Wilma Weiß: Philipp sucht sein Ich
Rezensiert von Conny Martina Bredereck, 24.10.2024

Wilma Weiß: Philipp sucht sein Ich. Zum pädagogischen Umgang mit Traumata in den Erziehungshilfen.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
10. Auflage.
350 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7730-8.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Basistexte Erziehungshilfen.
Thema
Das Buch richtet sich an Praktiker:innen, Studierende und Interessierte, die mit traumatisierten Menschen arbeiten oder sich für dieses Feld sowie einem adäquaten Umgang mit Betroffenen interessieren. Es wird ein Einblick in die theoretischen Grundlagen, aber auch in die praktische Umsetzung gegeben. Alle Ausführungen werden mit Biografien von Kindern und Jugendlichen veranschaulicht.
Autorin
Wilma Weiß arbeitet als Diplomsozialpädagogin seit mehr als 40 Jahren mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Als Mitbegründer:in des Fachverbands Traumapädagogik (ehemals BAG Traumapädagogik), Autor:in, Expert:in und Referent:in beeinflusst sie den Bereich der Traumapädagogik bis heute maßgeblich.
Entstehungshintergrund
Im Jahr 2004 erschien die erste Auflage aus der Notwendigkeit heraus, nach der Entstehung der Psychotraumatologie auch für die sozialpädagogische Praxis theoretische Grundlagen, Standards und Umsetzungsmöglichkeiten zu setzen.
Aufbau
Nach Danksagung, Vorworten und einer Einleitung ist das Buch in drei Themenkomplexe aufgeteilt:
Teil A – Das Trauma
Es werden theoretische Grundlagen rund um das Thema Trauma vermittelt, um für das Verständnis und für die pädagogische Arbeit eine gemeinsame Ausgangslage zu schaffen.
Teil B – Traumainformierte Pädagogik
Verschiedene pädagogische Begründungsmuster ergänzen den psychotraumatologischen Teil A und setzen theoretische Standards zum Verständnis und zum Entstehungsprozess dysfunktionaler Verhaltensweisen traumatisierter Menschen.
Teil C – Der gute Umgang der Profis
Der Blick wird auf die Praxis gerichtet, um einen guten Umgang mit sich selbst zu haben, sich professionell fortzubilden und die Institutionen stärker in die Verantwortung zu nehmen.
Inhalte
Im Teil A – Das Trauma werden im ersten Kapitel verschiedene traumatische Ereignisse dargestellt, die im Kindesalter eintreten könne und häufig auf Kinder und Jugendliche im stationären Kontext einwirkten. Fokussiert werden Vernachlässigung, seelische und körperliche Misshandlung, häusliche Gewalt, traumatische Sexualisierung, traumatische Trennung, psychisch kranke Eltern, Behinderung als traumatische Lebenserfahrung sowie Krieg und Flucht inklusive der spezifischen Risiken und deren Auswirkungen auf die Psyche der Kinder und Jugendlichen. Damit werden schädigende Lebensereignisse fokussiert, die lang anhaltend und mehrfach, häufig chronisch auf die Kinder und Jugendlichen wirken. Das zweite Kapitel benennt verschiedene Mittler-Faktoren und deren einen Einfluss auf die Verarbeitung von Traumata, um im Anschluss daran im Kapitel drei den Fokus auf entwicklungspsychologische Auswirkungen traumatischer Belastungen auf das Selbstbild, das Bindungsverhalten, daraus resultierende Rollenmuster etc. zu legen. Psychobiologisches Wissen zur Verarbeitung von Traumata im Gehirn lassen Fachkräfte und junge Menschen sowohl diverse Verhaltensweisen und körperliche Reaktionen als auch Übertragungsmechanismen oder die Funktion von Dissoziationen verstehen. Ausführlich werden im vierten Kapitel historische Aspekte rund um das Thema Trauma u.a. unter Bezugnahme auf Freud und aktuelle Debatten diskutiert. Dabei bezieht sich Wilma Weiß in ihren Ausführungen auch auf politische, feministische und emanzipatorische Bewegungen ab den 70er Jahren, die ihr traumapädagogisches Verständnis vom Konzept der Selbstbemächtigung maßgeblich prägen. Im fünften Kapitel spricht sich Wilma Weiß gegen eine Pathologisierung aus und hebt die Bedeutung der Kinder- und Jugendhilfe hervor, die sich als Verbündete der jungen Menschen verstehen soll.
