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Paul Parin, Fritz Morgenthaler et al.: Fürchte Deinen Nächsten wie Dich selbst

Rezensiert von Dr. Hans-Adolf Hildebrandt, 06.06.2024

Cover Paul Parin, Fritz Morgenthaler et al.: Fürchte Deinen Nächsten wie Dich selbst ISBN 978-3-99136-030-8

Paul Parin, Fritz Morgenthaler, Goldy Parin-Matthèy: Fürchte Deinen Nächsten wie Dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika. Mandelbaum (Wien) 2023. 600 Seiten. ISBN 978-3-99136-030-8. D: 42,00 EUR, A: 42,00 EUR.
Reihe: Paul Parin Werkausgabe - 18.

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Thema

Die Schweizer Ethnopsychoanalytiker Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Mathey erforschten bereits 1960 mit einer Kombination aus modifizierten psychoanalytischen und ethnografischen Methoden das Volk der Dogon in Mali, um die wechselseitigen Beziehungen zwischen Selbst und Gesellschaft zu erforschen. Auch im vorliegenden Buch (Erstausgabe 1971) widmen sie sich bei der Untersuchung der Agni, die an der Elfenbeinküste leben der Frage, ob unterschiedliche Kulturen auch unterschiedliche Arten des Selbst hervorbringen.

Autor

Nach ihrer psychoanalytischen Ausbildung gründeten die Parins und Morgenthaler das linksgerichtete psychoanalytische Seminar Zürich. Sie setzten sich, Anna Freud unterstützend, für die Laienanalyse und für eine weniger rigide Behandlung von Ausbildungskandidaten ein. Ein bekanntes Buch der Autoren – eine „Pflichtlektüre“ in Kreisen der Neuen Linken – trägt den Titel „Die Weißen denken zu viel“ und beschreibt die subtilen Dynamiken der Geschlechterbeziehungen in einer bigamischen Kultur.

Entstehungshintergrund

Die vorliegende Untersuchung des Agni-Volkes schließt sich an die Studie der Autoren über das Dogon Volk an. Ihrer Studie liegen zwei Prämissen zugrunde, zum einen die Annahme, dass sich auch Angehöriger fremder Kulturen mittels der Psychoanalyse verstehen lassen und zum anderen die Überlegung, dass kein grundsätzlicher Unterschied zwischen den bewussten und unbewussten psychischen Zuständen von Gesunden und Kranken besteht. Während das Dogon-Volk in patriarchalen Großfamilien organisiert ist, wurde mit den Agni bewusst eine matrilinear organisierte Sozietät ausgewählt, um herauszufinden, ob diese sich mit der Anwendung der aus patrilinearer Tradition entstammender psychoanalytischen Methode und ihren Grundkonzepten verstehen lässt.

Aufbau und Inhalt

Der Leser wird von den Autoren zunächst ausführlich in die ökonomische und politische Basis der Sozietät der Agni eingeführt. Es folgen einigen grundlegende Ausführungen zur geographischen Situation des ausgewählten Dorfes, den geschichtlichen Hintergründen, dem Werte- und Denksystem des Volkes und dem Aufbau der eigentlichen Untersuchung. Des Weiteren werden die Familienorganisation und ihre wirtschaftliche Situation, charakteristische entwicklungspsychologische Aspekte und der Umgang mit seelischen und körperlichen Krankheiten dargestellt. Auf diese Weise bereits gut vorbereitet, begegne der Leser in sehr ausführlichen Fallgeschichten die jedem Kapitel vorangestellt sind den Vertretern einer ihm, so ist anzunehmen, völlig fremden Kultur. Daran schließen sich sozialanalytische Ausführungen an. Ein Buch mit diesem Umfang lässt sich ohne wiederkehrende Ermüdungserscheinungen nicht an einem Stück lesen, es lädt viel mehr dazu, ein, herum zu blättern mit Neugier am Fremden, sich mit ausgewählten Episoden zu beschäftigen. Angesichts des Umfangs des Buches mit beinahe 700 Seiten ist es daher unumgänglich die Rezension auf ausgewählte Aspekte zu beschränken.

