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Roman Graf Buchheim: Drogenkonsum und Distinktion in musikzentrierten Subkulturen am Beispiel der zeitgenössischen Techno-Szene

Rezensiert von Prof. Dr. Maike Wagenaar, 29.04.2024

Cover Roman Graf Buchheim: Drogenkonsum und Distinktion in musikzentrierten Subkulturen am Beispiel der zeitgenössischen Techno-Szene ISBN 978-3-7799-7790-2

Roman Graf Buchheim: Drogenkonsum und Distinktion in musikzentrierten Subkulturen am Beispiel der zeitgenössischen Techno-Szene. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 466 Seiten. ISBN 978-3-7799-7790-2. D: 58,00 EUR, A: 59,70 EUR.

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Thema

Das Werk untersucht die (mehr oder weniger) bewusste Abgrenzung von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppierungen mit oder durch Drogenkonsum in musikzentrierten Subkulturen.

Autor

Roman Buchheim ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Augsburg. Darüber hinaus ist er in Augsburg Mitbetreiber des Nachtclubs 100 Hz. Er nähert sich dem Thema vor dem Hintergrund umfangreicher eigener Nightlife Erfahrungen und einem vertieften wissenschaftlichen Interesse.

Entstehungshintergrund

Bei der Veröffentlichung handelt es sich um die Dissertation des Autors, mit der er an der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg promoviert wurde.

Aufbau

Das Werk gliedert sich insgesamt in elf Kapitel. Vorangestellt ist diesen eine Danksagung. Die Kapitel eins bis acht umfassen die theoretische Rahmung und Hinführung zum Thema insgesamt. Kapitel neun beschreibt das methodische Vorgehen der eigenen Untersuchung. In Kapitel zehn werden die Ergebnisse der Untersuchung wiedergegeben, in Kapitel elf erfolgt eine Abschlussbetrachtung, die sich wiederum eher auf den theoretischen Rahmen bezieht. In der mir vorliegenden ersten Auflage ist das Werk im Abschnitt 8.1 falsch untergliedert. Die dort vorhandenen Abschnitte werden mit 8.2.1-8.2.3 bezeichnet.

Inhalt

1. Techno, Drogen und Distinktion – die Ankerpunkte dieser Arbeit

Im einführenden Kapitel wird kurz in die Arbeit eingeleitet. Die Forschungsfrage: „Wie funktioniert distinktives Verhalten innerhalb von Jugendkulturen, genauer gesagt innerhalb der Techno-Szene, mit besonderem (aber nicht ausschließlichem) Augenmerk auf Drogenkonsum?“ (S. 13) wird kurz erläutert. Der Aufbau der Arbeit wird Kapitel für Kapitel kurz vorgestellt, einerseits mit einer kurzen Inhaltsbeschreibung, andererseits mit einer Einordnung der Funktion des Kapitels (vgl. Abschnitt 1.2).

2. Das Konzept der Subkultur als erster Versuch einer Theoretisierung jugendfreizeitlicher Vergemeinschaftung

Dieses Kapitel stellt einen ersten Teil in der umfangreichen thematischen Hinführung dar. Der Autor thematisiert hier die begrifflichen und inhaltlichen Differenzierungen, weg vom Subkulturbegriff, über den Begriff der Jugendkultur zum Szene-Begriff. Zur weiteren Differenzierung stellt der Autor auch die amerikanische Subkulturforschung dar und bezieht sich hier auf Cohens Subkulturtheorie (vgl. S. 27).

3. Jugendliche Szenen – neue Formen adoleszenter Zusammenschlüsse vor dem Hintergrund sozialer Modernisierungsprozesse

Einführend wird hier auf die Individualisierung der Jugend und die Möglichkeit der „symbolischen Auseinandersetzung mit der Elterngeneration“ (S. 37) eingegangen, die zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit nötig ist und zu Konflikten führt. Im Weiteren wird kurz auf die Entwicklungsherausforderung Identitätsentwicklung Jugendlicher eingegangen, die der Autor als zentrale Herausforderung sieht. Etwas ausführlicher wird dann auf die primären und sekundären Kennzeichen posttraditionaler Gemeinschaften eingegangen. Dies geschieht vorwiegend durch Rückbezug auf die von Hitzler und Niederbacher entworfenen Kriterien zur Beschreibung posttraditionaler Gemeinschaften.

