Marcus Willaschek: Kant
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.12.2023

Marcus Willaschek: Kant. Die Revolution des Denkens. Verlag C.H. Beck (München) 2023. 430 Seiten. ISBN 978-3-406-80743-5. 28,00 EUR.
Das Denken ist dem Menschen von Natur aus gegeben
Als der Königsberger Philosoph Immanuel Kant am 29. März 1781 seine „Kritik der reinen Vernunft“ als Jahrzehnte lange Denkarbeit zur „Metaphysik“ dem Königl. Staatsminister Freiherrn von Zedlitz (1731 – 1793) vorlegte, wies er darauf hin, dass die Vernunft „a priori“, kritisch und aufgeklärt verläuft. Es sind die intellektuellen, philosophischen Herausforderungen des kritischen, objektiven Denkens und Tuns, die Bedeutung und Begrifflichkeit seines Werkes im Seins- und Wissenskanon des abendländischen Bewusstseins etabliert haben: „Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Es sind die humanen, existentiellen und moralischen Ansprüche nach Fragen: „Wer bin ich?“ – „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“; und es sind die sprichwörtlich gewordenen, ethischen Anforderungen, die im „kategorischen Imperativ“ zum Ausdruck kommen: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinen andern zu!“. Es ist die „globale Ethik“, wie sie in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948), und in den freiheitlichen, demokratischen Verfassungen eingeschrieben sind: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Die Kant‘schen Einstellungen – „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ – bestimmten das Denken in seiner Zeit, und prägen es bis heute. Dieser Paradigmenwechsel hat eine Zeitenwende eingeleitet, die in der aktuellen, wissenschaftlichen, nachhaltigen, von Unsicherheiten, Ego-, Ethnozentrismen und Populismen bestimmten Zeit ein neues (altes) Denken und Handeln erfordert (Negt 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​27114.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Kants Moralphilosophie ist Widerborst gegen die momentanistischen, alles und sofortmachbaren Einstellungen. Weil der Mensch „aus krummem Holz geschnitzt“ ist, weil er zum „Hang zum Bösen“ neigt, ist er aufgefordert, aufgeklärt zu denken. Es ist die unerhörte Erkenntnis, dass man nur das wirklich wissen könne, was sich dem Denken verdankt, die metaphysisches Bewusstsein bestimmt. „Hat die Reihe der Ursachen in der Welt notwendig einen Anfang, weil eine Wirkung mit unendlich vielen Ursachen, die ja selbst wieder Wirkungen wären, effektiv keine Ursache“? (Herbert Schnädelbach). Es sind die Unterscheidungen zwischen „dem Ding an sich und Erscheinungen“ und Erfahrungen, die den denkfähigen und -willigen anthrôpos angewiesen machen auf Denkhilfen (Schnädelbach 2012, www.socialnet.de/rezensionen/​13290.php).
Markus Willaschek, ausgewiesener Kant-Experte von der Goethe-Universität in Frankfurt/M., verdeutlicht und reflektiert mit seiner Studie Kants revolutionäres Denken in anschaulichen, zeitgemäßen Aspekten. Er fordert auf, Kant zu lesen und zu denken, Hier, Heute und Morgen.
Aufbau und Inhalt
In dreißig Kapiteln stellt er Kants Philosophie in seine und unsere heutige Zeit: Die Revolution der Gesinnung, die Revolution der Denkart, die Französische Revolution. In sechs Teilen differenziert Willaschek die Zusammenhänge und Imponderabilien der Kant‘schen Moralphilosophie: „Politik und Geschichte innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ – „Die Moral der Vernunft“ – „Vernunftwesen in Gesellschaft“ – „Der Mensch als Teil der Natur“ – „Metaphysische Erkenntnis und ihre Grenzen“ – „Das Ende“. Es sind die Visionen, wie Menschen das höchste politische Gut, den „ewigen Frieden“ erreichen können, wie Intellekt und Fortschritt im menschlichen Dasein (mit Moses Mendelsohns Gedanken) in Einklang gebracht werden können, welche Bedeutung und Wirkung die europäische Aufklärung hatte und hat, wie im menschlichen Miteinander mit den Werten „Freiheit und Zwang“, „Bildung und Erziehung“ umgegangen werden kann
Es ist das höchste menschliche Gut, die Vernunft, die existentiell in den Tugenden Anpassung und Widerstand, Wissen und Kritik wirksam werden und im Kategorischen Imperativ zum Ausdruck kommen. Es waren seine Schüler und Gefolgsleute, die ihn ablautierten und bestätigten, ihn gleichzeitig auch antrieben, der Frage aller Fragen nachzugehen: Was ist Mittel, was Zweck? Wenn der Mensch danach strebt, ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben zu erreichen. Der moralische und ethische Anspruch bedingt, nach Kant, die Erkenntnis, dass „alles Sollen ein Können voraussetzt“, was bedeutet, dass Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen vom guten Leben möglich sind.
