Tanja Sappok: Psychische Gesundheit bei Störungen der Intelligenzentwicklung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 28.05.2024

Tanja Sappok: Psychische Gesundheit bei Störungen der Intelligenzentwicklung: ein Lehrbuch für die Praxis. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 2., erweiterte und überarbeitete Auflage. 608 Seiten. ISBN 978-3-17-041146-3. 69,00 EUR.
Thema
Zeitgemäße und leitliniengerechte Behandlung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankung sind Gegenstand des vorgelegten Buches. Grundlage sind Gespräche mit Familien zur psychischen Gesundheit und Lebensqualität. Systematisch werden psychische und häufig vorkommende körperliche Krankheitsbilder vorgestellt, wobei die evidenzbasierten Fakten durch eine subjektive Perspektive ergänzt werden. Der Fachteil fokussiert auf Besonderheiten in der Symptompräsentation, Diagnostik und Therapie, anschaulich wird der interdisziplinäre und multiprofessionelle Ansatz aufgezeigt. Die 2. Auflage ist u.a. erweitert durch die Themenfelder: sensorische Beeinträchtigungen, Unterstützte Kommunikation, rechtliche Aspekte und herausfordernde Verhaltensweisen.
Autorin
Die Herausgeberin Tanja Sappok ist Direktorin der Universitätsklinik für Inklusive Medizin, Medizin für Menschen mit Behinderungen in Bethel und Universitätsprofessorin für Psychische Gesundheit bei Menschen mit Behinderungen, Schwerpunkt psychische Gesundheit, an der Fakultät für Medizin der Universität Bielefeld. Sie arbeitet an diversen Themengebieten rund um die psychische Gesundheit von Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung, insbesondere Autismus-Spektrum-Störungen, emotionale Entwicklungsstörungen, Verhaltensstörungen und Demenzen. Sie setzt sich mit ihrer Arbeit für die Verbesserung der medizinischen Versorgung von Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung ein.
Aufbau und Inhalt
Dieses Lehrbuch für die Praxis ist im Softcover-Format in zweiter, erweiterter und überarbeiteter Auflage erschienen und hat einen Umfang von 608 Seiten, die sich in vier Teile und 72 Kapitel gliedern. Zusätzlich wird online Material zum Download bereitgestellt. Die Texte sind in Spaltenform strukturiert, was das Lesen erleichtert. Zahlreiche Tabellen und Abbildungen erklären Sachverhalte, Fallvignetten heben sich durch Markierungen vom Fließtext ab. Am linken oberen Seitenrand ist zur Orientierung die Nummer des jeweiligen Teils abgedruckt, auf dem rechten Rand die jeweilige Überschrift.
Jedes Kapitel ist gleich aufgebaut: Den Anfang macht die „subjektiven Perspektive“ und erst dann folgen die fachlichen Inhalte. Blaue Textboxen fassen wichtige Aussagen unter der Überschrift „Auf den Punkt gebracht“ zusammen. Am Ende des jeweiligen Kapitels sind Literaturquellen zusammengestellt und am Ende des Buches gibt es ein Stichwortverzeichnis zur erleichterten Suche nach einzelnen Begriffen sowie Angaben zu Autorinnen und Autoren.
Herausgeberin ist Tanja Sappok, die selber zum Buch sagt, es sei eine „Co-Produktion 2.0“ (S. 13). Es ist gelungen, interdisziplinäre und multiprofessionelle Sichtweisen zu verschränken und durch Beiträge von Betroffenen und deren Angehörigen zu ergänzen
- Teil I. Einführung
- Teil II: Der Mensch liefert den Kontext: Gespräche über das Leben und Behinderung
- Teil III: Fachteil: Psychiatrische und relevante körperliche Störungen
- Teil IV: Die Gesellschaft als Kontext
Einführend werden in Teil I (Kap. 1–2) Störungen der Intelligenzentwicklung mit Überlegungen zur Begrifflichkeit und dazu Ausführungen zur psychischen Gesundheit und intellektuelle Entwicklung erläutert.
Im Mittelpunkt des zweiten Teils (Kap. 3–12) steht der Mensch. Er liefert den Kontext für das Buch. Tanja Sappok führte acht verschiedene Gespräche mit Einzelpersonen, Paaren oder Familien über deren Leben und über das Verständnis zur Behinderung. Alle acht Gespräche bzw. schriftlichen Dialoge tragen unterschiedliche Titel, manche sind Originalzitate wie z.B. „Behinderung als 'Andersartigkeit' eines Menschen“, „der Umstand, dass jemand dasselbe anders sieht, ist ungeheuer kostbar“ oder „alle Menschen brauchen einen Sicherheitsraum“. Der zweite Teil endet mit zusammenfassenden Gedanken der Herausgeberin.
