Jahre später.
Durch sorgfältige Quellenarbeit gelingt es dem Autor zu belegen, dass sogar Pestalozzi aus der Elementargeographie Hennings gelernt hat und seine diesbezüglichen Schriften später – also nach Kenntnisnahme von Hennings wissenschaftlichem Hauptwerk – veröffentlicht hat.
Auch Harnischs Schriften, die auch heute noch in der historisch-pädagogischen Literatur als fundamental deklariert werden, wurden erst nach dem Klassiker zur Elementargeographie publiziert und haben wesentliche Inhalte von Hennings Werk aufgenommen. Über Harnisch hat vor allem Dagmar Hänsel in ihrer Habilitationsschrift gearbeitet und seine reformpädagogische Bedeutung für die Weiterentwicklung des Faches betont. Sie kannte damals das neue Buch von Mitzlaff nicht, sonst hätte sie Harnisch nicht unverdientermaßen so hoch auf einen Sockel gestellt.
Diskussion
Mitzlaff zeigt nicht nur Interesse an den Leistungen Hennings, sondern fragt sich offensichtlich, wie es kommen konnte, dass ein derart innovativer und zu seiner Zeit bekannter Ausbilder zukünftiger Lehrer derart in Vergessenheit geraten konnte. Dazu wirft er auch den Blick auf die sozialen Beziehungen der damaligen Protagonisten untereinander. Besonders das Verhältnis der drei Eleven von Pestalozzi, die gemeinsam zu ihm nach Yverdon gefahren waren, zeigt schon, wie unterschiedlich jede Person, das pädagogische Werk dort interpretiert hatte. Aber noch deutlicher wird differente Interpretation in den persönlichen Empfindlichkeiten und Konkurrenzen der beiden Antagonisten in neu akzentuierter Heimatkunde/​Weltkunde. Mitzlaff scheint ein Vergnügen dabei empfunden zu haben, die Ränke und Hinterhältigkeit der beiden Lehrerausbilder und um Anerkennung ringenden Fachleute sorgfältig aufzuzeigen. Dabei wertet er auch Anschuldigungen und Entschuldigungsbriefe aus.
Ich hätte nicht gedacht, als ich das Buch zum ersten Mal in Händen hielt, dass hier auch plastisch ein Beispiel für die akademische Schlangengrube im vorvorigen Jahrhundert gezeichnet wird.
Aber Mitzlaff unterliegt nicht der Versuchung, Henning zu idealisieren und seinerseits auf einen Sockel zu stellen, er arbeitet an Dokumenten sehr sorgfältig heraus, dass die Fachherkunft und Gedankenherkunft aus der Theologie auch einschränkende Momente mit sich brachten. Henning konnte in seiner Zeit und aus seiner Sozialisation heraus nicht eine Weltorientierung im modernen Sinne entwickeln.
Doch gerade die kritisch einschränkenden Anmerkungen und Belege heben den Wert der tatsächlichen fachlichen Weitsicht des Pestalozzi-Anhängers Henning besonders hervor.
Auch die weiteren Schriften von Henning bieten viele neue Impulse für ein Umschreiben der Geschichte der Heimatkunde. Mitzlaff betont auch, dass bei allen wechselseitigen Bezügen zum Werk Pestalozzis auch ein Beitrag zur Geschichte der Pestalozzi-Rezeption in Deutschland geleistet wird.
Alles in allem: Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen, es bietet so viele neue Denkanregungen und ist doch trotz der Genauigkeit und strengen Arbeit an Dokumenten ein locker lesbarer Band. Dazu trägt auch bei, dass der Autor ein klares System im Buch durchhält, weil mit den Schrifttypen unterschieden wird, was Originalzitat, was Interpretation oder Kommentar ist.
Fazit
Dieses Buch scheint auf den ersten Blick ein akribisches Werk zu einem Spezialthema der Geschichte des Sachunterrichts/der Heimatkunde zu sein. Wenn man diesen Band gelesen hat, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass hier sehr spannend die Geschichte des Faches neu geschrieben und fundiert worden ist.
Rezension von
Prof. Dr. Astrid Kaiser
pensionierte Professorin der Didaktik des Sachunterrichts an der Universität Oldenburg, ehemalige Direktorin des Instituts für Pädagogik und Autorin. Gegenwärtig arbeitet sie als ehrenamtliche Senior Expertin in verschiedenen Ländern u.a. zur Entwicklung der Bildung in frühen Jahren.
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