Teil B – Traumainformierte Pädagogik steigt als das umfangreichste Kapitel mit einem Plädoyer für eine traumainformierte pädagogische Begleitung ein und leitet damit in das Kapitel sechs zur Traumapädagogik über. Begründet wird die Notwendigkeit der Traumapädagogik anhand des nachgewiesenen Ausmaßes traumatisierten Kinder und Jugendlicher in der stationären Kinder- und Jugendhilfe als notwendige Ergänzung des pädagogischen Alltags zu therapeutischen Settings. Überforderte Fachkräfte ohne traumasensibles Grundverständnis bzw. Wissen finden sich allerdings nicht nur in stationären Settings, sondern zeitgleich in allen anderen Einrichtungen und Institutionen, wie beispielsweise Kindertageseinrichtungen oder Schulen, sodass die Gefahr einer Stigmatisierung und Generalisierung und einer damit einhergehenden Chronifizierung der Traumafolgestörungen, ohne den Blick auf die erlernten Überlebensstrategien zu richten, relativ hoch sein kann. Für eine konstruktive Traumabewältigung braucht es nach Wilma Weiß „… den Wechsel aus der Opferrolle, die Korrektur von Verlust von Vertrauen, die Überprüfung des Bindungsverhaltens, das Verstehen des Gewordenseins, die Erkenntnis, ‚Hey, ich bin normal‘, die Anerkennung der eigenen Lebensleistung und das Erarbeiten von Fähigkeiten der Selbstregulation“ (S. 109). Verschiedene traumapädagogische Konzepte setzen unterschiedliche Schwerpunkt, wobei alle Konzepte von der Annahme des guten Grundes ausgehen, also dass das Verhalten der Kinder und Jugendlichen im Rahmen ihrer individuellen Biografie als normale Reaktion auf eine außergewöhnliche Belastung angesehen wird. Als pädagogische Wurzeln werden vor allem Bezüge zur demokratischen Pädagogik, emanzipatorischen, politischen Pädagogik sowie zur psychoanalytischen Pädagogik und Milieuarbeit genauer ausgeführt. Wilma Weiß versteht Traumapädagogik „… als eine Haltung, als konsequente Menschlichkeit“ (S. 119), die sie in den verschiedenen pädagogischen Ausrichtungen verwurzelt sieht. Vorgestellt werden der gute Grund und die Expert:innenschaft als Basis der von Wilma Weiß vertretenen Pädagogik der Selbstbemächtigung.
Komprimiert widmet sich das siebente Kapitel dem Bindungsverhalten, das oft aufgrund der Traumatisierung durch nahe Bezugspersonen gestört ist und junge Menschen ohne Sicherheit und Vertrauen hinterlässt. Zeitgleich gilt „[g]ute Bindung als Grundlage für eine Korrektur traumatischer Erfahrungen“ (S. 126). Aus diesem Grund sind korrigierende Beziehungserfahrungen, die in der Regel durch pädagogische Fachkräfte in bindungssensiblen Netzwerken geleistet werden müssen/sollen, unerlässlich und von enormer Bedeutung. Betont wird in diesem Zusammenhang allerdings eine Beziehungsvielfalt als sinnvolle Ergänzung zu Beziehungsdyaden (Gahleitner 2011, zit. n. Weiß 2024, S. 137).
Das achte Kapitel setzt den Fokus auf das von Wilma Weiß aus der Tradition der emanzipatorischen Pädagogik heraus entwickelten Konzept der Selbstbemächtigung. Über das Selbst-Verstehen, die Wahrnehmung der eigenen Körperempfindungen und der Selbstakzeptanz können sich die Kinder und Jugendlichen wieder selbst regulieren, am sozialen Leben teilhaben und Bildungschancen wahrnehmen. Deutlich spricht sich Wilma Weiß für Transparenz und Partizipation aus und zeigt auf, wie diese in der Praxis u.a. auf der Grundlage eigener praktischer Erfahrungen umgesetzt und gelebt werden können. Vor allem dem Selbstverstehen wird eine hohe Aufmerksamkeit gewidmet, indem die herausfordernden Lebensumstände und die Lebensleistung der Kinder und Jugendlichen Anerkennung erfahren, die jungen Menschen gemeinsam über ihre Biografien Solidarität und Verbundenheit miteinander erleben und so die Grundlage emanzipatorischen Handelns geschaffen werden kann.
