Wolfgang Wahl: Erlebnispädagogik. Praxis und Theorie einer Sozialpädagogik des Außeralltäglichen
Rezensiert von Prof. Dr. em. Klaus Kraimer, 30.10.2024

Wolfgang Wahl: Erlebnispädagogik. Praxis und Theorie einer Sozialpädagogik des Außeralltäglichen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 2. Auflage. 240 Seiten. ISBN 978-3-7799-7507-6. D: 26,00 EUR, A: 26,90 EUR.
Thema
Erlebnispädagogik – ursprünglich von Kurt Hahn zur Therapie von als schädlich angesehenen, gesellschaftlichen Einflüssen auf Kinder und Jugendliche im Modus der Erfahrung konzipiert – ist heute Teil eines „bunten Reigens der Spezial-Pädagogiken“ – so Wolfgang Wahl. Während Hahn Eigenverantwortung und Verantwortung in der Gemeinschaft durch Erziehung fördern wollte, ohne zu belehren, steht die Organisation von „Erlebnis, Spannung und sozialem Miteinander“ im Modus des Lernens aktuell im Mittelpunkt. Auf dem Markt der Jugendhilfe bieten zahlreiche Veranstalter vom „Bogenschießen“ bis zum „Mountainbiken“ vielfältige Aktivitäten so der Autor. Die berufliche Qualifikation für Erlebnispädagogik kann in unterschiedlichen Ausbildungsgängen u.a. an Universitäten und Hochschulen erworben werden, ein Bundesverband zertifiziert entsprechende Angebote im Zuge der Entwicklung von Qualitätsstandards.
Autor
Der Autor Dr. Wolfgang Wahl ist Professor für Soziale Arbeit an der TH Nürnberg. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen Professionalisierung der Sozialen Arbeit, Erlebnispädagogik, Bewegungs- und sportorientierte Soziale Arbeit sowie Jugendarbeit.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist in der zweiten Auflage mit Bezug auf die Hochschullehre und auf Grundlage ethnografischer Forschung während vieler Lehrveranstaltungen, auf Exkursionen, in Sommer- und Winteruniversitäten, bei Diskussionen im Seminarraum, in den Bergen oder in der Wildnis entstanden und will vor diesem Hintergrund empirische Forschungsergebnisse mit theoretischen und praktischen Bezügen verbinden, um die Erlebnispädagogik weiter zu fundieren.
Aufbau
Der Aufbau folgt dem Interesse des Autors, die Frage zu klären, „was Erlebnispädagoginnen und -pädagogen eigentlich tun“, um so das Handeln derjenigen zu untersuchen, die Erlebens- und Lernprozesse organisieren, anleiten, moderieren und deren Rahmenbedingungen verantworten (Teil I).
In Teil II stehen sog. Zielgruppen von Erlebnispädagogik im Fokus: Kinder, Jugendliche und Erwachsene, um der Frage nach deren Erleben nachzugehen.
Schließlich werden die Forschungsbefunde der eigenen Studie zusammengestellt, um zu Aspekten bzw. Elementen einer Theorie der Erlebnispädagogik beizutragen (Teil III).
Inhalt
Das Buch bietet eine fallweise Verknüpfung von Theorie und Praxis erlebnispädagogischer Tätigkeiten und Erfahrungen auf der Grundlage von Beobachtungsprotokollen und Interviews. Dem Autor geht es darum, zu zeigen, dass das, „was wirklich zählt, die Begegnung ist – die Begegnung mit anderen Menschen, die Begegnung mit der Natur und in beiden: Die Begegnung mit uns selbst“ – so im Vorwort. Inhaltlich geht es um Themen wie: „Der Übergang in den erlebnispädagogischen Raum“, „die Reduktion von Komplexität und die Bildung von Vertrauen.“ Beispiele wie ‚Bachüberquerung‘, ‚Kletterwand‘ oder ‚Wegkreuzung‘ veranschaulichen Bezüge zur erlebnispädagogischen Didaktik sowie zu relevanten Theorien professionellen Handelns.
So dient das Modell von Fritz Schütze für die Diskussion des Umgangs mit Paradoxien und Dilemmata in außeralltäglichen Räumen, Ulrich Oevermanns Theorie zur Erläuterung der ursprünglich als stellvertretende Deutung bezeichneten Modellierung von Handlungssituationen.
Beispiele für Phänomene, die den Erlebnishorizont von Teilnehmerinnen und Teilnehmern anschaulich werden lassen, sind Themen wie: „Vom Umgang mit dem Scheitern“ oder „die Entstehung von Gruppenkohäsion durch Vertrauen“, verbunden mit praktischen sowie theoretischen Erwägungen. So werden phänomenologische, konstruktivistische und systemtheoretische Theorietraditionen u.a. mit „Lernmodellen in der Erlebnispädagogik“ verbunden.
Diskussion
Der Autor sucht ein Verständnis für zugrundeliegende Bildungsprozesse in der Erlebnispädagogik. Das dazu erforderliche, hohe Maß an Professionalität, das Theorie und Praxis notwendig als Einheit erkennt, scheint noch nicht erreicht. Die Konzentration auf den Modus des Lernens – in diesem Buch und als generell zu beobachtender Trend in den Sozial- und Bildungswissenschaften – lässt auf vergessene Zusammenhänge aus (reform-) pädagogischen Modellen schließen. Der Leserschaft werden gute Möglichkeiten des Einblicks in die Problematik der Erlebnispädagogik und der erlebnispädagogischen Selbstreflexion geboten. Über die von Wahl bevorzugten Methoden ethnografischer Feldforschung und qualitativer Inhaltsanalyse hinaus wäre die weitere Fundierung einer Theorie der Erlebnispädagogik durch ein rekonstruktives Forschungsdesign wünschenswert.
So könnte im Modus des Experimentierens, in Situationen des Erlebens, die latente Sinnstruktur des Geschehens mit Bezug auf Optionen zur Gestaltung authentischer Erfahrungsbildung herausgearbeitet werden, wenn erlebnispädagogisch gedacht, gehandelt und gelebt wird. Daran anknüpfend könnte – mit kritischer Besinnung auf das Hahnsche Erbe – an einer weiteren konzeptionellen Begründung der Erlebnispädagogik gearbeitet werden. Deren Gestaltung allerdings darf nicht auf den Modus des Lernens beschränkt sein.
Fazit
Das Buch bietet vielfältige Einsichten in Möglichkeiten und Grenzen der Erlebnispädagogik, in deren Reflexion und in deren Erforschung. Eine ausgearbeitete Theorie der Erlebnispädagogik und ihrer Wirkungen kann und will auch dieses Buch nicht liefern, wohl aber Ansätze und Bausteine.
Rezension von
Prof. Dr. em. Klaus Kraimer
Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes. University of Applied Sciences
Professor für Theorie, Praxis und Empirie Sozialer Arbeit an der Fakultät für Sozialwissenschaften
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