Eckhard Jesse: Interventionen
Rezensiert von Dr. phil. Manfred Krapf, 09.04.2024

Eckhard Jesse: Interventionen. Zur (Zeit-)Geschichte und zur Politikwissenschaft: Extremismus, Parteien, Wahlen.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2023.
541 Seiten.
ISBN 978-3-7560-0669-4.
119,00 EUR.
Reihe: Parteien und Wahlen - Band 31.
Thema
Der vorliegende Sammelband beinhaltet Aufsätze des Politikwissenschaftlers Eckhard Jesse zwischen 2016 und 2022 zu mehr oder weniger aktuellen Themen, die durchaus als Interventionen zu verstehen sind. Der Band erscheint in der von Jesse (Technische Universität Chemnitz) und Roland Sturm (Universität Erlangen-Nürnberg) herausgegebenen Reihe „Parteien und Wahlen“, die deren zentrale Bedeutung für den Prozess der politischen Willensbildung als Leitlinie verfolgt.
Autor:in oder Herausgeber:in
Eckhard Jesse war von 1993 bis 2014 Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz und von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft.
Aufbau
Das Werk wird durch eine zur Lektüre empfohlene, informative Einleitung des Autors eröffnet, und gliedert sich in sechs Teilabschnitte mit jeweils zugeordneten einzelnen Beiträgen.
Teil 1: (Zeit-)Geschichte
- „Nationale Identität in unterschiedlichen Regierungssystemen Deutschlands: Nationalfeiertage – Nationalfarben – Nationalhymnen“
- „1968 – und 50 Jahre später. Eine deutsch-deutsche Bestandsaufnahme“
- „Freiheitsrevolution 1989 und Einheitsrevolution 1990. Eine Geschichte mannigfacher Paradoxien“
- „Corona und die stickige Debattenkultur “
Teil 2: Politikwissenschaft
- „Freiburg, Köln, Marburg. Über politikwissenschaftliche Schulen in Deutschland“
- „Die Wahlsystemkonzeptionen von Ferdinand A. Hermens und Dolf Sternberger im Vergleich“
- „Die DDR als Chance? Die DDR als Chance!“
- „Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Periodisierungen, Parteien, Parallelen“
Teil 3: Extremismus mit vier Aufsätzen
- „Antifaschismus – gestern und heute“
- „Die NPD und der gescheiterte Verbotsantrag gegen sie“
- „Linksliberalismus und Islamismus. Aus der Perspektive der vergleichenden Extremismusforschung“
- „Äquidistanz und Hufeisenmodell einerseits, antifaschistischer Konsens und Ausgrenzung andererseits“
Teil 4: Parteien
- „KPD – SPD – SED -SDP-SPD.
- Von der Ausschaltung der SPD in der SBZ bis zur Gründung der SPD in der DDR“
- „Krise (und Ende?) der Volksparteien“
- „Braucht Deutschland eine bundeweit wählbare, konservative CSU?“
- „Repräsentation versus Repräsentativität.
- Die Rede des Alterspräsidenten Wolfgang Schäuble“
Teil 5: Wahlen
- „Wahlen und Eliten“
- „Aktuelle Reformvorschläge zum Wahlrecht. Die Modifizierung der Fünfprozentklausel durch die Einführung einer Nebenstimme und die Abschaffung des Zweistimmensystems“
- „Die Bundestagswahl 2021 mit vielen Neuheiten. Kein Kanzlerbonus, erstes Dreier-Bündnis nach 70 Jahren, Isolation der geschwächten Union“
- „Die Bundestagswahl 2021 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik“
Teil 6: Interviews, Briefwechsel – und Messi“
- „Entscheidend ist, was jemand schreibt, nicht wo er schreibt“. Ein Gespräch über Stand und Aufgabe der Politikwissenschaft“
- „Von Fliegenbeinzählern und Märchenonkeln. Ein Gespräch zwischen Klaus von Byme und Eckhard Jesse über Trends in der deutschen Politikwissenschaft, alternative Karrierewege und den Wert der Habilitation“
- „Verzeihen Sie meinen Furor“. Briefwechsel zweier „streitbaren Demokraten“ aus Anlass des „Radikalenerlasses vor 50 Jahren“
- „Die Jüngeren sollen auch mal ran“.
