Hans-Georg Bensch, Sabine Hollewedde et al. (Hrsg.): Kapital und Natur
Rezensiert von Arnold Schmieder, 08.12.2023
Hans-Georg Bensch, Sabine Hollewedde, Ulrich Ruschig (Hrsg.): Kapital und Natur. Ein Widerspruch - nicht auflösbar, profitabel gemacht, die Erde zerstörend. PapyRossa Verlag (Köln) 2023. 160 Seiten. ISBN 978-3-89438-818-8. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
Der Untertitel des Buches fasst zusammen, was sich als Summe aus den einzelnen Beiträgen ergibt, und zwar entlang (eher) philosophischer und soziologischer Analysen, dies mit argumentativem Rückhalt in der und durch die Kritik der politischen Ökonomie. Der genannte Widerspruch, nämlich zwischen Kapital und dessen Wertverwertung einerseits und der scheint’s äußeren Natur andererseits, ein ‚prozessierender‘ Widerspruch, wird mit belangvollen Beispielen, die inzwischen z.T. in alltägliche Diskurse eingesickerten sind, deutlich vor Augen geführt. Damit wird eine Bedrohung illustriert, kommend aus Symptomen, denen nur ‚kurativ‘ beizukommen wäre oder de facto ist. So wird die historische, universelle Aneignung der Natur pointiert, die höchst überfällige Revision des Verständnisses der ‚Arten‘ in ihrer Bedeutung für ‚Befreiung‘ von Mensch und Natur plausibel gemacht und angemahnt, Marxʼ Bedeutung für die jeweils themenbezogenen Analysen diskutiert und auf den Prüfstand gestellt, schließlich die Rolle der Technik und ihres interessierten Einsatzes ausgeleuchtet. Allemal wird die Tastatur radikaler und ‚an die Wurzel‘, nämlich den Kapitalismus, gehender Umwälzung bis zu dem Anschein nach nahezu unmöglicher, aber überlebensnotwendigen Veränderungen angeschlagen – was gegen die systemisch gesetzten Grenzen bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften prallt, die noch in ihren Flexibilisierungen für ihren Erhalt sorgen.
Herausgerber:innen
Hans-Georg Bensch ist tätig am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und außerplanmäßiger Professor an der Leibniz Universität Hannover.
Sabine Hollewedde studierte Sozialwissenschaften und ist promovierte Philosophin, Lehrbeauftragte an den Universitäten Oldenburg und Kassel.
Ulrich Ruschig ist Professor der Philosophie und war bis zu seinem Ruhestand lange Jahre Direktor des Instituts für Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Aufbau und Inhalt
Neben dem Vorwort beinhaltet der Band acht Beiträge, die Ausarbeitungen fast aller Vorträge einer Tagung sind, die im Juni 2022 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg durchgeführt wurde. Am Ende des Bandes wird von Ulrich Ruschig das Kunstwerk des Photographen Mishka Henner erläutert, wovon ein Ausschnitt für das Cover des Bandes gewählt wurde. Ein bearbeiteter Screenshot einer Google-Earth-Aufnahme, also aus der Vogelperspektive, durch die erst einmal verborgen bleibt, was zu sehen ist: Säuberlich gegatterte Rinder, die zur Schlachtung bereitstehen, und im Vordergrund ein gigantischer roter See, bestehend aus Hinterlassenschaften dieser Tiere. Was, so Ruschig, „auf den ersten Blick ‚ästhetisch‘ zu sein scheint, (gefriert) bei näherem Hinschauen jedoch zu blankem Entsetzen“. Man stoße darauf, dass riesige Mastanlagen, „in denen für den Zweck, das eigene Kapital bestmöglich zu verwerten, Fleisch für billiges Fastfood gezüchtet wird, (…) Stätten (sind), die das Leben der dafür benutzten und unterworfenen Lebewesen in ein planvoll organisiertes Grauen verwandeln.“ (S. 159) – Dieser Blick wird durch das Buch geschärft und wer sich an Upton Sinclairs Roman „The Jungle“ (1905) erinnert, weiß um das „Grauen“ und ahnt vielleicht, dass seinen Ursachen schon weit der Weg bereitet wurde, was in den Beiträgen des Bandes ausbuchstabiert wird, die im Vorwort präzise zusammengefasst sind.