4. Drogenkonsum aus soziologischer Perspektive

Nachdem die beiden vorherigen Kapitel sich mit den Subkulturen und den Jugendlichenszenen beschäftigten, erfolgt in Kapitel vier eine erste Einordnung eines weiteren, zentralen Themas des Buches: Drogenkonsum. Dabei werden unterschiedliche Erklärungsansätze für Drogenkonsum beleuchtet. Zunächst widmet sich der Autor dem defizitorientierten Blick auf den „Drogenkonsum als Problemdiskurs“ (S. 55). Er macht dabei deutlich, dass, je nach Profession auch diese Sichtweise und entsprechende Werturteile unterschiedlich konnotiert sind: „Im Zusammenhang mit – gerade illegalem – Substanzgebrauch beinhalten solche Urteile u.a. Vorstellungen wie Drogenkonsum als abweichendes Verhalten (Justiz, Polizei), als Risikoverhalten (Pädagogik, Soziale Arbeit) oder als pathologisches, d.h. krankhaftes Verhalten (Medizin, Psychologie)“ (ebd.). Neben dem Drogenkonsum als Problemdiskurs widmet sich der Autor auch dem Substanzkonsum (hier wird der Begriff der ‚Droge‘ verlassen und durch Substanz ersetzt) als sinnhaftem sozialen Handlungsmuster. Daran schließt sich unmittelbar die kurze Einführung in den Substanzkonsum in der Techno-Szene an.

5. Distinktion als Strukturprinzip zeitgenössischer Klassengesellschaften

Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln alle anderen für die Arbeit relevanten Begriffe definiert und kurz in einen Zusammenhang gestellt wurden, erfolgt in Kapitel fünf eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Distinktion und seinen theoretischen Hintergründen aus Bourdieus Theorie sozialer Praxis. Der Autor begründet die ausführliche Auseinandersetzung mit dem Themenbereich wie folgt: „Will man die Wirkung distinktiver Logiken in jugendlichen Szenen untersuchen, muss nicht nur vorausgesetzt werden, dass solche Distinktionen dort überhaupt auftreten, sondern auch, dass eine gültige, nominelle wie operationale Definition dieser Kategorie erfolgt. Letzteres ist nur möglich, wenn man Distinktion nicht als begriffliche Heuristik verwendet, sondern den expliziten Rekurs auf ihren wissenschaftlichen Ursprung vollzieht“ (S. 16 f.). Inhaltlich widmet er sich unter anderem den Unterschieden „zwischen Bourdieus Habitustheorie und der Theorie des historischen Materialismus“ (S. 69), der unterschiedlichen Verteilung der drei Arten (ökonomisch, kulturell, sozial) des gesellschaftlichen Kapitals (vgl. S. 72 f.) und, besonders ausführlich, dem „Habitus als immanenter sozialer Wegweiser“ (S. 82). Der Autor kommt in der abschließenden Betrachtung der Anwendbarkeit von Bourdieus Theorie auf seine Untersuchung zu Subkulturen zu dem Schluss: „Trotz allem lassen sich zahlreiche seiner Konzepte, in erster Linie Habitus, Geschmack und Distinktion auf Subkulturen und vergleichbare Gebilde übertragen, da auch diese stratifiziert sind und anhand symbolischer Differenzierungsmechanismen operieren“ (S. 97).

6. Drogenkonsum und Distinktion als wiederkehrende Handlungspraktiken in historischen Jugend- und Musikkulturen

Das Kapitel sechs widmet sich der historischen Betrachtung der Jugend- und Musikkulturen anhand einiger exponierter Beispiele. So wird die „Cat Culture als delinquente, ethnisch homogene Drogensubkultur“ (S. 100) betrachtet. Finestones wegweisendes Essay hatte diese Gruppe 1957 beschrieben und damit einen Grundstein für spätere Untersuchungen zu Subkulturen mit Substanzkonsum gelegt (vgl. S. 105). Weiterhin geht der Autor unter anderem ausführlich ein auf die „Beat Generation als erste amerikanische Jugendkultur mit gesellschaftlicher Breitenwirkung“ (S. 109). Besonders ausführlich widmet er sich dann der „Hippie-Bewegung als paradigmatische Gegenkultur der Mittelschicht“ (S. 120). Insgesamt wird mit diesem Kapitel die Tradition deutlich, in der sich heutige Jugend- und Musikkulturen bewegen bzw. aus der sie kommen.