Ohne Recht und Gerechtigkeit ist humanes, menschenwürdiges, gleichberechtigtes Dasein nicht möglich (Thomas Trenczek, u.a., Grundzüge des Rechts. Studienbuch für soziale Berufe, 2024, www.socialnet.de/rezensionen/​31576.php). Es sind Rechte und Pflichten, die verfasst, institutionalisiert und eingefordert werden müssen. Es sind Fragen von „mein“ und „dein“, die – motiviert vom Kantischen Besitz- und Eigentumsbegriff – als Gemeingut verstanden werden („Was mehr wird, wenn wir teilen“, E. Ostrom, 2011). Es sind die weltbürgerlichen, kosmopolitischen, globalen und globalisierten Entwicklungen, die Kant in der provinziellen Königsberger Abgeschiedenheit formulierte und so Grundlagen für eine globale Friedensordnung legte. Die weltanschaulichen, abendländisch-aristotelisch-jüdisch-christlichen Glaubenslehren, dass nur der Mensch Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist habe, differenziert Kant durchaus interreligiös.
Das Verhältnis des Menschen zur Natur und zur Um- und Mitwelt wird mit der Kantischen Urfrage: „Was ist der Mensch?“ thematisiert. Den Irritationen, wie sie in den seinerzeitigen Rassenauffassungen inhärent waren, konnte Kant nur dadurch begegnen, dass er den Menschenbegriff in die Spannweite einer biologischen und rationalen Bedeutung brachte. Möglicherweise finden sich in der indianischen Philosophie, dass nicht dem Menschen die Erde, sondern er zur Welt gehört, Rückschlüsse auf die Moralphilosophie von Kant.
Die metaphysischen Auseinandersetzungen, wie sie Kant, als Zu- und Widerspruch zum philosophischen Diskurs seiner Zeit führte, bringen synonyme und antonyme Auffassungen zutage, und Fragen: „Sind Werte etwas objektiv Gegebenes oder eine menschliche Setzung?“. Sein Denkergebnis: Die Metaphysik differenziert sich in die der Natur und die der Sitten. Es ist das „a priori“ als Schlüssel zu seinem Werk. Der Umgang mit Begriffen, Benennungen und Beschreibungen werden zu „Nomenklaturen“ (Pädagogische Rundschau) und Vergewisserungen im Spannungsfeld zwischen Anschauung und Erfahrung.
Diskussion
Das zum Ende des Jahres 2023 herausgegebene Buch „Kant“ erinnert (auch) an den 300sten Geburtstag des Königsberger Philosophien am 22. 4. 1724; und zwar so, wie es intellektuell, human und kritisch für unsere und die zukünftige Zeit der Aufklärung notwendig ist: vorbildhaft und nachahmenswert, wie gleichzeitig kritisch und kontrovers, wenn es um seine, in seiner Zeit vorfindbaren, mentalitäts- und einstellungsbestimmenden Einstellungen, etwa zu rassistischen und antisemitischen Äußerungen, zu herabsetzenden Urteilen über Frauen und Gender, geht. Es ist keine Kant-Biographie, sondern das Vorhaben, „Kants Denken für moderne Leserinnen und Leser, die über wenig oder keine Vorkenntnisse in der Philosophie verfügen, lebendig werden zu lassen“, mit der Absicht, selbst zu philosophieren. Man könne nämlich nicht, wie Kant feststellte, die Philosophie, sondern nur das Philosophieren lehren und lernen. Der Zugang des Rezensenten zur Philosophie kann möglicherweise in dem persönlichen Erlebnis eines vor Jahrzehnten erfolgten Israel-Besuchs im Rahmen des deutsch-israelischen Schulpartnerschaftsprogramms verdeutlicht werden: Als wir in Haifa ein uriges Antiquariat besuchten, fiel mir in der Fülle und Berge der deutschsprachigen Literatur ein Büchlein auf, das ich für wenig Geld erwarb und mich seitdem begleitet: Dr. Karl Kehrbach, Hrsg., Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant. Text der Ausgabe 1781 mit Beifügung sämmtlicher Abweichungen der Ausgabe 1787, zweite verbesserte Auflage, Druck und Verlag von Philipp Reclam jun., Leipzig/​Halle, Dezember 1878, 703 S.; und durch den Gebrauch schon ziemlich zerfleddert ist.
Im Diskurs und in den kontroversen Auseinandersetzungen um die Kant’sche Moralphilosophie, die auf der Unterscheidung der menschlichen Erkenntnis in Verstand und Sinnlichkeit beruht steht die Aussage: Erkenntnis erfordert sowohl sinnliche Wahrnehmung als abstrakte Begriffe. Wenn aber Begriffe „leer“ sind, führen sie nicht zur „Synthesis“.
Fazit
Mit dem Begriff „Willensfreiheit“ postuliert Kant sein Credo: Unser Denken und Handeln ist „nur dann frei, wenn sie auf eine absolut spontane, unverursachte Entscheidung zurückgehen“. So lässt sich feststellen, dass das Kant‘sche Denken auf praktischer Vernunft beruht, die heute in gleicher Weise gefragt und gefordert wird. Kant liefert dafür keine Rezepte und fertige Antworten, sondern Denk-, Orientierungs- und Lebenshilfen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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