- „Was macht eigentlich … Eckhard Jesse?“
- „Messi. Über Freud und Leid mit einem Jahrhundertfußballer“
Inhalt
Angesichts des Umfangs des Sammelbands und seiner Themenbreite können hier nicht alle Beiträge vorgestellt werden. Zusätzlich fehlt dem Rezensenten als „Drittel-Politologe bzw.- Zwei-Drittel-Historiker“ in dem einen oder anderen Themengebiet auch das Maß an Kompetenz, um adäquat Stellung nehmen zu können.
Der Teil 1 („Zeitgeschichte“) wird mit einem Aufsatz zur Bedeutung nationaler Symbole in Gestalt von Nationalfeiertagen, Nationalfarben und Nationalhymnen eröffnet, die eine Identität und eine Zusammengehörigkeit eines Staatswesens ausdrücken wollen. Der erst seit 1871 existierende deutsche Nationalstaat erfuhr im Laufe des 20. Jahrhunderts „vier große Systemwechsel“: Dem Ende des Kaiserreichs folgte bekanntlich die erste deutsche Demokratie der „Weimarer Republik“, dann das sog. Dritte Reich samt Weltkrieg und Völkermord und nach 1945 waren vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes zwei deutsche Staaten entstanden, bevor 1989/90 die ohne sowjetische Absicherung nicht lebensfähige DDR nach einer „friedlichen Revolution“ sich mit der Bundesrepublik vereinigte. Diese Brüche schlugen sich in wandelnden Symbolen nieder und der Autor konzentriert sich auf die jeweiligen Nationalfeiertage. Im Unterschied zum Verfasser empfindet der Rezensent kaum Wehmut angesichts der 150jährigen Wiederkehr des Deutschen Kaiserreichs, eines kritisch und differenziert zu betrachtenden Staatswesens mit positiven wie auch unübersehbaren bedenklicheren Merkmalen. Dass unfriedlich entstandene Deutsche Kaiserreich konnte keinen allgemeinen Nationalfeiertag etablieren, der sog. Sedantag galt nicht für alle. Dass die Farben schwarz-rot-gold im ersten deutschen Nationalstaat durch die schwarz-weiß-roten Reichsfarben verdrängt wurden, war ein klares Zeichen. Nicht zu bestreiten ist ein vielschichtiger Aufschwung des Kaiserreichs, das 1914 mindestens eine aktive Rolle im Vorfeld des Kriegsausbruchs eingenommen hatte. Die folgende Weimarer Republik konnte ungeachtet republikanisch-demokratischer Bemühungen, was die neuere Weimarforschung zu Tage gebracht hat, keinen allgemeingültigen Nationalfeiertag etablieren: Die Reichsregierung fixierte schließlich den 11. August als Verfassungstag, an dem Reichspräsident Ebert die neue Reichsverfassung unterzeichnet hatte. Vor allem rechte bzw. weit rechtsstehende Kräfte lehnten diesen vehement ab, der aber bis 1929/1930 einen stetigen Aufschwung erlebte und 1929 eine pompöse Feier in Berlin hervorbrachte. Als „blutleer“, so Jesse, sind sie nicht ohne weiteres abzustempeln, denn selbst in der ostbayerischen Provinz lassen sich Feiern nachweisen. Viel Uneinigkeit herrschte bei den Reichsfarben, wo schwarz-rot-gold halbwegs durchgesetzt werden konnte. Die Machthaber ab 1933 besetzten den 1. Mai für ihre Zwecke, aber einen einzigen symbolischen Tag schufen auch sie nicht. Nach 1945 bzw. 1949 richtete der neue ostdeutsche Staat verschiedene Gedenktage ein, behielt die Farben schwarz-rot-gold bei und versuchte seit Ende der 1960er Jahre sich von einem vereinten Deutschland auch symbolisch zu entfernen. Letztendlich misslangen alle diese Versuche, durch Symbole eine Legitimität zu erlangen.
