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Ulrich Bahnsen: Das Uhrwerk des Lebens

Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut Kreß, 23.02.2024

Cover Ulrich Bahnsen: Das Uhrwerk des Lebens ISBN 978-3-86995-136-2

Ulrich Bahnsen: Das Uhrwerk des Lebens. Wie die Medizin den Code des Alterns entschlüsselt. Quadriga Verlag Bastei Lübbe AG (Köln) 2023. 240 Seiten. ISBN 978-3-86995-136-2. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 32,50 sFr.

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Thema

Die derzeitige bio- und gentechnologische Forschung lässt es denkbar erscheinen, in absehbarer Zukunft die Lebensspanne von Menschen beträchtlich zu verlängern. Das Buch schildert den Forschungsstand.

Autor

Der Buchautor ist promovierter Neurogenetiker. Seit 2001 ist er als Wissenschaftsredakteur in der Wochenzeitung „Die Zeit“ tätig und hat dort zum Thema seines Buches einschlägige Artikel veröffentlicht.

Aufbau

Nach einer kurzen Einführung („Das Ende der Vergänglichkeit“) enthält das Buch drei Teile. Sie entfalten, dass die Biotechnologie neuerdings so weit fortgeschritten ist, den Prozess des menschlichen Alterns beherrschen und ihn künftig möglicherweise steuern, ja sogar umkehren zu können.

Der erste Buchteil steht unter der Überschrift „Das neue Bild des Alterns“. Er mündet in die These ein, zurzeit beginne „ein grundlegender Umbruch in der Geschichte der Menschheit, unbemerkt von der Politik, den Medien, der Öffentlichkeit“ (S. 26). Im nachfolgenden ausführlichen zweiten Teil („Die Mechanik des Lebens und Sterbens“) präsentiert der Autor einen Forschungsüberblick, der mit dem späteren 20. Jahrhundert einsetzt und bis ins Erscheinungsjahr des Buches 2023 reicht. Der dritte Buchteil („Der Aufstand“) vertieft den Überblick. Darüber hinaus spricht er an, dass sich an der Alternsforschung, die die Verlängerbarkeit der Lebenszeit intendiert, neu gegründete Biotech-Firmen beteiligen, um die Ergebnisse auch kommerziell zu nutzen. Abschließend werden – zumindest knapp und kursorisch – einige ethische Gesichtspunkte sowie soziale Folgeprobleme erwähnt. Dies Letztere erfolgt unter der Kapitelüberschrift „Das neue Leben des Menschen“.

Inhalt

Der Autor stellt den heutigen Forschungszweig der Alternsforschung in einen breiten Rahmen ein. Er erinnert daran, dass es ein Grundlagenthema des Menschseins ist, sich mit Endlichkeit, begrenzter Lebenszeit und Sterblichkeit zu befassen. In der Vergangenheit hätten vor allem Religionen und Mythologien dieses Thema erörtert (zur griechischen Mythologie: S. 87). Das Christentum habe es der Allmacht Gottes zugeschrieben, wie alt ein Mensch werde. Diese religiöse Auffassung sei freilich bereits ins Wanken geraten, als Charles Darwin im Jahr 1859 sein Werk zur Evolutionstheorie veröffentlichte. Aufgrund des heutigen Forschungsstands ist dem Autor zufolge endgültig die Bilanz zu ziehen, dass das Altern „in die Macht des Menschen“ geraten sei (S. 27); anders gesagt: „Die einzige Grenze für die menschliche Lebensspanne ist immer das jeweilige Limit menschlicher Technologie“ (S. 53).

Der erste Buchteil (S. 15–53) gibt neuere naturwissenschaftlich-biotechnologische Einsichten über den Prozess und über die Ursachen der menschlichen Alterung wieder: die Erkenntnis, dass mit steigendem Lebensalter die Aktivität von Stammzellen in den menschlichen Organen zurückgehe (S. 39) oder dass die Funktionalität von Mitochondrien nachlasse, die als Zellkraftwerke bezeichnet werden (S. 42); darüber hinaus die Wahrnehmungen, dass sich im Lauf des Lebens im Erbgut Mutationen anhäufen (S. 43) und dass Zellen altern („zelluläre Seneszenz“, S. 45) oder dass der Zellkomplex mTOR den Alterungsprozess takte (S. 51).