Morgenthaler schildert in der ersten Falldarstellung die Gespräche mit Thomas Assoua, Chef eines Hofes. Dieser begegnet ihm scheinbar aufgeschlossen und höflich, weicht ihm jedoch immer wieder aus und sagt nichts über sich selbst. Mit diesem deutlichen Widerstand konfrontiert, nutzt Morgenthaler seine biografische Kenntnis über Thomas, der sich von den anderen Agni dadurch unterscheidet, dass er versucht seine eigenen Wege zu gehen und dennoch in den vorgezeichneten Bahnen der Familie steckenbleibt. Morgenthaler weist provokativ seine Geschenke zurück, setzt sich von Sitte, Brauch und Etikette der Agni ab, tut also was ihm passt. Thomas akzeptiert diese für ihn neue Beziehung und identifiziert sich mit Morgenthaler. Im weiteren Verlauf spricht er über seine Ängste, weicht nicht mehr aus und nimmt die verabredeten Gespräche zuverlässig war. Schließlich trägt dies zu einer Vertiefung der Beziehung zu Morgenthaler bei. Morgenthaler ordnet die Konflikte von denen Thomas ihm erzählt der Sozietät zu in der Thomas lebt. Er präsentiert dem Leser in verschiedenen Organigrammen die komplexen Beziehungen der mütterlichen Sippe, der wichtigsten Gemeinschaft, in der Thomas lebt. Er analysiert wesentliche psychologischen Unterschiede zwischen den Agnis und den Europäern, beispielsweise die Art der Objektbeziehungen. Im folgenden Kapitel stellt Parin-Matthèy Suzanne dar mit der sie 38 Gespräche geführt hat. Suzanne ist Mutter eines Kindes und Parin-Matthèy stellt an ihrem Beispiel die verschiedenen Entwicklungsphasen von der Säuglingszeit bis zur Pubertät aber auch die Unbezogenheit der Erwachsenen zum Kind dar. An Anoh Michel, einem zwanzigjährigen Mann zeigt Morgenthaler, dass die Grenze zwischen reif und unreif, zwischen neurotisch und gesund in Abhängigkeit von den sozialen Maßstäben unscharf sind und die verschiedenen Lebensphasen in den Sozietäten anders abgegrenzt werden als bei uns. Am Beispiel von Adou Agnimou zeigt Parin die Schwierigkeiten auf, psychische Leiden mit europäischem Fachwissen einzuordnen. Die Kenntnis über die Besonderheit der Ich-Entwicklung, der Libidofixierung und der Abwehrorganisation der Agni ermöglich es neurotische Konflikte zu verstehen und mittels psychoanalytischer Deutung und suggestiver Maßnahmen zu behandeln.

Schließlich werden die in den Fallanalysen gewonnen Erkenntnisse abschließend metapsychologisch ausgewertet und zusammengefasst. Diese Betrachtungen der Autoren lassen sich stichwortartig wie folgt darstellen. Da die Untersucher in die Wertmaßstäbe und Vorurteile ihrer eigenen Kulturgemeinschaft verstrickt sind erschließt sich die psychische Entwicklung und innerseelische Struktur der Agni nicht durch einen einfachen Vergleich mit den Prinzipien der eigenen Kulturgemeinschaft, sondern erfordert genaue und konkrete Kenntnisse über die besonderen Widersprüche und Konflikte, die ihre Umwelt enthält, die Macht- und Prestigestrukturen der Welt der Männer in matrilinearen Sozietäten. Hierzu ist es erforderlich, durch genetische Betrachtung die Entstehung der Persönlichkeit nachzuzeichnen. Diskutiert wird von den Autoren die Schwierigkeit der Beschreibung kulturspezifischer psychischer Abwehrformationen. Von besonderem Interesse nach Ansicht des Rezensenten sind die Ausführungen zum Gruppen-Ich. „Zusammenfassend kann man sagen, dass das Ich der Agni vor allem als Gruppen-Ich funktioniert, (…) wenn es seine Konflikte „draußen“ von der Gruppe agieren lässt und wenn es identifikatorisch Haltungen der ihm zugeteilten sozialen Rollen autoplastisch als sekundär-autonome Funktion in sich aufnimmt.“ (S. 635). Ebenso wie das Ich der Agni ist auch das Über -Ich auf eine kulturspezifisch strukturierte Umwelt angewiesen und funktioniert zum Teil als ein „Clan-Gewissen“. Es entbehrt weitgehend einer gefühlsmäßigen Verankerung in der Sozietät. Im Unterschied zum Leistungsideal unsere Kultur haben die Agni das Ideal, ein erfreuliches Schicksal zu haben „statt etwas zu werden, wünschen sie, etwas zu sein. Passivität, die bei uns eine vorwiegend negative Bewertung erfährt, ist dort ebenso wie Aktivität an sich nichts Schlechtes oder Gutes.“ (S. 641)