7. Die Techno-Szene der späten 1990er und frühen 2000er-Jahre als Inbegriff jugendkultureller Individualisierungsprozesse

Nachdem in Kapitel sechs der Blick breit auf Musikkulturen allgemein lag, widmet sich das Kapitel sieben der Techno-Szene, die zentraler Gegenstand der Untersuchung des Buches ist. Hier wird sich speziell auf die Zeitspanne bezogen, die als Hoch-Zeit des Techno und als Hoch-Zeit des Forschungsinteresses an dieser Subkultur betrachtet werden kann. In dem Kapitel wird die historische Entwicklung vom Underground zur Massenbewegung und zurück nachgezeichnet sowie die Wechselwirkung der persönlichen und gesellschaftlichen Bedeutung.

8. Die heutige Techno-Szene zwischen Stagnation und Regression

Aufbauend auf dem Kapitel sieben erfolgt in Kapitel acht eine aktuelle Betrachtung des „Techno im Wandel der Zeit“ (S. 181). Dabei unterteilt der Autor die Betrachtung der Veränderungen in sozialstrukturelle, stilistisch-symbolische und drogenspezifische (vgl. ebd.). In Bezug auf die drogenspezifischen Veränderungen kommt er beispielsweise zu der Erkenntnis: „Der Ecstasy-Rausch stellt die symbolische Akzentuierung einer hedonistischen Jugendkultur der zweiten Moderne dar – die sich (vermeintlich) jenseits der Grenzen von Klasse, Schicht und Milieu bewegt – indem Gefühle von Gemeinschaftlichkeit und Verbundenheit induziert werden, die angesichts der anonymen Massen, welche die populären Techno-Veranstaltungen bevölkern, kontrafaktisch erscheinen“ (S. 199). Er konstatiert weiter: „Techno ist daher auch unter dem Eindruck neuer Substanzen wie Ketamin nach wie vor eine drogenkonsumierende Jugendkultur, aber keine Drogenkultur, genauso wie technoide Distinktion zwar über Drogen funktioniert, sich aber nicht auf diesen Wirklichkeitsausschnitt beschränken lässt“ (S. 202). Nach dieser Bestandsaufnahme des Spannungsfeldes von heutigem, säkularisiertem Techno und Drogenkonsum unterzieht der Autor diese Betrachtung einer Gegenüberstellung mit Bourdieus Theorie der Praxis und geht speziell ein auf die „Distinktion in der ästhetischen Subkultur Techno“ (S. 215). Er kommt zu dem Ergebnis, „dass die Techno-Szene als Ganzes Merkmale eines sozialen Feldes aufweist, und dass – basierend darauf – Aspekte der Theorie sozialer Praxis zum Tragen kommen“ (ebd.).

9. Methodische Aspekte des Untersuchungszusammenhangs

Nach 216 Seiten der theoretischen Hinführung, wird in Kapitel neun die Methodik der Untersuchung in den Blick genommen. Hier wird der Forschungsansatz, die Forschungsidee sowie das Erhebungsinstrument (Online Fragebögen) sehr kurz konkretisiert. Das verwendete Verfahren der Strukturgleichungsmodellierung zur Auswertung wird mit den entsprechenden Berechnungsformeln und Gleichungen ausführlicher vorgestellt (vgl. Abschnitt 9.5).

10. Zentrale empirische Ergebnisse der Szene-Studie „Techno & Du“

In Kapitel zehn erfolgt die Darstellung der eigenen Forschungsergebnisse. Dazu werden die in der Online-Befragung erhobenen Erkenntnisse analysiert. „Den Kern der Analyse stellt das Strukturgleichungsmodell zur distinktiven Praxis im lokalen Technogeschehen dar, mittels dessen Einfluss der vier szenischen Kapitalformen (materielles, kulturelles, soziales und drogales Kapital) auf das Bewusstsein über symbolische Grenzen innerhalb der subkulturellen Szene untersucht werden soll“ (S. 261). Zunächst werden die „Deskriptive[n] Merkmale der Stichprobe“ (ebd.) wie z.B. Alter, Schul- und Bildungsabschluss, Beziehungsgestaltung, Szenezugehörigkeit und Drogenkonsum vorgestellt. Daran schließt sich das „empirische Modell der Kausalanalyse – die Wirkung von Drogenkompetenz und subkulturellem Kapital auf das Distinktionsbewusstsein“ (S. 304) an. Hier werden Hypothesen zum materiellen, kulturellen, sozialen und drogalen Szenekapital aufgestellt und überprüft mithilfe einer Kausalanalyse in den sechs Schritten:

