Sascha Regier: Den Staat aus der Gesellschaft denken
Rezensiert von Julia Besche, 22.05.2024
Sascha Regier: Den Staat aus der Gesellschaft denken. Ein kritischer Ansatz der Politischen Bildung.
transcript
(Bielefeld) 2023.
399 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6437-9.
D: 44,00 EUR,
A: 44,00 EUR,
CH: 53,70 sFr.
Reihe: Edition Politik - Band 138.
Thema
Gegenwärtige spätmoderne Gesellschaften zeichnen sich durch multiple Krisen aus: Soziale Ungleichheit, Rechtsextremismus und staatlicher Autoritarismus bedrohen die Demokratie, der kapitalistische Wachstumszwang die natürliche Umwelt. Hierauf muss die schulische Politische Bildung reagieren, wenn sie ihren Bildungsauftrag ernst nimmt. Sascha Regier zeigt auf, dass eine Soziopolitische Bildung das Politische wieder in den Bereich der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zurückholen kann. Gegenüber den dominierenden Positionen der Politischen Bildung, die affirmativ auf die Stabilisierung der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung orientiert sind, kann sie staatliche Herrschaft differenzierter und in ihrer aktuellen Transformation begreifen.
Autor
Sascha Regier, geb. 1982, ist Soziologe und Lehrer für Sozialwissenschaften, Philosophie, Geschichte und Pädagogik am Heinrich-Mann-Gymnasium Köln sowie Mitglied im Forum kritische politische Bildung der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG).
Aufbau & Inhalt
Das Werk beleuchtet die Disparitäten zwischen der hegemonialen Politischen Bildung und der Soziopolitischen Bildung, die als eine macht- und herrschaftskritische Alternative vorgestellt wird.
Im ersten Kapitel werden die grundlegenden politikwissenschaftlichen Konzepte, wie das Politik-, Demokratie- und Staatsverständnis der institutionenorientierten Politikwissenschaft, erörtert.
Das zweite Kapitel fokussiert sich auf die hegemoniale Politische Bildung, ihre zugrundeliegenden Verständnisse von Politik, Demokratie und Staat und setzt diese einer kritischen Betrachtung aus. Es wird herausgestellt, dass die Politische Bildung ein politisch umkämpftes Feld darstellt, sich auf verschiedene sozialwissenschaftliche Fächer stützt und dabei gewisse Probleme wie eine verkürzte Wahrnehmung des Politischen und der Demokratie aufweist.
Im dritten Kapitel wird die Soziopolitische Bildung als kritische Alternative begründet, die auf herrschafts- und machtkritische Ansätze setzt, um eine tiefere Analyse gesellschaftlicher Strukturkonflikte, wie dem Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus, zu ermöglichen. Es wird argumentiert, dass eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Themen fundamental für die Förderung von Emanzipation und politischer Mündigkeit ist und dass die Soziologie als Disziplin eine zentrale Rolle in diesem Bildungsansatz spielt.
Kapitel vier und fünf erweitern den Diskurs um staatstheoretische Betrachtungen, indem sie die Bedeutung kritischer Staats- und Gesellschaftstheorien für ein umfassendes Verständnis des Zusammenspiels zwischen Staat, Gesellschaft und Ökonomie unterstreichen. Diese Perspektiven sind essenziell, um die Dynamiken und Transformationen staatlicher sowie politischer Herrschaft realistisch zu erfassen und kritisch zu hinterfragen.
Das sechste und letzte Kapitel zeigt auf, dass die Soziopolitische Bildung bestrebt ist, eine herrschaftskritische Perspektive zu vermitteln, die über traditionelle Ansätze hinausgeht. Sie zielt auf die kritische Reflexion der Beziehung zwischen Staat, Gesellschaft und Markt unter Berücksichtigung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Im Gegensatz zur traditionellen Politischen Bildung, die oft als konservativ kritisiert wird, fördert die Soziopolitische Bildung ein kritisches Bewusstsein und politische Handlungsfähigkeit, indem sie aktuelle gesellschaftliche und politische Herausforderungen adressiert und eine fortlaufende Auseinandersetzung mit der Demokratie als zentrale Aufgabe versteht.
Diskussion
In der kritischen Auseinandersetzung mit den Bildungsansätzen der vom Autor als hegemonial beschriebenen Politischen Bildung im Gegensatz zu seinem Entwurf der Soziopolitischen Bildung werden unterschiedliche Sichtweisen auf, wie politische Bildung in der Gesellschaft verankert sein sollte, welche Inhalte sie umfassen und welche Ziele sie verfolgen sollte.