Die Heraugeber:innen betonen im Vorwort, „dass die Zerstörungen der Natur notwendig mit dem Wirken der kapitalistischen Produktionsweise (‚the system‘) verknüpft sind“ und es eben nicht „‚der Mensch‘ (war), der alle diese Schäden anrichtete und der die jetzige dramatische Lage erzeugte“; eine Abstraktion, in der „von den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, unter denen Menschen zu leben gezwungen werden, abstrahiert“ wird. (S. 8) „Naturzerstörung“ als „notwendige(n) Systemfehler“ (S. 10) deutlich zu machen, dazu wird in den einzelnen Beiträgen eine jeweils einzelne Aspekte hervorhebende Beweisführung angetreten.
In ihrem Beitrag „So schafft das Kapital erst die bürgerliche Gesellschaft und die universelle Aneignung der Natur“ stellt Nadja Rakowitz dar, dass Marx konkret gezeigt habe, „wie sich die kapitalistische Dynamik und der Zwang der Akkumulation auf den Umgang mit der Natur auswirken und wie sie erzwingen, permanent Naturschranken einzureißen“ (S. 15), wobei sie nach detaillierter Analyse mit dem Marx-Zitat schließt, alle Menschen seien „nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“ (zit. S. 28)
Es folgt Zum Begriff der kapitalistischen Herrschaft über die lebendige Natur von Ulrich Ruschig, der entfaltet, dass das Kapital sich die lebendige Natur unterwirft – wie es sich die lebendige Arbeit unterwirft und daher „die belebte Natur nicht belebte Natur sein lassen (kann)“.(S. 34) Die kapitalistische Gestalt der Herrschaft über die Lebewesen könne als deren reelle Subsumtion unter den Kapitalzweck verstanden werden – mit ruinösen Folgen für jene. Der Autor zeigt mit Rückgriff auf den biologischen Artbegriff, dass ein „eidetische(s) Moment der Lebewesen“ anzunehmen ist, dem der „Kapitalzweck widerspricht“ (Anm. 4, S. 37), ein „Moment des Subjektiven“ (S. 37), womit er den überkommenen philosophischen Naturbegriff überwindet. Gleichwohl greift er Kants Begriff der Vernunft auf und erweitert dessen kategorischen Imperativ und betont, es sei „moralisch geboten, die in Arten lebenden Lebewesen als diese Arten zu respektieren und gerade nicht dem (einen) abstrakten Zweck der Kapitalvermehrung die Eigentümlichkeiten der spezifischen Arten zu opfern“. Daher sollten wir „vor uns selbst erschrecken“, um daraus die „Courage“ zu entwickeln, „die gemeinsame Emanzipation von Mensch und Natur zu beginnen“. (S. 46)
Christian Stache steuert eine deutliche Kritik an der Ausbeutung von Tieren in seinem Beitrag „Die Tierhölle in der menschlichen Gesellschaft“ bei. Dass die „voneinander unabhängigen Einzelkapitale (…) die Tiere ökonomisch (überausbeuten), um Profite zu erzielen“ (S. 53), begründe die „Tierhölle“ (Horkheimer). Stache präzisiert, der „Widerspruch zwischen Kapital und Tieren unterscheidet sich insofern vom Widerspruch zwischen Kapital und der übrigen Natur, als Tiere über Fähigkeiten verfügen, die sie innerhalb der Natur qualitativ hervorheben, so zum Beispiel die Fähigkeit zu leiden oder auch sich seiner in einem gewissen Maße bewusst und intelligent zu sein“, was alles Grund genug sei, „den Kreis der Befreiungsobjekte zu erweitern“, zumal „Flora und Fauna (…) weder biologisch noch sozial imstande (sind), Ausbeutung und Herrschaft gezielt zu bekämpfen.“ (S. 63 f.)