In der Bundesrepublik wurde der 17. Juni als Erinnerung an den ostdeutschen Aufstand von 1953 zum Feiertag erhoben. Dass der 23. Mai nicht gewählt wurde, erscheint, bleibt rätselhaft, denn das vereinigte Deutschland besitzt mit dem Grundgesetz eine Verfassung, deren Wert man gar nicht hoch genug bemessen kann. Der gewählte 3. Oktober hat sich wohl als „nationaler“ Feiertag einbürgert und wird in hoffentlich verantwortungsvoller Weise auch zukünftig gefeiert werden. Dass jüngst bei diversen Demonstrationen schwarz-weiß-rot oder ähnliches zu sehen war, kann man sicher als provokativen Ausdruck auffassen, dennoch sei hier „Wachsamkeit“ (Andreas Wirsching) betont, was auch beim Auftreten antisemitischer Symbole im Kontext des Nahost-Konfliktes zu gelten hat.
Auf einige Paradoxien verweist ein zeitgeschichtlicher Beitrag zu den beiden Revolutionen 1989 bzw. 1990, nämlich der Freiheitsrevolution und der Einheitsrevolution. Wichtig erscheint hier der Hinweis auf den tatsächlichen „Auslöser“ der Zeitenwende 1989/1990, nämlich Michail Gorbatschow. Der erste Teil des Aufsatzes geht auf das Ende der DDR unter Heranziehung von damaligen Bürgerrechtlern mit unterschiedlichen Vorstellungen wie Roland Jahn, Marianne Birthler und Joachim Gauck zum einen und den führenden Repräsentanten des SED-Staates Erich Honecker, Egon Krenz und Hans Modrow zum anderen ein. Ein Paradoxon erkennt der Autor im Anliegen dieser Oppositionskräfte, den Sozialismus unter Beibehaltung der Existenz des zweiten deutschen Staates zu reformieren. Ihre „systemimmanente“ Reformen waren für die Führungsebene untragbar. Die Oppositionellen verfolgten die Idee eines „dritten Weges“, hätten aber letztendlich, wie viele im Westen, die deutsche Frage vernachlässigt. Die führenden Männer des SED-Staates in dessen Endphase Erich Honecker, Egon Krenz und Hans Modrow waren vollständig von der Machtgarantie der Sowjetunion abhängig. Der Reformkurs Michail Gorbatschows bedrohte ihre Machtbasis zwangsläufig. Spätestens nach den Wahlen im März 1990 war die Macht der alten SED zu Ende. Die propagierte Weiterexistenz der DDR mit einem dritten Weg hatte in der Bevölkerung keinerlei Anklang.
Der zweite Abschnitt rückt die Währungsunion und ihre wesentlichen Protagonisten Theo Waigel, Horst Köhler und, was dem Rezensenten so nicht bewusst war, Thilo Sarrazin in den Mittelpunkt. Da die DDR auch ökonomisch am Ende war und die Flucht in den Westen enorm zunahm, erwies sich die maßgeblich von den Genannten konzipierte Währungsunion, die der ostdeutschen Bevölkerung aber durchaus entgegenkommende Umtauschverhältnisse bot, als unvermeidbar. Paradox sei, dass hier eine Sozialdemokrat – Sarrazin – in Erscheinung trat, während der „stark postnational eingestellte sozialdemokratische Kanzlerkandidat“ Oskar Lafontaine in der Währungsunion eine „riesige Hypothek“ für die bundesdeutsche Wirtschaft befürchtete. Die außenpolitische Durchsetzung und Absicherung der Wiedervereinigung, beschleunigt durch den Zehn Punkte-Plan Helmut Kohls, fand schließlich die Zustimmung Gorbatschows und George Bushs, während die nahen, befreundeten Länder Großbritannien mit der sehr konservativen Margret Thatcher und Frankreich mit dem Sozialisten Francois Mitterand Skepsis äußerten, ein erneutes Paradoxon. Der Rezensent will hier aber Milde walten lassen, denn die Geschichte des deutsch-französischen Verhältnisses seit dem 19. Jahrhundert erlaubt französische Bedenken zu einem vereinten Deutschland. Interessant ist der Hinweis, dass durch die deutsche Wiedervereinigung die bis dato viel zitierte These, eine deutsche Einheit könne „lediglich eine Folge der europäischen sein,“ quasi umgekehrt worden sei, denn nunmehr beschleunigte die deutsche Einheit die europäische Einheit. (Gemeinsame Währung) Dass das vereinte Deutschland aktuell wie auch Europa vor neuerlichen Herausforderungen jenseits einer vermeintlichen „Friedensdividende“ stehen, ausgelöst durch den Imperialismus des postsowjetischen Russland, lässt aus einer Vogelperspektive den weltgeschichtlichen Umbruch 1989/90 mit weniger Pathos erscheinen. Inwieweit der ökonomische „Riese“ Deutschland zukünftigen Anforderungen und Erwartungen gerecht werden kann und will, ist derzeit nur in marginalem Umfang erkennbar.