Der zweite Buchteil (S. 57–133) widmet sich ebenfalls der biotechnologischen Forschung. Hier fällt immer wieder der Name von Steve Horvath, eines an der University of California, Los Angeles, lehrenden Genetikers. Er hatte sich seinerzeit an den ergebnislosen Bemühungen beteiligt, eine genetische Erklärung für Homosexualität aufzufinden (S. 59). Stattdessen entdeckte er einen Biomarker, der die epigenetisch bedingte Ursache der Alterung von Menschen zu erfassen vermag. Der Autor spricht von einem „Zählwerk in unseren Genen“ oder im Buchtitel vom „Uhrwerk des Lebens“. Die von Horvath beschriebene biologische bzw. epigenetische Uhr zeige, dass das biologische Alter von Menschen von ihrem chronologischen Alter abweichen könne und dass die Organe oder Zellen im Körper eines Menschen nicht synchron altern. Hiermit zusammenhängend rückt das Buch weitere neuere Erkenntnisse ins Licht, z.B. den Aufweis, dass Menschen mit Down-Syndrom/​Trisomie 21 aufgrund ihres überzähligen Chromosoms 21 schneller altern als andere Personen (S. 75). Dem Autor zufolge ist die von Horvath entwickelte Uhr zur Alterungsmessung ein für die medizinische Forschung überaus wichtiges Instrument. Für die Prüfung lebenszeitverlängernder Medikamente werde sie in Zukunft unverzichtbar werden (S. 79).

Genau dies ist der Kern dessen, worauf das Buch sich konzentriert: Lässt sich die Alterung von Organen tatsächlich aufhalten? Beispielhaft weist der Autor auf die verjüngende Wirkung von Blutplasma hin, die schon lange bekannt ist (zu diesbezüglichen Tierexperimenten S. 107 ff.; zu aktuellen Experimenten der Infusion von Spenderplasma in Alzheimer-Patienten S. 148); und er betont die diesbezügliche Bedeutung von Exosomen, also von extrazellulären Vesikeln (S. 116 ff.), oder von Stammzellen im Hypothalamus (S. 121). Im dritten Buchteil (S. 137–224) erwähnt er das kleine Organ des Thymus, das die menschliche Immunabwehr reguliert. Ab „dem 60. bis 65. Lebensjahr erodieren unsere Abwehrkräfte“ und steigt „das Risiko für Autoimmunkrankheiten, weil der Thymus als Wächter über Immunzellen ausfällt, die den Körper angreifen könnten“ (S. 138). Hier setze die Forschungsinitiative an, Menschen durch neues Thymusgewebe zu verjüngen, das mithilfe von Medikamenten getriggert worden ist (S. 140 ff.). Der Autor nennt verschiedene Medikamente, von denen man sich eine verjüngende Wirkung erhofft. Zu ihnen gehöre das Arzneimittel Metformin, das zurzeit üblicherweise gegen Typ 2-Diabetes eingesetzt wird (S. 154 ff.).

Außerdem erinnert er an die an Tieren erprobte Technik des Klonierens – also an die Möglichkeit, einen Embryo mithilfe des Zellkerns zu erzeugen, der Körperzellen ausgewachsener Lebewesen entnommen worden ist (S. 166 ff.) – und an die Zellreprogrammierung, die Shinya Yamanaka im Jahr 2006 auch für die Nutzung bei Menschen beschrieben hat (S. 174 ff.). Hier zeige sich, dass sich Zellen „verjüngen“ lassen, sodass Leben neu beginnt. Daher unterstreicht der Autor, dass es zwischen Zeugung und Tod nicht nur „eine Richtung“, die des Alterns, gibt (S. 189).