Unter dem Titel Die Welt am Abgrund stellt Klaus Dörre die Frage, ob ein nachhaltiger Sozialismus einen Ausweg eröffnet. Seine These ist, dass „eine radikale Transformation nur erfolgreich sein kann, wenn sie das Spannungsverhältnis zwischen sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitszielen erfolgreich bearbeitet.“ (S. 67 f.) Er stellt seinen Begriff der „Zangenkrise“ vor und betont, „dass die Störungen der Gesellschafts-Natur-Beziehungen in der Gegenwart in erster Linie von kapitalistischen Ökonomien ausgehen.“ (S. 69) Dörre benennt Auswege aus der „Zangenkrise“ und merkt dabei gleichwohl an, das „vermeintlich grüne Wachstum“ bleibe „letztendlich“ auch nicht nachhaltig. (S. 75) Der Autor bringt „gehörige(n) Druck aus der Zivilgesellschaft“ (S. 81) in Anschlag und meint, die „Chance von Gegenentwürfen“ würden davon abhängen, „ob es gelingt, Konflikte um die sozial-ökologische Tranformation innerhalb eines demokratischen Rahmens und einer halbwegs zivilen Staatengemeinschaft auszutragen“, und er setzt auf einen „Reformismus von oben, gepaart mit dem Druck sozialer Bewegungen von unten“. (S. 83 f.)
Zu Marxʼ Gewalt-Kritik und ihrer Relevanz für linke Politik lautet der Titel des Beitrages von Judith Dellheim, die anmahnt, sich die Analysen und Erkenntnisse von Marx, Engels und Luxemburg auch um Fragen der Gewalt im historischen Prozess anzueignen, und dies für der Zweck nicht nachlassender selbstkritischer Reflexion, wobei sie hervorhebt, dass wissenschaftliche Analysen und politische Praxis – bei den Klassikern – untrennbar zusammengehörten, wovon zu lernen ist. Ihre zentrale These lautet, „dass weil die von Kapitalakkumulation getriebene Vergesellschaftung mit Gewalt gegen die Menschen, ihre natürlichen Lebensbedingungen und Mitwelt einhergeht, muss es den Linken – mit Marx – darum gehen, auf allen Ebenen gegen diese Gewalt zu kämpfen, die Kapitalakkumulation strukturell zurückzudrängen und letztendlich zu überwinden“ (S. 89), eben auch und wesentlich die „planmäßige Ausbeutung der Erde“. (Marx, zit. S. 98)
Woher kommt der Wachstumszwang im Kapitalismus? fragt Annette Schlemm im Titel ihres Beitrages und greift im Untertitel schon vor, „(w)arum die Wachstumsdynamik unauflöslich mit dem Klassencharakter des Kapitalismus verbunden ist.“ (S. 107) Zentral mit Augenmerk auf die Zirkulationssphäre und die Durchschnittsprofitrate – wobei hinter der „Profitrate (…) die Mehrwertrate“ stecke (S. 115) – weist sie nach, „dass der Zirkulation das Klassenverhältnis zugrunde liegt“ (S. 107), was (auch) belege, dass Wachstumszwang und Klassenherrschaft unauflösbar verzahnt seien. Das „Interesse an der Kritik des gesellschaftlichen Systems“, etwa in der Losung: „‚System Change not Climate Change‘“, zeige, dass „in dessen kapitalistisch verfasster Wirtschaft die Wurzel der Probleme gesehen wird.“ (ebd.) Schlemms Fazit: „Auch das Ignorieren der Gefahr der Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen erklärt sich nur hierdurch wirklich.“ (S. 116)
Ein ökologischer Marx? Fragt Thomas Gehrig und zeigt – so im Untertitel – die „Grenzen, Fallstricke, Perspektiven eines ökologischen Marx-Bezugs“ auf, wobei er linken „Theorie-Konzepten“ vorwirft, „unzureichend“ zu sein, weil „die Prämissen fragwürdig sind und ihre Antworten oft nur den bürgerlichen Status Quo in anderen Worten wiederholen, oder im moralischen Appell enden.