Der im Teil 2 („Politikwissenschaft“) ausgewählte Beitrag beschäftigt sich mit drei politikwissenschaftlichen Schulen in Deutschland, nämlich die „Freiburger Schule“, die „Kölner Schule“ und die „Marburger Schule“, die mit den Namen Arnold Bergstraesser, Ferdinand A. Hermens und Wolfgang Abendroth eng verbunden sind. Eine Schule charakterisiert der Autor unter drei Aspekten, d.h. dem Lehrer als Ausgangspunkt, die von ihm geprägten Schüler und ein Programm. Sodann skizziert Jesse entlang dieser Dreiteilung die jeweiligen Schulen, wobei er den drei maßgeblichen Personen neben ihrer fachlichen Reputation auch „Managementleistungen“ attestiert. Darüber hinaus seien bei allen drei Schulen „lebensgeschichtliche“ Erfahrungen der Initiatoren zu beachten: Der Marxist Abendroth saß wegen seiner politischen Überzeugung vier Jahre im Gefängnis während der NS-Herrschaft, Bergstraesser und Hermens emigrierten. Vergleiche man diese Schulen im Hinblick auf ihre wissenschaftlichen Ansätze, so waren für die geisteswissenschaftliche Freiburger Schule Gesetzmäßigkeiten nicht relevant, im Unterschied zur sozialwissenschaftlich orientierten „Kölner Schule“ und für die „Marburger Schule“ Gesetzmäßigkeiten grundsätzliche Voraussetzung. Als negative Assoziation zu „Schulen“ werden genannt „Protektion, Seilschaft und Kartell“, also „reine Arbeitsbeziehungen“. Positiv gesehen haben sie einen Beitrag zum politikwissenschaftlichen Pluralismus geleistet und das Fach nach 1945 geprägt. Allerdings vermisst der Autor dieses knappen Überblicks einen ausreichenden Disput der Schulen.
Im Teil 3 („Extremismus“) wählen wir den Beitrag zum Wechselverhältnis zwischen einem oftmals inkonsequenten Linksliberalismus und dem Islamismus. Das Schweigen vieler Intellektueller angesichts der Erscheinungsformen der Herrschaft in islamistischen Gesellschaften verlange eine Klärung. Einleitend erinnert Jesse an den 1979 durch die Revolution im Iran an die Macht gekommenen Islamismus, der die Trennung von geistlicher und weltlicher Herrschaft abstreitet und eine „Form der Gottesherrschaft“ anstrebe, also die „Einheit von Staat und Religion“. Der Islamismus stelle somit neben dem Rechtsextremismus und dem Linksextremismus eine dritte Variante antidemokratischen Denkens (und Handelns) dar. Der Beitrag liefert eine Klärung des Islam und Islamismus, die auf Forschungen von Koopmans basiert, der nach Meinung des Rezensenten zurecht vor allem innere Aspekte des Islam als entscheidend ansieht (Trennung von Religion und Staat, die Rolle der Frau, der wenig geachtete Stellenwert nichtreligiöser Bildung). Eine brauchbare Definition von Linksliberalismus ist schwierig, Linksliberale sind Radikaldemokraten und mittlerweile kosmopolitisch ausgerichtet, allerdings erscheint trotz ihrer Dominanz in Kultur und Politik der sozioökonomische Gesichtspunkt etwas unterbelichtet, denn eine nur kulturelle und politische Definition greift zu kurz.