Der Fachteil III (Kap.13-62) „Psychiatrische und relevante körperliche Störungen“ setzt sich aus 49 Kapitel verschiedener Autorinnen und Autoren zusammen z.B. genetischen Störungen, Abhängigkeitserkrankungen, schizophrenen Störungen, affektive Störungen und Zwänge sowie Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Autismus, ADHS, Traumafolgestörungen, FASD, Epilepsie oder Adipositas. Diese zweite Auflage wurde um die Themenfelder sensorische Beeinträchtigungen, Unterstützte Kommunikation, rechtliche Aspekte und herausfordernde Verhaltensweisen erweitert. Tanja Sappok führt die kognitive Leistungsdiagnostik sowie die emotionale Entwicklungsdiagnostik, abgekürzt mit SEO oder SEED aus, dieser Ansatz wird in Kapitel 55 S. 470- 475 unter der Überschrift „Entwicklungsbasiertes Arbeiten“ vertieft. Ein Kapitel ist dem Einsatz von Psychopharmaka bei Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung von Christian Schanze vorbehalten. Zum Ende des dritten Teils werden Behandlungsformen wie die Psychotherapie, die Dialektisch-behaviorale Therapie – DBT, die Positive Verhaltensunterstützung, die Systemische Therapie, Token-Konzepte zur Verhaltensmodifikation, der TEACCH-Ansatz zur autismusfreundlichen Begleitung sowie Musik-, Kunst- und Theatertherapie besprochen. Auch die Autonomieentwicklung und Bindung werden thematisiert und anschließend eine bindungsbasierte Therapie vorgestellt. Dieser Fachteil schließt mit der Darstellung einer mentalisierungsbasierten Förderung, denn Metallisieren ist erlernbar. Der sog. „Low Arousal-Ansatz“ macht die Grundhaltung in der Begleitung von Menschen, die sich herausfordernd verhalten, deutlich, wichtig ist auch das Wissen zu Unterstützter Kommunikation (UK) und der Umgang in Krisensituationen, Krisenmanagement und Krisenauswertung.
Die Gesellschaft als Kontext ist der Titel des vierten Teils (Kap. 63–72), beginnt mit rechtlichen Aspekten, Ausführungen zum Zugang zum Gesundheitswesen für Menschen mit Autismus und dem Aufbau eines Zentrums für Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung und psychischer Erkrankung in Berlin mit Beschreibung einer pflegerische Koordinationsstelle zur Behandlung von Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung in einem Allgemeinkrankenhaus, dem Aufbau eines neuropsychiatrischen Zentrums für Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung und psychischer Erkrankung in der Schweiz, mit Informationen zu der psychosozialen und psychiatrischen Versorgung in Österreich und der Entwicklung und Aufgaben von Medizinischen Zentren für erwachsene Menschen mit Behinderung (MZEB) am konkreten Beispiel des Sengelmann-Instituts für Medizin und Inklusion (SIMI) in Hamburg. Dieser Teil schließt mit der Darstellung des Aufbaus eines flächendeckenden Netzwerks für Angehörige am Beispiel von Autismus Deutschland e.V. sowie Ausführungen zu Selbsthilfeverbänden für Menschen im Autismus Spektrum ab.
Diskussion
2018 erschien die erste Auflage des Buches, nun 2023 die erweiterte und überarbeitete Neuauflage dieses Herausgeberwerkes, was zeigt, wie bedeutsam die Thematik ist. Diese Auflage wurde u.a. erweitert durch die Themenfelder sensorische Beeinträchtigungen, Unterstützte Kommunikation, rechtliche Aspekte und herausfordernde Verhaltensweisen.
Zu Anfang jeden Kapitels findet sich eine Übersicht, wie das beschriebene Krankheitsbild einzuordnen ist. Dazu finden sich neben den Erklärungen im Fließtext zahlreiche Tabellen und Textboxen, die das Wissen anschaulich zusammenfassen.
Die Teile zeigen: im Mittelpunkt steht der Mensch, es folgt der Fachteil und dann der Blick auf die Gesellschaft. Tanja Sappok hat viele Jahre in Berlin am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (kurz KEH) gearbeitet und ist im Jahr 2022 für den Lehrstuhl Behindertenmedizin nach Bielefeld berufen worden und 2023 übernahm sie zudem die Leitung der Universitätsklinik für inklusive Medizin in Bethel. Schon lange beschäftigt sie sich mit dem Themenkomplex zur zeitgemäßen und leitliniengerechte Behandlung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankung.
Bei dem vorgestellten Ansatz SEO oder heute SEED handelt es sich um einen entwicklungspsychologischen Ansatz als Erklärungsmodell für Verhaltensweisen von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung. Durch die Berücksichtigung des emotionalen Entwicklungsstandes können emotionale Bedürfnisse und individuelle Wünsche besser verstanden werden, sodass pädagogische und therapeutische Interventionen zur Förderung und Unterstützung von Autonomie, Inklusion, sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe passgenauer angeboten werden können. Tanja Sappok hat 2016 gemeinsam mit ihrer damaligen Kollegin Sabine Zepperitz ein Buch zur Methodik SEO mit dem Titel „das Alter der Gefühle“ herausgebracht, eine Rezension liegt bei socialnet vor (https://www.socialnet.de/rezensionen/​21295.php).
Fazit
Ein (ge-)wichtiges Herausgeberwerk zur zeitgemäßen und leitliniengerechten Behandlung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankung! Systematisch werden psychische und häufige körperliche Krankheitsbilder vorgestellt, wobei die evidenzbasierten Fakten durch eine subjektive Perspektive ergänzt werden. Der Fachteil fokussiert auf Besonderheiten in der Symptompräsentation, Diagnostik und Therapie, anschaulich wird der interdisziplinäre und multiprofessionelle Ansatz aufgezeigt.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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