„A. Hypothesenformulierung (der Strukturhypothesen)

B. Konzeptualisierung und Operationalisierung (der Messhypothesen)

C. Univariate Statistiken und Prüfung der Testvoraussetzungen

D. Prüfung der Messmodelle

E. Test des Strukturgleichungsmodells

F. Evaluation und Interpretation der Ergebnisse“ (S. 304).

Insgesamt kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass von seinen fünf Forschungshypothesen zwei bestätigt werden konnten und drei verworfen werden müssen. Er kommt dabei zu selbstkritischen Aussagen wie: „Ganz grundlegend lässt sich sicherlich die Stichprobenakquise kritisieren, die hier eher pragmatischen Überlegungen gefolgt ist. […] Diskutabel ist sicherlich auch die modelltheoretische Entscheidung für das Verfahren der Kausalanalyse, deren Stärken nicht zuletzt da zum Tragen kommen, wo echte experimentelle Designs (statt einmaliger Querschnittserhebungen) vorliegen“ (S. 387).

11. Abschlussbetrachtungen und Ausblicke – zentrale Ergebnisse und Ansatzpunkte für weitere Untersuchungen

Das abschließende Kapitel rekapituliert die in den einführenden Theorieteilen gewonnenen Erkenntnisse. Hier wird, wiederum in komprimierter Form, auf vorher Erarbeitetes Bezug genommen, wie beispielsweise auf die „Szene- und Subkulturforschung“ (S. 389), die „aktuelle Drogendebatte“ (S. 391) etc. Eine tiefergehende Verknüpfung mit den eigenen Untersuchungsergebnissen bleibt hier aus. 

Diskussion

Das Buch gibt einen guten, auch historischen, Überblick über die Szeneentwicklung in den verschiedenen Musikszenen, insbesondere in der Techno-Szene. Es macht den Zusammenhang zwischen Substanzkonsum und Musikszenen deutlich und nimmt dabei auch die Ambivalenz, dass nicht jeder Konsum innerhalb einer Musikszene szeneprägend ist, mit auf. Schlüssig und ausführlich nimmt der Autor Bourdieus Theorie sozialer Praxis auf und macht sie für seine Untersuchung nutzbar. Neben der starken theoretischen Analyse fällt die eigene Untersuchung ab. Hier wird nicht das volle Potenzial gehoben. Der Autor gibt beschreibende Daten über die Stichprobe wieder und unternimmt den Versuch, in einer kleinteiligen Analyse anhand von Berechnungsformeln Kausalitäten herzustellen. Hier wäre für die Lesenden neben der Herleitung der Berechnungsformeln mehr an Auswertungsergebnissen und deren Einordnung in die vorhergehende Theorie sinnvoll und gewinnbringend gewesen.

Fazit

Das Werk gibt einen guten theoretischen Überblick über die Entwicklung von Musikszenen allgemein, den Zusammenhang von Techno – Szene und Drogenkonsum und beschäftigt sich mit Bourdieus Gedanken der Distinktion. Wer hier jedoch tiefergehende Erkenntnisse in Bezug auf die untersuchte Zielgruppe erwartet, wird enttäuscht.

Rezension von
Prof. Dr. Maike Wagenaar
Professur für Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Sozialpsychiatrie und Suchthilfe, Hochschule Hannover
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Es gibt 4 Rezensionen von Maike Wagenaar.

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Zitiervorschlag
Maike Wagenaar. Rezension vom 29.04.2024 zu: Roman Graf Buchheim: Drogenkonsum und Distinktion in musikzentrierten Subkulturen am Beispiel der zeitgenössischen Techno-Szene. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. ISBN 978-3-7799-7790-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31574.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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