Farhan Samanani, Ulrike Kretschmer: Miteinander
Rezensiert von David Kreitz, 04.01.2024

Farhan Samanani, Ulrike Kretschmer: Miteinander. Über das Zusammenleben in einer gespaltenen Welt. Hanser Berlin (Berlin) 2023. 368 Seiten. ISBN 978-3-446-27385-6. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Thema
„Wie können wir mit denen leben, die anders sind als wir?“ Diese Frage spiegelt für Farhan Samanani das dringlichste Problem unseres Jahrhunderts wider. Multi-Diversität ist ihr Markenzeichen, sei es hinsichtlich ethnischer, politischer, religiöser, kultureller Hintergründe und Überzeugungen. Gesellschaftliche Spaltung ist dabei das drohende Damoklesschwert, was auch breit angelegte Polarisierungsstudien (Mau/Lux/Westheuser 2023; Vorländer et al. 2023; Zusammenhaltsbericht 2023) zeigen. In Samananis Buch geht es darum, dass „die Geschichte, dass Andersartigkeit stets eine Bedrohung in sich birgt“, dass sie „unweigerlich mit Konflikten einhergeht“, immer wieder erzählt, durchgespielt und bestärkt wird, dass es aber möglich ist „andere Geschichten über Verschiedenheit zu erzählen“. Diese anderen Geschichten findet Samanani sowohl in anthropologischer Forschung zahlreicher Wissenschaftler*innen als auch in seinen eigenen Forschungsarbeiten zum Londoner Viertel Kilburn. Sie verdeutlichen statt Spaltung und Konflikt Möglichkeiten der Solidarität unter Verschiedenen.
Autor
Farhan Samanani ist Sozialanthropologe. Der gebürtige Kanadier hat in Oxford studiert und in Cambridge promoviert. Danach hat er am Max-Planck-Institut für multiethnische und multireligiöse Gesellschaften in Göttingen geforscht. Er ist derzeit am Londoner Kings College tätig. Seine Publikationen richteten sich bisher an ein sozialwissenschaftliches Fachpublikum. „Miteinander“ ist sein erstes Buch für eine breitere Öffentlichkeit.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in 3 Teile mit jeweils 3 Unterkapiteln. Diese Kapitel werden im Folgenden inhaltlich kurz umrissen.
Teil I: Stamm
Kapitel 1: Reisen stellt in Frage, dass die Spaltung in Gruppen und Konflikt zwischen diesen ein unvermeidbarer, natürlicher Bestandteil menschlichen Zusammenlebens ist. Samanani bringt uns v.a. die Sichtweise des Anthropologen näher: Kultur ist allgegenwärtig und prägend, daher müssen die kulturellen Perspektiven der anderen erforsch werden, was zunächst bedeutet diese ernst zu nehmen. „Erst der Blick auf andere Kulturen macht es uns möglich, unsere eigenen nicht als naturgegeben oder allgemeingültig zu betrachten“. Hier führt er uns auch in sein Untersuchungsgebiet Kilburn ein.
In Kapitel 2: Nah und fern diskutiert der Autor die Rolle, die Empathie und Abstraktionsvermögen sowohl für das Gefühl von Verbundenheit als auch für das Gefühl der Spaltung haben können. Empathie kann uns mit anderen verbinden, sie entwickelt sich aber in einem sozialen und kulturellen Nahbereich und ist daher nie neutral oder allumfassend, sondern selektiv. Abstraktion hingegen hilft dabei Dinge zu klassifizieren und somit verschiedene Sichtweisen zu verallgemeinern und aufeinander zu beziehen, was Verständigung ermöglicht. Unsere Alltagssprache hingegen, die Bezug nimmt auf persönliche, konkrete Erlebnisse und unser subjektives Erleben, erschwert diese Verständigung teilweise.
Kapitel 3: Wir und sie thematisiert verschieden Auffassungen von menschlicher Diversität rund um den Globus. Entgegen der Vorstellung fester Gruppengrenzen und -antagonismen, konfrontiert Samanani die Lesenden mit Erkenntnissen zur Fluidität solcher Grenzen und – oftmals als starr angesehener – Identität. Letztere entpuppt sich einerseits als „recht chaotisch und ausgesprochen dynamisch, immer vielfältig, immer im Wandel begriffen“, andererseits kann all das, was sich außerhalb unseres aktuellen eigenen Identitätsverständnisses befindet, extrem befremdlich wirken und abgelehnt werden.
Teil II: Wurzeln
In Kapitel 4: Wir, das Volk untersucht der Autor die Perspektive zweier Schlüsseltraditionen der Demokratie – Liberalismus und Republikanismus – auf Andersartigkeit. „In der Tradition des klassischen Republikanismus ergibt sich die Fähigkeit der Menschen, sich am politischen Leben zu beteiligen, […] aus den unterschiedlichen Standpunkten“, die in politische Aushandlungsprozesse aber aktiv eingebracht werden müssen. „Im Gegensatz dazu argumentiert der Liberalismus, die Menschen verdienten die politische Beteiligung aufgrund bestimmter gemeinsamer Wesenszüge. Hier bildet die Gleichartigkeit, nicht die Andersartigkeit die Grundlage des öffentlichen Lebens.“ Der Republikanismus, so ließe Samanani sich verstehen, verspricht Anerkennung als Bürger*in durch Aktivität, der Liberalismus durch geteilte Menschlichkeit.