Ein eigenes Kapitel des dritten Buchteils macht darauf aufmerksam, dass sich neuerdings milliardenschwere kommerzielle Unternehmen für die Aussicht interessieren, das Altern aufzuhalten bzw. das Leben zu verlängern: „Der Aufstieg der Anti-Aging-Industrie“ (S. 195–212). Die Firmen befassen sich mit Krankheitsbildern im Spektrum zwischen chronischen Hautleiden und altersbedingter Muskelschwäche. Konkret denke man zurzeit an eine verjüngungstechnische Behandlung von Grünem Star und von Sehnervenzellen. Ernüchternd hebt der Autor hervor, dass sowohl zur Wirksamkeit als auch zu unerwünschten, ggf. gravierenden Nebenwirkungen solcher Verjüngungstherapien noch sehr viele Fragen offen sind (S. 202 ff.). Er weist ferner auf etwas anderes hin: Sofern Unternehmen klinische Studien mit menschlichen Versuchspersonen durchführen möchten, um das Altern zu bremsen oder um es umzukehren, benötigen sie die Genehmigung von Aufsichtsbehörden. Dabei stoßen sie auf die Schwierigkeit, dass „Alter“ oder „Altern“ medizin- und gesundheitsrechtlich nicht als „Krankheiten“ gelten, die der Behandlung bedürfen. Daher können klinische Studien, die das Altern als solches korrigieren möchten, nicht genehmigt werden. Genehmigungsfähig sind jedoch Studien, deren Ziel es ist, ganz bestimmte einzelne Alterskrankheiten zu behandeln (S. 199). In diesem Sinn werden – wie der Autor darlegt – zurzeit klinische Studien in Gang gebracht.

Der kurze Schlussabschnitt des Buches steht unter der Überschrift: „Das neue Leben des Menschen“ (S. 213–224). Er befasst sich schlaglichtartig mit gesellschaftlichen Folgen, die entstehen könnten, wenn sich die Lebenszeit der Menschen biotechnologisch tatsächlich um mehrere Jahrzehnte ausweiten lässt und „gesunde Langlebigkeit“ (S. 217) hergestellt werden kann. Die potenziellen Folgen seien vielfältig und weitreichend. Den Religionen stehe ein weiterer Bedeutungsverlust bevor. Das Christentum habe als Trost und Kompensation für irdisches Leiden und für irdische Vergänglichkeit ein Leben im besseren Jenseits verkündigt. Eine derartige Hoffnung werde obsolet werden: „Brauchen Menschen diese ziemlich hypothetische Aussicht noch, wenn sie ihr Erdenleben immer wieder verlängern können?“ (S. 223 f.) Vor allem spricht der Autor aber Problemstellungen an, die real alltagsweltlich von Interesse sind, etwa die Gefahr, dass eine Gesellschaft mit alter Bevölkerung statisch wird und erstarrt. Diese Sorge hält er für unbegründet (S. 220). Jedoch werde man das Renteneintrittsalter modifizieren müssen (S. 223). Der emphatische Schlusssatz des Buches lautet: „Die Menschheit startet gerade in eine neue Epoche“ (S. 226).

Diskussion

Mit großer Sachkunde hat Bahnsen wissenschaftsjournalistisch ein hochkomplexes naturwissenschaftliches Forschungsthema aufgearbeitet – spannend zu lesen, anschaulich geschrieben und auch für Leser*innen ohne fachwissenschaftliche Vorkenntnisse gedacht. Für fachlich Interessierte finden sich in einem Anmerkungsteil wissenschaftliche Belegangaben. Manche Formulierungen des Buches rücken den Forschungsfortschritt recht euphorisch ins Licht. Bahnsen spricht gar von einem „Projekt Gilgamesch“ (S. 28). Andererseits plädiert er sinnvollerweise für Nüchternheit. Sofern es gelingen sollte, Menschen auf bio- und gentechnologischer Basis ein langes Alter in Gesundheit („healthy aging“, S. 20) zu ermöglichen, bedeute dies keine generelle Abschaffung von menschlichem Leiden und vorzeitigem Tod (S. 224); und es gehe auch nicht um Unsterblichkeit. Selbst wenn sich das Leben von Menschen auf 120 Jahre verlängern lasse, werde es endlich bleiben.

Das Buch verdient breite Aufmerksamkeit. Aus Sicht des Rezensenten vermittelt es der Öffentlichkeit einen wesentlichen Impuls: Die Zukunftsvision einer biotechnologischen Verlängerbarkeit des Lebens sollte stärker erörtert werden als bislang. Es handelt sich um eine neuartige Ausprägung medizintechnologischer Biomacht bzw. um eine neue Form der Medikalisierung der menschlichen Existenz, die in absehbarer Zeit spruchreif werden kann. Sie wird den Alltag der Menschen und die Gesellschaftsstruktur stärker verändern als die moderne Transplantations- oder die Reproduktionsmedizin. Zum Vergleich könnte man an den Einschnitt denken, den im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Intensivmedizin erbracht hat. Seitdem ist es möglich, Menschen mithilfe maschineller Beatmung und weiterer Maßnahmen künstlich am Leben zu erhalten und ihre Gesundheit wiederherzustellen, sodass sie zusätzliche Lebensjahre gewinnen.