“ (S. 119) Zu ökologischen Problemen könne mit Marx, der nicht Ökologe gewesen sei, das Wesentlichste formuliert werden, eine Elle, die der Autor als Kritik exemplarisch an Bellamy Forster und Kohei Saito anlegt, deren Theorien kaum mit Marxʼ radikalen Schlussfolgerungen vereinbar seien. Auch Gehrig hebt das bekannte Marx-Zitat hervor (das in nahezu allen Beiträgen genannt wird): „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: Die Erde und den Arbeiter.“ (zit. S. 124) Marx habe „‚Umweltprobleme‘ (…) nicht nur gesehen, sondern auch als Systemprobleme kapitalistische Produktionsweise vielfältig analysiert“ (S. 130 f.), und Gehrigs Kritik daran, die „Marxʼsche Theorie zu ökologisieren“, lautet, diese würde „um den Preis vereinnahmt, dass sie ihren kritischen und analytischen Gehalt verliert.“ (S. 133)
Peter Röben behandelt Die Rolle der Technik in der Entwicklung des Widerspruchs zwischen Kapital und Natur und zeigt, dass und wie Entwicklung der Technik im Kapitalismus dem Kapitalzweck unterworfen ist und somit der Verwertung des Werts dient, was letztendlicher Grund für den ruinösen Umgang mit Natur sei. Röben thematisiert, dass auch neue Technologien „neue Formen der Untergrabung der Arbeitskraft“ mit sich bringen. (S. 135) Nicht die Technik an sich bringe Desaströses hervor, wie einige Sozialphilosophen glauben machen wollten, sondern Technik sei ohne die „Beziehung auf den Nutzen sowie die Verwendung“ für vorausgesetzte „Zwecke“ nicht zu „begreifen.“ (S. 138) Alles macht der Autor an Beispielen plausibel, dabei auch, dass die Steigerung der Produktivkraft sich formend auf die Konsumtion auswirkt, somit der „Konsument zum Erfüllungsgehilfen eines Wachstums“ (gemacht) wird (S. 147), das das Kapital braucht. Unterschlagen wird nicht, dass „die Erfindung neuer Technik nicht von Anfang an schon Mittel für Kapitalwachstum“ war bzw. ist (S. 154), wenngleich auch zu zeigen sei und dies im Hinblick auf Wachstum, „dass schon die Entstehung von Technik sich diesem Zweck verdankt“ (S. 153), und „alle angestoßenen Projekte der Industrie haben einen klaren Bezug auf ihre Verwertung.“ (S. 154) Röben schließt: „Erst wenn die Produktion nicht mehr durch den Zweck der Verwertung des Werts bestimmt ist, könnte eine auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtete und die Natur bewahrende Produktion realisiert werden.“ (S. 155)
Diskussion
Was den Widerspruch zwischen Kapital und Natur betrifft, steht offensichtlich ein krisenhafter Transformationsprozess ins planetare Haus. Überlegungen dazu, wie er zu bewältigen ist, changieren zwischen radikaldemokratischen Nachhaltigkeitsansinnen (vgl. Dörre) bis zu einer „höhern ökonomischen Gesellschaftsformation“ (Marx), die nur in einer bislang nie dagewesenen sozialistischen Gesellschaft zu erreichen sei (vgl. Rakowitz). Erstes deutliches Rühren der Notwendigkeit von Änderungen ist spürbar, vor allem auch in Bereichen des Sozialen. Weit reichen Warnungen zurück, die nicht erst derweil, dafür aber umso heftiger aktuell anmuten: „Wehe denen, die Haus an Haus reihen und Acker an Acker rücken, bis kein Platz mehr ist und ihr allein Besitzer seid mitten im Lande!“ (Jesaja 5, 8) Oder an jene eine Drohung, „weil sie den Unschuldigen um Geld verkaufen und den Armen wegen eines Paars Schuhe. Sie treten in den Staub das Haupt der Geringen und drängen die Elenden beiseite.“ (Amos 2, 6) Was die Propheten vor Jahrtausenden auch bewogen haben mag zu sagen, was nicht sein soll, Parallelen fallen ins Auge. Diese „Geringen“ meint im kapitalistischen Heute die Masse der Arbeiter:innen, Überflüssigen und Exkludierten, dieses „Acker an Acker rücken“ signalisiert zudem Naturzerstörung, und Befreiung von Mensch und Natur ist folglich ineinander verwoben (vgl. Ruschig), was auch am Beispiel der „Tierhölle“ (vgl. Stache) besonders augenfällig wird.