In Kapitel 5: Warten geht es genau darum: die Erfahrung ausgeschlossener Gruppen, dass Warten ein essenzieller Bestandteil ihres Kampfes um Gleichberechtigung ist. Die Geschichte dieses Wartens gelte es zu verstehen, die Samanani wiederum an zahlreichen konkreten biografischen Beispielen illustriert. Dabei wird Warten als ein Schwebezustand deutlich: die Unsicherheit bzgl. des Asylantrags, die Schwierigkeit der Arbeitssuche, Bemühungen um Familienzusammenführung oder auch um Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Insbesondere das Warten auf Solidarität anderer Gruppen führe oft dazu, dass statt „echter“ Anerkennung und Zugehörigkeit, zunächst rechtliche Gleichheit erstritten wird.
Kapitel 6: Liebe und die Grenzen der Gleichheit intensiviert diese Auseinandersetzung zwischen dem, „was das Gesetz über Gleichheit sagt, und den wahren Gefühlen, die die Menschen einander entgegenbringen“, denn Gleichheit hat eine Nähe zu Gleichartigkeit, was sie wiederum in Widerspruch zur Andersartigkeit setzen kann, besonders wenn sie von oben gesetzlich angeordnet ist. Die im Kapitel genannte Liebe wiederum, wird unter Rückgriff auf James Baldwin als „ein Akt des Glaubens an andere“ politisiert und kulminiert in der Frage: „Was können wir gemeinsam sein?“
Teil III: Verflechten
Kapitel 7: Verzauberungen nimmt sich der Idee eines postfaktischen Zeitalters an. Dabei möchte Samanani Wahrheit mit den Latour’schen Begriffen Tatsachen und Anliegen fassen. Tatsachen sind festgestellt, Anliegen sind offen. „Die Menschen brauchen keine definitiven Antworten, sondern Wissensformen, die Raum fürs Erforschen und Experimentieren beinhalten“, also keine Expert*innen mit Durchsetzungsmacht, sondern Möglichkeiten des Ausprobierens und Reflektierens.
In Kapitel 8: Die Geschichte umschreiben geht es noch einmal um die Macht von Geschichten. Wenn die „Vervielfachung der Geschichten, die wir benutzen, um unsere Welt zu verstehen“, dazu führt, dass „die Schnittmengen dieser Geschichten gleichzeitig schrumpfen“, dann fühlen wir uns umso weniger verbunden. Was wiederum dazu führt, dass wir weniger bereit sind, für andere etwas zu tun. Geschichten müssen daher konkret, nicht abstrakt, sein. Sie müssen übersetzt werden, sowohl sprachlich als auch lebensweltlich, ohne beim Verzicht auf eine universelle Sprache aus den Augen zu verlieren, dass manche Angelegenheiten universell sind.
Kapitel 9: Neue Republiken nimmt in den Blick, wie gemeinsame Verpflichtungen in einer städtischen Gemeinde dazu führen können, aus kollektivem Engagement neue Überzeugungen zu schaffen. So ist die gemeinsame Tätigkeit Grundstein für eine Perspektive, die „Gemeinschaften nicht als Mosaik aus separaten Gruppen“ sieht, „sondern als Gobelin aus miteinander verflochtenen Fäden“.
Diskussion
Farhan Samananis Plädoyer für Geschichten kooperativen Gelingens kann man nur sympathisch finden. Auch überzeugt seine Argumentation, klassische liberale und klassische republikanische demokratische Perspektiven aufeinander zu beziehen. Die Schwierigkeit, neue tragfähige konkrete und situativ passende Geschichten zu erzählen, die bestehen können, gegen die wiederholten Darstellungen des stressigen, konfliktgeladenen Gegeneinanders in diversen Gesellschaften, wird von Samanani deutlich benannt. Seine eigenen Beispiele aus Kilburn sind dabei besonders lesenswert. Sie lockern die Lektüre nicht nur auf, sie illustrieren vielmehr das, was Samanani theoretisch ausführt.
Freilich muss es kritisch stimmen, wenn der Autor Konflikte durchweg eher negativ darstellt und nicht das von Aladin El-Mafaalani benannte „Integrationsparadox“ bedenkt: sich zunächst irgendwie unauffällig ein- und unterordnende Migrant*innen werden in Folgegenerationen eigene Vorstellungen in den politischen Diskurs ihres neuen Landes mit einbringen. Sie sehen es als wert und wichtig an, die Geschicke der neuen Heimat mitzubestimmen, was automatisch zu Konflikten führt, was aber wiederum als positives Integrationsmerkmal gesehen werden muss.
Leerstellen bei Samanani bleiben leider auch überzeugte politische und religiöse Extremist*innen, die keinerlei Interesse an alternativen Geschichten der Kooperation und des gelingenden Miteinanders haben, sondern lieber alternative Fakten streuen, die ihren rassistischen, patriarchalen, misogynen, antisemitischen Einstellungen entsprechen.
Fazit
Ein lesenswertes Buch, mit einer positiven Vision für unsere durch Verschiedenheit geprägten Gesellschaften. Die Kraft kluger politischer und gesellschaftlicher Narrative wird von Samanani zwar möglicherweise überschätzt, seine Beispiele zeigen jedoch, dass es sich lohnt den Schwierigkeiten gelingenden Storytellings nicht auszuweichen. Populistische Parteien haben es mit ihrem Spaltungsnarrativ und ihrer „Wir-gegen-die“-Darstellung oft einfacher, aber ein Dagegenhalten ist notwendig. Die Geschichten aus dem superdiversen Kilburn machen Mut, dass dies gelingen kann.
Rezension von
David Kreitz
M.A., pädagogischer Mitarbeiter für politische Erwachsenenbildung bei der HVHS Mariaspring und freiberuflicher Trainer für wissenschaftliches Schreiben.
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