Toni Andreß: Das postkapitalistische Manifest
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.11.2023

Toni Andreß: Das postkapitalistische Manifest. Wie wir unsere Wirtschafts- und Umweltkrisen lösen können. oekom Verlag (München) 2022. 521 Seiten. ISBN 978-3-98726-008-7. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR.
Immer weiter, immer mehr, immer ungerechter?
Das ökonomische Denken und Tun der Menschen kann entweder egozentristisch oder solidarisch sein. Die Einstellungen und Lebensmotive, wie sie sich aus den kontroversen Haltungen entwickeln, bestimmen das Verhältnis des Menschen zu sich und zur Welt. Mahnung und Kritik am kapitalistischen Denken und Tun werden spätestens seit den vor rund einem halben Jahrhundert wissenschaftlich ausgewiesenen Prognosen laut: Die Grenzen des (ökonomischen) Wachstums sind erreicht! „Weil die Rohstoffvorräte zur Neige gehen, muss die industrielle Produktion schrumpfen; und weil das Ackerland und Wasservorräte knapp werden, müssen die Menschen Hunger leiden. Wenn die Entwicklung so anhält, werden die Wachstumsgrenzen … erreicht“. Die aktuellen Bestandsaufnahmen und Krisensituationen weisen aus, dass die bereits Wohlhabenden und Besitzenden immer reicher, und die Habenichtse immer ärmer werden; lokal und global. Der Ruf nach alternativen Wirtschafts- und Lebensformen wird lauter und dringlicher (Nancy Fraser 2023, www.socialnet.de/rezensionen/​30564.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Es sind postkapitalistische Ideen und Konzepte, die einen Perspektivenwechsel, Bewusstseins- und Einstellungswandel bewirken können. Vor fast drei Jahrzehnten (1995) hat die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ angemahnt, „die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Zahlreiche DenkerInnen, GesellschaftswissenschaftlerInnen und Fachleute legen alternative Konzepte, Projekte und Lösungsvorschläge zum kapitalistischen, egozentristischen und Machbarkeitsbewusstsein vor. Sie reichen von systemerhaltenden (Paul Collier u.a. 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25338,php), bis zu evolutionären (Joseph Stieglitz, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​26587.php) und revolutionären Veränderungen (Elmar Altvater 2005, www.socialnet.de/rezensionen/3249.php). Ökonomisches und Marktgeschehen ist menschengemacht, es kann und muss auch von den Menschen als gerechtes, humanes Gut eingerichtet und gestaltet werden.
Der Berliner Wirtschaftsjurist und Ökonom Toni Andreß legt ein umfangreiches Buch zur politischen Ökonomie vor, in dem er diskutiert und thematisiert, wie alternative Systeme zum Kapitalismus entwickelt und praktiziert werden können: Es sind Theorien und Praxen, wie Formen der „Freiwirtschaftslehre“, des „Freihandels“, der „Umweltökonomik“ und des „sozialen Grundeinkommens“ zu verwirklichen sind. Mit dem „Manifest“ zeigt er auf, wie es möglich werden kann, „die neuen inneren Widersprüche des Kapitalismus herauszuarbeiten und genauere Koordinaten anzubieten, an denen sich Menschen, Bewegungen und Parteien auf dem Weg zur postkapitalistischen Gesellschaft orientieren können“ (Paul Mason, 2016). Es sind Richtungs- und Wegweisungen, wie es gelingen kann, „die Gesellschaft vom Kapitalismus zu erlösen, ohne die soziale Marktwirtschaft abzuschaffen“.
Aufbau und Inhalt
Der Autor gliedert, neben Vorwort, Einleitung und Schlusswort, seine Studie in vier Kapitel, die er titelt in „Kapital“, „Umwelt“, „Arbeit“ und „Markt“. Es sind die historischen, kulturellen und ideologischen Entstehungs- und Entwicklungsprozesse, in denen aufgewiesen wird, wie der Kapitalismus zum inhumanen, weltumfassenden, selbstverständlichen und anscheinend nicht reformbaren, ungerechten Faktum geworden ist. Gegen diese pessimistische, aktivlose Auffassung setzt Andreß den Optimismus: Alternativen zum Kapitalismus sind möglich! Mit der Überzeugung, dass „ein höheres Lebensniveau aller Bevölkerungsschichten möglich“ ist. Er diskutiert die vom Sozialreformer Silvio Gesell in den 1920er-/​1930er-Jahren entwickelte „Freiwirtschaftslehre“, die den kapitalistischen, geldwirtschaftlichen, ungleichen, instabilen Kapitalnutzungen und Produktionsergüssen ein humanes, gleichberechtigtes Contra entgegenzusetzen vermag.