Das Verhältnis des Linksliberalismus zum politischen Islam bedarf mit aller Berechtigung einer kritischen Betrachtung, denn seine Nähe zur Identitätspolitik einerseits und die andererseits fast schon inflationäre Verwendung von Begriffen wie Islamophobie oder gar Rassismus müssen hinterfragt werden. Zurecht sieht Jesse im Islam Werte im Zentrum, die dem (Links)Liberalismus entgegengesetzt sind: Stellung der Frauen, Emanzipation bis zu Feminismus. Der Autor zitiert hierbei den Sozialdemokraten Kevin Kühnert, der nach den Attentaten 2020 zurecht eine vernehmbare Stellungnahme linker Kräfte forderte. Zwar erfährt der vormalige Jusochef hier Lob, aber nach wie vor werde, so der Autor, um die „dahinter stehende Ideologie“ ein Bogen gemacht.
Jesse nennt mehrere Aspekte für die Zurückhaltung des Linksliberalismus gegenüber dem politischen Islam: Man habe erstens Angst davor, „Beifall von der falschen Seite“ zu bekommen, zweitens sprechen sich Linksliberale am stärksten für multikulturelle Gesellschaften und offene Grenzen aus, ohne, hier ergänzend, die Folgen derartiger „Offenheit“ für den ursprünglich von linken Kräften geförderten Sozialstaat zu beachten, Drittens tauchen beim Komplex der Migration historisch begründete Schuldgefühle der „Weißen“, also der Europäer, auf. Wer ein grundsätzliches „antiextremistisches Demokratieverständnis [es]“ verfolge, müsse, so der engagierte Autor, auch gegen den politischen Islam Stellung beziehen. Als die zentrale Botschaft gerade für wahre Liberale wollen wir mit Jesse festhalten: “Wer von der Universalität der Menschenrechte überzeugt ist, kann keinem kulturellen Relativismus das Wort reden.“
Der in Teil 4 („Parteien“) gewählte historische Beitrag skizziert den Weg und den Gründungsumstände der SDP bzw. nachmalig SPD in der DDR 1989. Kommunisten und Sozialdemokraten standen sich bis zur Zwangsvereinigung 1946 weitgehend konfrontativ gegenüber: Von den Vorwürfen Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs gegen den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert 1918/19 bis zum, von der Komintern in Moskau gesteuerten, unsäglichen Kampf gegen die Sozialdemokratie seit den ausgehenden 1920er Jahre und der versöhnlicheren Haltung in Gestalt der „Volksfront“ nach der NS-Machtübernahme. Nach dem Kriegsende erfolgte vor dem Hintergrund der sowjetischen Besatzungsmacht 1946 die Zwangsvereinigung zur SED mit den nun dominierenden Kommunisten. Zurecht charakterisiert Jesse diese Vorgänge als erzwungen, weshalb nach 1945 große Distanz zwischen der konsequent antikommunistischen westdeutschen SPD unter Kurt Schumacher und der „neuen“ SED bestand.
Nach dem Mauerbau 1961 begann die SPD mit der „Politik der kleinen Schritte“ (Passierscheinabkommen) zur Erleichterung für die Deutschen in der DDR und setzte diese in der Entspannungspolitik fort. In den 1970er und 1980er Jahren überwölbte die „Friedenspolitik“ vor dem Hintergrund einer empfundenen Kriegsangst angesichts der nuklear hochgerüsteten Supermächte USA und Sowjetunion die sozialdemokratische Deutschlandpolitik. Dem 1987 veröffentlichten SPD-/SED-Papier wurde von manchen kritisch eine Aufwertung des SED-Regimes unterstellt. Ob man hier von einer tatsächlich „stark abgeschwächten“ Anti-SED-Haltung (Jesse) sprechen kann, bleibt offen. Eine Aufwertung der DDR kann man auch im Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik vermuten, den die konservativ-liberale Regierung Helmut Kohl empfing. Im Zeichen der Nachrüstungsdebatte waren deutsch-deutsche Wiedervereinigungsbemühungen, was zum Teil auch für die CDU/CSU gilt, in den Hintergrund gerückt.