Im jetzigen Zeitalter, ob Anthropozän oder präziser Kapitalozän genannt, geht es erst einmal darum, gegen alle Täuschungen, Verblendung und Schönredereien einen klaren Blick zu bekommen. Kritik der politischen Ökonomie klärt auf. Wenn es auch nicht eng am Thema scheint, ist es sinnvoll, die Relevanz des Mantras eines Wachstums, der Wachstumsdynamik, zu erhellen (vgl. Schlemm), wie ebenso die Problematik von Gewaltförmigkeit im Prozess anvisierter Transformation für politische Intervention zu vergegenwärtigen und abzuwägen ist (vgl. Dellheim). Beides leitet hin bzw. mahnt das an, was Rosa Luxemburg verkündete: „Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat.“ Man mag beim Superlativ die Stirn krausen, weil ‚gesagt‘ bekanntlich noch nicht ‚getan‘ ist – was Diskussionen provoziert, wie etwas und was zu tun ist.
Der vorliegende Band befeuert Argumente dafür, etwas zu tun und dies mit effektiver Zielrichtung. Damit, mit einem aus anderer Optik Laster der Konsequenzen, kann gesellschaftliche Ordnung erschüttert werden, zum einen. Es braucht also „Courage“ (s.o.). Zum anderen ist es bekanntlich auch so, wie Adorno in ‚Gesellschaft‘ schreibt, „daß die Menschen dem, was ihnen angetan wird, auch ihr Leben verdanken“, woraus folge, so Adorno in ‚Negative Dialektik‘, dass sie „das ihnen Fremde zu ihrer eigenen Sache machen müssen, um zu überleben“, woraus der „Schein jener Versöhntheit“ entstehe. Tacheles gesprochen heißt das ‚unversöhnt‘ zu sein, was im Prozess alltäglicher Lebensbewältigung geradezu waghalsig werden kann, insbesondere dann, wenn man mit (radikal-)demokratischer Verve an den Staat Veränderungen adressiert und/oder das kapitalistische Mantra des Wachstums und zugleich die relative Mehrwertproduktion als Wurzel allen Übels identifiziert und auf Transformation drängt. Ob klammheimlich oder explizit mögen die (meisten) Leser:innen des Bandes die Botschaften der Beiträge bestätigen, mögen in Aufklärung einstimmen und „sagen was ist“, womit aber noch nichts ‚getan‘ ist und schon gar nicht der nervus rerum aller Verwerfungen, Dilemmata, Krisen und kollektiven wie individuellen Existenzbedrohungen eben vor allem durch demolierte und ruinierte Natur verödet ist.
Die Stimme des Intellekts und der Vernunft sei „leise“, bemerkte Freud (in Bezug auf das Triebleben), aber sie ruhe nicht, „ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch.“ Das nährt Hoffnung und ermutigt zum Handeln, was angesichts der Weltlage unabdingbar erscheint. Jüngst (so einem Teil der Presse zu entnehmen) zeigte sich eine internationale Forscher:innenkoalition „schockiert über die Heftigkeit der extremen Wetterereignisse“, wie sie unzweifelhaft mit der dramatischen Veränderung des Klimas in Zusammenhang stehen, und man sieht „die Existenz der Menschheit bedroht“ – eben (auch) jener Spezies, die selbst ‚Naturwesen‘ vermittels ihres inzwischen weltumspannenden ‚Wirtschaftens‘ ihre Lebensgrundlagen ruiniert. Diesen Aufruf von Greta Thunberg, „uproot the system!“, kommentieren die Herausgeber:innen im Vorwort: „Doch bevor man ‚etwas‘ tut, sollte man versuchen zu verstehen, was genau geschehen und warum es geschehen ist, um das Vernünftige tun zu können: das Übel an der Wurzel zu packen.“ (S. 7) Theorie, meinte Marx, müsse ‚am Menschen‘ demonstrieren und sei dann „radikal“, was meint, „die Sache an der Wurzel fassen.“ An Natur und am Menschen ist zu demonstrieren, was die „Menschheit bedroht“ und wodurch, dem durch ein vernunftgeleitetes Handeln zu begegnen wäre.