Das neunte Kapitel setzt sich mit dem Thema Herkunft auseinander, die die Zukunft maßgeblich beeinflusst und demzufolge in einem abgesteckten Rahmen „Wie viel Wahrheit ist möglich, wie viel Wahrheit ist nötig?“ (S. 182) biografisch bearbeitet werden sollte. Kapitel zehn beschreibt, wie therapeutisches Knowhow in die pädagogische Praxis adaptiert werden kann. Dabei ist es wichtig nicht zu pathologisieren, sondern aus einem kooperativen Grundgedanken heraus therapeutisches Wissen „… zur Aufklärung, zum Verständnis von Lebensproblemen und Entlastung wie zur Verbreiterung der Handlungsfähigkeit …“ (S. 200) zu nutzen.
Das elfte Kapitel zur traumainformierten geschlechtsreflektierende Pädagogik und Sexualpädagogik setzt durch eine Enttabuisierung sexualisierter Gewalt auf die Durchbrechung von Opfer-Täter-Abfolgen sowie den Schutz vor erneuten, vor allem sexualisierten Gewalterfahrungen. Wilma Weiß hält fest, dass der geschlechtlichen Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe nach wie vor viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, obwohl die Auseinandersetzung und Bewusstwerdung der eigenen geschlechtlichen Identität häufig genau in die Zeit der Unterbringung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe fallen. Über die Auseinandersetzung mit Sexualität, heteronormativen Bildern, geschlechtlicher Sozialisation und Geschlechterrollen sowie gesellschaftlichen Geschlechtsverhältnissen sollen die Kinder und Jugendlichen befähigt werden, sich zu emanzipieren und ein positives Selbstbild und Sexualverhalten zu entwickeln. Ziel ist grundsätzlich selbst- und fremdgefährdendes Verhalten zu thematisieren, zu reflektieren und besprechbar zu machen, um so retraumatisierende Gefährdungsmomente zu minimieren.
Im zwölften Kapitel wird der sichere Ort in den Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe sowie im Rahmen der Elternarbeit genauer in den Blick genommen. Da auch in den Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe Gewalt in unterschiedlichen Ausprägungen stattfindet, müssen u.a. Schutzpläne entwickelt und umgesetzt werden. Aber auch die Elternarbeit inklusive der Besuchs- oder eventueller Rückkehrplanungen muss derart gestaltet werden, dass die Gefahr einer Retraumatisierung durch die Eltern oder andere enge Bezugspersonen minimiert wird. Im dreizehnten Kapitel hält Wilma Weiß zusammenfassend fest, dass vor allem die Haltung der Fachkräfte und die Übertragung in den pädagogischen Alltag einen entscheidenden Beitrag zur gelingenden Lebensbewältigung der Kinder und Jugendlichen leistet.
In Teil C – Der gute Umgang der Profis stehen die Fachkräfte und die Institutionen der Sozialwirtschaft im Zentrum der Aufmerksamkeit. Kapitel vierzehn macht deutlich, dass die Pädagog:innen dauerhaft mit Grenzsituationen sowie Biografien arbeiten, die die pädagogischen Fachkräfte dauerhaft belasten, unerwünschte, teils tabuisierte Gegenreaktionen hervorrufen und somit ihre psychische Gesundheit gefährden. Zeitgleich werden auch Widersprüchlichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe, gesellschaftliche Veränderungen und institutionelle Einflüsse diskutiert. Kapitel fünfzehn setzt sich mit den vier Grundkompetenzen zur Begleitung der jungen Menschen und zur Sicherung der eigenen psychischen Gesundheit auseinander: Sachkompetenz, Selbstreflexion, Selbst(für)sorge und Sinnstiftung. Das sechszehnte Kapitel fokussiert schützende Umstände. In Fort- und Weiterbildung sollen Fachkräfte ihr Fachwissen ausbauen, die Einrichtungen sollen sowohl für die Kinder und Jugendlichen aber auch für die Fachkräfte ein „… so weit als möglich sicherer Ort“ (S. 301) sein, das Team als Kraftquelle genutzt werden können, die Leitung unterstützend wirken etc. Das siebzehnte Kapitel hält fest, dass es einige Einrichtungen gibt, die diese wichtige und bedeutsame Arbeit mit den im Vorfeld beschriebenen Belastungen mit großer Leidenschaft und einer Vielzahl an Ressource leisten. Vor allem in der Sinnstiftung sieht Wilma Weiß als einen der wichtigsten Teile der Selbstsorge (S. 317).