Diskussion

Die Autoren haben bei der Erforschung der wechselseitigen Beziehungen zwischen Selbst und Gesellschaft bei der Sozietät der Agni eine Kombination von psychoanalytischen und ethnografischen Methoden angewandt, damit sind teilnehmende Beobachtung, direkte Befragung von Gewährspersonen und Durchführung von Psychoanalysen (von Devereux erstmals als Ethnopsychoanalyse bezeichnet) gemeint. Während einige Forscher die Universalität der psychoanalytischen Theorien infrage stellten und Andere auf universellen Gemeinsamkeiten der menschlichen Natur über kulturelle Grenzen hinweg bestanden, bleiben die Autoren in ihrem Resümee zurückhaltend und sprechen von Vermutungen und Hypothesen. Abschließend konstatieren sie, dass unterschiedliche Kulturen auch unterschiedliche Arten des Selbst hervorbringen. Der Leser steht immer wieder in der Versuchung, angesichts der überwältigenden Fülle des Fremden vorschnell aus der Lektüre wieder auszusteigen. In einer solchen Reaktion drückt sich vermutlich ein Widerstand aus, mit dem wir auch in unserem Alltag geneigt sind, dem Fremden zu begegnen. Die Autoren haben sich selbst als „lebendige Fremdkörper“ in einer lebendigen Sozietät gesehen. Dieses Selbstverständnis repräsentiert den Geist, in dem das Buch geschrieben worden ist. Zugleich macht dies auch die Aktualität des Buches aus, denn wir leben heute in einer multikulturellen Gesellschaft. Sie unterscheidet sich ganz wesentlich von der europäischen Gesellschaftssituation, in der die beiden Bücher der Autoren geschrieben worden sind. Unter dem Einfluss von globalen Konflikten, gesellschaftlichen und geopolitischen Veränderungen stehen wir vor der Frage, wie wir den Vertretern fremder Kulturen und Sozietäten begegnen wollen und vor der Aufgabe, Fremde darin zu unterstützen sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Das Buch ist daher nicht nur ein Forschungsbericht, sondern kann zur Grundlage für eine verständnisvolle Begegnung in einer sich dramatisch wandelnden Welt genutzt werden. Es braucht wieder wie damals neue Ideen.

Fazit

Kurt Tucholsky sagte einmal: mein Leben ist zu kurz, um dicke Bücher zu lesen. Das bezog sich auf „Krieg und Frieden“ von Tolstoi. Würde Tucholsky heute leben, ich vermute, er würde etwas ähnliches über „Fürchte deine nächsten wie dich selbst“ nicht sagen und mir zustimmen, dass diese Lektüre eine wichtige Grundlage zum Verständnis fremder Ethnien ist.

Rezension von
Dr. Hans-Adolf Hildebrandt
Diplom-Pädagoge, M.A., Kinder- und Jugendpsychotherapeut ­(bkj, DFT), Gruppenanalytischer Organisationsberater, und Diplom-Supervisor (D3G, DGSv), Gruppenpsychotherapeut (D3G), Forensischer Sachverständiger Familienrecht (IQfSV)
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Es gibt 11 Rezensionen von Hans-Adolf Hildebrandt.

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Zitiervorschlag
Hans-Adolf Hildebrandt. Rezension vom 06.06.2024 zu: Paul Parin, Fritz Morgenthaler, Goldy Parin-Matthèy: Fürchte Deinen Nächsten wie Dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika. Mandelbaum (Wien) 2023. ISBN 978-3-99136-030-8. Reihe: Paul Parin Werkausgabe - 18. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31553.php, Datum des Zugriffs 03.11.2024.


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