Hegemoniale Politische Bildung: Im Kontext der hegemonialen Politischen Bildung wird deutlich, dass diese sich stark auf institutionelle Rahmen und das bestehende politische System konzentriert. Sie tendiert dazu, bestehende politische und gesellschaftliche Strukturen zu affirmieren und fokussiert sich auf die Vermittlung eines Verständnisses von Demokratie, Politik und Staat, das oft nicht hinterfragt wird. Die Kritik, welche Sascha Regier an der hegemonialen politischen Bildung formuliert, bezieht sich auf die begrenzte Perspektive dieser Bildungsform, welche die Komplexität politischer Prozesse und die Vielfalt politischer Ideen potenziell unterschätzt oder ignoriert. Dadurch könnte politische Bildung riskieren, lediglich bestehende Machtverhältnisse zu reproduzieren, statt zu einer kritischen Reflexion und möglicher Transformation beizutragen.
Soziopolitische Bildung: Im Gegensatz dazu positioniert sich die Soziopolitische Bildung als eine herrschafts- und machtkritische Alternative, die darauf abzielt, Lernende zu befähigen, bestehende Strukturen zu hinterfragen und nach Wegen für mehr Emanzipation und Mündigkeit zu suchen. Diese Bildungsform beruft sich auf kritische Soziologie und Staatstheorie und setzt ein Verständnis voraus, dass politische Bildung nicht nur das Wissen über bestehende politische Institutionen vermitteln, sondern auch die Fähigkeit zur kritischen Analyse gesellschaftlicher Strukturkonflikte und Machtverhältnisse. Die Soziopolitische Bildung erweitert somit den Blick auf die politische Realität, indem sie die Interdependenz von Demokratie, Staat, Gesellschaft und Ökonomie in den Mittelpunkt stellt und für eine Auseinandersetzung mit aktuellen Herausforderungen wie ökologischen Krisen, sozioökonomischen Ungleichheiten und Geschlechterverhältnissen plädiert.
Förderung politischer Mündigkeit: Ein zentraler Diskussionspunkt ist die Frage nach der Förderung politischer Mündigkeit. Während die hegemoniale Politische Bildung durch ihre Konzentration auf institutionelles Lernen und Staat als Garant des Gemeinwohls kritisiert wird, fordert die Soziopolitische Bildung dazu auf, die Grenzen der herrschenden politischen Didaktik zu überwinden. Die Beleuchtung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie die Integration kritischer gesellschaftstheoretischer Ansätze sind entscheidend, um Jugendlichen nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern sie auch zu befähigen, aktiv am politischen Leben teilzuhaben und gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben.
Schlussfolgerung: Die Diskussion zeigt, dass eine zeitgemäße politische Bildung eine Balance zwischen der Vermittlung fundierten Wissens über politische Institutionen und Prozesse und der Förderung einer kritischen Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse finden muss. Die Soziopolitische Bildung bietet einen interessanten Ansatzpunkt, indem sie die Bedeutung der Analyse von Machtstrukturen und die Notwendigkeit der Förderung von Emanzipation und politischer Handlungsfähigkeit hervorhebt. Dadurch kann sie einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft leisten, die von mündigen Bürgerinnen und Bürgern getragen wird.
Fazit
Politische Bildung (schulisch wie außerschulisch) ist in der Gegenwart durch die multiplen gegenwärtigen Krisen spätmoderner Gesellschaften gefordert, welche u.a. als autoritäre Bedrohung der Demokratie und Rechtsextremismus, zunehmende soziale Ungleichheit beschreiben lassen. Der Autor Sascha Regier entwirft in diesem Band eine soziopolitische Bildung, welche gegenüber einer affirmativen, auf die Stabilisierung bestehender gesellschaftlicher Ordnungen ausgerichteten politischen Bildung, die Möglichkeit einer differenzierten Betrachtung staatlicher Herrschaft und aktueller Entwicklungen eröffnet.
Rezension von
Julia Besche
Verwalterin der Professur für Normative Rahmungen der Sozialen Arbeit an der HAWK Holzminden
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Zitiervorschlag
Julia Besche. Rezension vom 22.05.2024 zu:
Sascha Regier: Den Staat aus der Gesellschaft denken. Ein kritischer Ansatz der Politischen Bildung. transcript
(Bielefeld) 2023.
ISBN 978-3-8376-6437-9.
Reihe: Edition Politik - Band 138.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31556.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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