Auf der Grundlagenebene sollte kategorial klargestellt werden, welchem Handlungsziel die Alternsforschung, die Bahnsen in seinem Buch beschrieben hat, eigentlich dienen soll. Es darf nicht einfach darum gehen, die Lebenszeit als solche quantitativ auszudehnen. Vielmehr sollte angestrebt werden, Menschen in einer potenziell verlängerten Lebensspanne zu einem möglichst hohen Maß an physischer und psychischer Gesundheit zu verhelfen. Dann würde es sich nicht um eine bloße technologische „Verbesserung“ der menschlichen Natur (enhancement) oder um positive Eugenik handeln, sondern um lebensqualitätsbezogene gesundheitliche Prävention. Die Wissenschaft und staatliche Verantwortungsträger sind herausgefordert, Begleit- und Kontrollforschung aufzubauen – auch mit Blick auf medizinische Risiken und Nebeneffekte von Anti-Aging-Therapien –, einer Kommerzialisierung gentechnologisch bewirkter Lebensverlängerung vorzubeugen und die soziokulturellen sowie ökonomischen Folgen der Verlängerbarkeit der Lebensspanne zu prüfen.

Sozioökonomisch wird eine quantitative Steigerung der Lebensspanne u.a. dazu führen, dass das Renteneintrittsalter zu verschieben und der Renteneintritt zu flexibilisieren ist – eine gesellschaftspolitisch brisante Thematik. Davon abgesehen wird eine soziokulturelle Folgenabschätzung ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche Zukunftsszenarien reflektieren müssen. Sollte sich die Lebenszeit von Menschen tatsächlich ausweiten lassen, ist eine Zunahme der Vereinsamung älterer Menschen zu befürchten. Andererseits ist vorstellbar, dass Menschen erst in höherem Alter eigene Kinder erzeugen, wodurch sich die Familienstrukturen und das Generationenverhältnis stark verändern würden. Letzteres dürfte erst recht dann der Fall sein, wenn es biotechnologisch realisierbar werden sollte, Nachkommen mithilfe von Stammzellen zu erzeugen, die sich älteren oder alten Personen entnehmen lassen.

Zudem ist eine medizintechnologisch ermöglichte Verlängerbarkeit der Lebensspanne unter dem Vorzeichen der Verteilungsgerechtigkeit zu durchdenken. Dies gilt nicht nur im nationalen und europäischen Kontext. Es darf auch nicht zu neuen, verschärften Ungleichheiten in der gesundheitlichen Versorgung zwischen wohlhabenden Industrienationen einerseits, Entwicklungs- und Schwellenländern andererseits kommen.

In summa: Die Anschlussfragen, die ethisch und gesellschaftspolitisch aus einer Ausweitung der Lebensspanne resultieren, sind gravierend. Sie bedürfen umfassender Aufarbeitung.

Fazit

Das vorliegende Buch informiert über die Forschungsanstrengungen, die den Prozess der menschlichen Alterung bremsen und menschliches Leben prolongieren möchten. Dabei konzentriert es sich auf die naturwissenschaftliche Dimension und bringt Erfolge, aber auch offene Fragen der biotechnologischen Alternsforschung zur Sprache. Implizit enthält es einen wichtigen Denkanstoß. Ethik, Gesellschaftswissenschaften und die Öffentlichkeit sollten sich schon jetzt damit auseinandersetzen, was es für die individuelle Lebensführung und für die Gesellschaftsstrukturen bedeuten wird, wenn das Ziel der Alternsforschung, eine verlängerte Dauer des Lebens, künftig tatsächlich verwirklicht werden kann.

Rezension von
Prof. Dr. Hartmut Kreß
Professor für Sozialethik an der Universität Bonn
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Es gibt 18 Rezensionen von Hartmut Kreß.

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Zitiervorschlag
Hartmut Kreß. Rezension vom 23.02.2024 zu: Ulrich Bahnsen: Das Uhrwerk des Lebens. Wie die Medizin den Code des Alterns entschlüsselt. Quadriga Verlag Bastei Lübbe AG (Köln) 2023. ISBN 978-3-86995-136-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31598.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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