Es ist die indianische, erdbewusste Weisheit, dass der Mensch Teil des natürlichen, kosmischen Lebensraums ist und sie ihm nicht gehört, die das Umweltbewusstsein bestimmen sollte. Der Umgang des Menschen mit den natürlichen Ressourcen – Luft, Boden, Wald, Wasser, Energie – muss Umwelterhaltung, nicht -zerstörung bewirken.
Der Mensch ist, um ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben führen zu können, auf Grundbedürfnisse angewiesen, wie sie in der „globalen Ethik“, der allgemeingültigen, nicht relativierbaren „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948) postuliert sind. In den von den Vereinten Nationen als nachhaltige, aktuelle Entwicklungsziele ausgewiesenen „Sustainable Development Goals“ kommt zum Ausdruck, welche individuelle und kollektive Verantwortung und Herausforderung der Menschheit obliegt:
- „No Poverty“
- „Zero Hunger“
- „Good Health“
- „Quality Education“
- „Gender Equality“
- „Clean Water and Sanitation“
- „Affordable and clean Energy“
- „Decent Work and Economic Growth“
- „Industry, Innovation and Infrastructure“
- „Reduced Inequalities“
- „Sustainable Cities and Communities“
- „Responsable Consumption“
- „Climate Action“
- „Life Below Water“
- „Life on Land“
- „Peace and Justice“
- „Partnership“.
Es sind die verschiedenen Konzepte, wie ein Grundeinkommen für alle Menschen geregelt werden kann. Der Diskurs darüber, angesichts der rapide sich verändernden, technischen Produktionen und KI-Entwicklungen, von Habenmentalitäten und Seins-Bewusstsein, erfordert ein Hab-Acht auf die Menschenwürde.
Die „unsichtbare Hand“, wie das ökonomische Marktgeschehen auch bezeichnet wird, ist so unsichtbar und automatisch nicht; der „freie Markt“ ist dirigiert und diktiert von Menschenhand. Die kapitalistischen, neoliberalen, merkantilen, nationalen und internationalen Markt- und Währungsmodelle basieren auf einem „Immer-Mehr“ und ignorieren, dass „freie Märkte“ die Werte befördern können, die für eine humane Existenz sinnstiftend und existent sind: Humanität, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit.
Diskussion
Die Suche nach einer neuen, humanen, gerechten, lokalen und globalen Gesellschaft, wie sie David Graeber (+) und David Wengrow als neue Geschichte der Menschheit erzählen (2022) und als zivilisatorische Zielsetzung propagieren (David Wengrow 2023, www.socialnet.de/rezensionen/​30551.php), ist möglich und nötig: „Wir sollten nicht nur mehr Freihandel wagen, sondern auch die Überwindung des Kapitalismus, die angemessene Bepreisung des Umweltverbrauchs sowie die Einführung eines Grundeinkommens und einer Weltwährung“ fordern und bewirken. Diese Visionen und Zukunftserwartungen lassen sich dialogisch, philosophisch, sozial, politisch und rechtlich ausdrücken (Hans Lenk 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​23859.php).
Fazit
Die Studie „Das postkapitalistische Manifest“ stellt sich als umfassendes, ganzheitliches Unterfangen des Autors dar. Es sind skizzierte und ausformulierte Ideen darüber, wie es möglich wird, durch postkapitalistisches Denken und Handeln neue Grundlagen für mehr Menschlichkeit zu schaffen.Ein mehrseitiges Abkürzungsverzeichnis, ein 87-seitiges, alphabetisiertes Literaturverzeichnis, die auf die einzelnen Kapitel ausgewiesenen, 78-seitigen Anmerkungen, und das 45-seitige, alphabetisch angeordnete Stichwortverzeichnis – insgesamt 216 Seiten des 521-seitigen, wissenschaftlichen Werks – weisen die Studie als Handbuch für politische Ökonomie aus.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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