Diskussion
Das Buch gibt einen breiten Überblick über den gesamten Bereich der Traumapädagogik. Neben praktischen Hinweisen und theoretischen Ausführungen werden auch aktuelle Diskurse berücksichtigt. Wilma Weiß gelingt es in unglaublich komprimierter Form eine Vielzahl an Fachdiskursen und -debatten über verschiedene zeitliche Epochen wiederzugeben. Immer wieder gibt es neben den genutzten Quellen auch zusätzliche Literaturtipps, in denen die einzelnen Themenblöcke vertieft werden können. Durchgängig werden die Ausführungen anhand einzelner Biografien von Kindern und Jugendlichen, teilweise im O-Ton der jungen Menschen, veranschaulicht und so von der Theorie in die Praxis überführt. Wilma Weiß stellt verschiedene Methoden vor, die sie selbst angewendet hat und die sich gut mit der Praxis verbinden lassen, im Mittelpunkt der Ausführungen stehen immer wieder die Kinder und Jugendlichen.
Deutlich wird herausgearbeitet, welche Bedeutung die Beziehung zwischen Fachkräften und jungen Menschen sowie die Haltung der pädagogischen Fachkräfte haben, die die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen enorm beeinflussen. Es ist für Fachkräfte wichtig zu wissen, dass Jugendliche die Beziehungen zu Fachkräften dann als bedeutsam erachteten, wenn sie „… eine Balance zwischen professioneller Unterstützung, alltagspraktischer Begleitung und persönlicher Beziehung …“ (Macsenaere/Esser 2015, zit. nach Weiß 2024, S. 127) herstellen konnten.
Aus der Praxis kommend ist Wilma Weiß selbstverständlich bewusst, welchen hohen Belastungen die Fachkräfte ausgesetzt sind und wie viele Anforderungen an sie gestellt werden. Demzufolge verhandelt sie auch gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Ebenen mit Blick auf den Schutz der Praktiker:innen. Aktuelle Debatten zu Kürzungen in der Sozialwirtschaft und die daraus folgenden Einsparungen sowie der seit Jahren anhaltende Fachkräftemangel führen allerdings zu Schließungen von Einrichtungen, Mehrarbeit, dem Einsatz von unzureichend ausgebildeten Quereinsteiger:innen etc., sodass sowohl die psychische Gesundheit der Fachkräfte als auch die professionelle Begleitung, Unterstützung und Beziehung zu den jungen Menschen hochgradig gefährdet sind.
Das 2004 in der ersten Auflage erschienene Buch ist 2024 in der 10. Auflage veröffentlicht worden und bietet auf anschauliche Weise einen Überblick zu dem Thema Traumapädagogik. Die Autorin selbst bringt sich von Beginn an in die Fachdebatte rund um die Traumapädagogik ein, entwickelte Standards für die Umsetzung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe und beeinflusst diese bis heute maßgeblich. Wichtig ist ihr dabei vor allem, die jungen Menschen aktiv in die sozialpädagogische Arbeit einzubeziehen und ihre Expert:innenschaft anzuerkennen.
Fazit
Das Buch eignet sich sowohl für Personen, die neu in das Thema Traumapädagogik einsteigen, als auch für Personen, die schon lange in diesem Bereich tätig sind.
Rezension von
Conny Martina Bredereck
Sozialarbeiterin/-pädagogin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humanistischen Hochschule Berlin (HHB), Schwerpunkte: Jugend- und Schulsozialarbeit, Traumapädagogik und Biografiearbeit, Freie Dozentin und Supervisorin (DGSv)
Website
Mailformular
Es gibt 6 Rezensionen von Conny Martina Bredereck.