„Vernunft“, um mit Marx zu frotzeln, „hat es immer gegeben, aber nicht immer in vernünftiger Form“, was darauf verweist zu analysieren, ob und wie die vielfältigen Vorschläge, im Hier und Jetzt gangbare, d.h. realisierbare Wege zur Abwendung des Ruins von Mensch und Natur zu beschreiten, in der Tat auf „vernüftige(.) Form“ in Marxʼ Sinne Anspruch erheben können, also fußend auf der Analyse des Kapitalismus. ‚Vernunftgeleitet‘ scheinen Reformen. Da sind gravierende Einwände vorzubringen (vgl. Gehrig) und auch das Vertrauen auf Heil aus technologischem Fortschritt scheint vorab illusorisch (vgl. Röben). Sie mögen einschneidend klingen, die Reformvorschläge, ob sie die Bratwurst vom Grill verbannen oder einen ‚grün gewandeten‘ Kapitalismus reklamieren, der seine systemische Logik abschütteln soll. Damit geht es um Integration, ein zweischneidiges Schwert, und um gesellschaftlichen, mit demokratischen Mitteln machbaren Wandel im Zuge möglicher gesellschaftlicher Evolution, einer allmählichen Systemveränderung, oder Reform, einer Veränderung im bestehenden System (was im Buch auch thematisiert wird). Gerade diese Antonyme zum Begriff der Revolution fallen auf – ideologisch gut vorbereiteten – fruchtbaren Boden, weil der Begriff der Revolution im Alltagsverständnis mit Gewalt und Tod konnotiert ist, üble Begleiterscheinung auch von Klassenkämpfen. Das ist tunlichst zu umgehen, wäre da nicht die Sache mit den ‚Wurzeln‘, aus denen wie auch immer in welcher Varietät dieselbe Pflanze sprießt.
Zur Revolution wird im Nachhinein schnell geadelt, was nicht aneckt und als Fortschritt daherkommt: So die sexuelle Revolution, eingeleitet durch diesbezügliche Aufklärung von Kindern (was in „repressive Entsublimierung“ bzw. „Toleranz“ [Marcuse] umgeleitet wurde, eine Liberalisierung, die herrschende [Macht-]Verhältnisse nicht erschütterte). „Wie sag ich’s meinem Kinde?“, diese umgangssprachliche Redensart kam just in jener Zeit auf, in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Auf heute bezogen: Wie „sagen was ist“ (s.o.) und das „meinem Kinde“? Von sterbenden Wäldern bis zu dramatischem Insektenschwund, unerträglich grausamer Massentierhaltung u.v.a.m., all das geht an Kindern nicht vorbei, auch wenn sie fern von erlebbarer quasi-natürlicher Umwelt aufwachsen. Man kann sie sensibilisieren, heranführen an aktiven Natur- und Artenschutz, selbst vegetarische und auch vegane Ernährung stehen nicht außerhalb – sofern das alles regional und finanziell im Bereich der elterlichen Möglichkeiten liegt. Erst einmal bleibt alles im Dunstkreis von Reformverlangen, das unausgesprochen auch auf der Vorstellung evolutionärer gesellschaftlicher Entwicklung aufsattelt. Es sind jedoch Einfallschneisen bzw. Zuwegungen für in Hauptsache Jugendliche, die sich als Aktivist:innen in erklecklicher Anzahl gegen die systematische Naturzerstörung wenden. Sie werden, um Freuds Sentenz zu adaptieren, als „Stimme der Vernunft“ (s.o.) laut, die sich so „Gehör“ (s.o.) verschafft, protestieren selbst in Formen, die man ihnen juristisch übelnimmt, bis in den Bereich der Kriminalisierung. Sie jäten Unkraut, um im sprichwörtlichen Sprachgebrauch zu bleiben, und dürfen das, solange sie dessen Wurzeln nicht aus dem Boden graben.
Fazit
„Kapital und Natur“ gibt Antworten an die Hand – für eine immens wichtige Handlungsorientierung auf kleiner und großer Bühne in Richtung des Ziels, das ‚Übel an der Wurzel zu packen‘. Dem ‚Ziel‘ wird ggf. widersprochen werden, um ‚Handlungsorientierungen‘ zu gattern, was riskiert bleibt. Das Buch ist ein sehr empfehlenswerter Beitrag zu einem überbordenden Problem, das dringend gelöst werden muss – so oder so?
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 08.12.2023 zu:
Hans-Georg Bensch, Sabine Hollewedde, Ulrich Ruschig (Hrsg.): Kapital und Natur. Ein Widerspruch - nicht auflösbar, profitabel gemacht, die Erde zerstörend. PapyRossa Verlag
(Köln) 2023.
ISBN 978-3-89438-818-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31557.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.
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