Die im aufgewühlten Herbst 1989 aus Umwelt-, Dritte Welt- und Friedensgruppen mit Nähe zur Kirche (u.a. Stephan Hilsberg und Markus Meckel) am 7. Oktober gegründete „Sozialdemokratische Partei in der DDR“ (SDP) war für die SED-Herrschaft ein fundamentaler Angriff. Programmatisch sieht Jesse eine Nähe zu grüner Politik, wichtiger erscheinen außenpolitische Vorstellungen einer Auflösung der Blöcke und die Beibehaltung der deutschen Zweistaatlichkeit. Gleichzeitig forderte man das freie Selbstbestimmungsrecht für die DDR. Die Bevölkerung im Osten zeigte aber keine Sympathie für derartige politischen Überlegungen, denn „Wir sind ein Volk“ und damit die rasche Wiedervereinigung avancierte zur entscheidenden Thematik. Anzumerken sei hier nur aus der Perspektive des Historikers die überraschend schmale Quellenlage zur Gründungsphase der Sozialdemokratie in der DDR.
Ein weiterer Beitrag im Teil 4 fragt erneut nach der Zukunft der „Volksparteien“. Als Volksparteien gelten Parteien, die mindestens ein Viertel der Wähler bei mehreren Wahlen erreichen und eine Wählerschaft aus mehreren sozialen Schichten erfassen, was wiederum eine entsprechende Programmatik voraussetzt. Auch müssten sie den demokratischen Verfassungsstaat akzeptieren. Angewandt auf die Weimarer Republik können die drei staatstragenden Parteien in deren Anfangszeit – die SPD, das Zentrum, die linksliberale Deutsche Demokratische Partei – nicht als Volksparteien gelten. Bis zur Wiedervereinigung 1990 hatten sich in Deutschland mit der neuen CDU/CSU und der SPD zwei Volksparteien mit entsprechender Integrationsfähigkeit herausgebildet. In den neuen Bundesländern herrscht eine deutlich geringere Parteibindung der Wählerschaft. Ungeachtet spezifischer ostdeutscher Bedingungen handelt es sich beim Rückgang der Volksparteien um ein gesamtdeutsches, europäisches Phänomen, das durch „Volatilität, Polarisierung und Fragmentierung“ gekennzeichnet sei. Eine sinkende Wahlbeteiligung und rückläufige Mitgliedschaft in Parteien bedrohe die Volksparteien ebenfalls. Eine Konsequenz der Schwäche von Volksparteien ist die erschwerte Regierungsbildung, die für den Wähler nicht (mehr) vorhersehbar sei.
Der im Teil 5 („Wahlen“) vorzustellende, zeitnah nach der Bundestagswahl 2021 verfasste Aufsatz greift einige neuartige Phänomene auf: Waren bei der Bundestagswahl 2017 der schwere Verlust der Volksparteien, die hohe Stimmenzahl für die AfD sowie lange Sondierungen und Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer Regierung neuartige Phänomene, so lassen sich 2021 folgende neue Aspekte bereits in der Vorwahlzeit konstatieren: Erstmals fand die Wahl ohne amtierenden Bundeskanzler statt, weshalb ein Kanzlerbonus nicht zum Tragen kam. Gleich drei Parteien beriefen Spitzenkandidaten für das politisch höchste Amt in der Bundesrepublik und im Vorfeld der Wahl traten drei „Vorgänge von fundamentaler Bedeutung“ (Jesse) auf: Die Pandemie, die riesige Flut in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sowie der desaströse Abzug deutscher Soldaten aus Afghanistan. Die Umfragen zeigten ein wenig stabiles Auf und Ab, so dass keine klaren Optionen für etwaige Koalitionen sich abzeichneten.
Vor der Wahl habe die Union lange in den Umfragen geführt, bevor die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Olaf Scholz die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock und schließlich auch Armin Laschet von der Union überholten. Weitere Merkmale der Vorwahlzeit waren Ausfluss des fragmentierten Parteiensystems und daraus resultierende Unklarheiten über mögliche Koalitionen. Der Wahlkampf sei „langweilig und „inhaltsleer“ verlaufen. Gewonnen hatten die Grünen, die SPD und die FDP, hingegen verloren die CDU/CSU — vor allem wegen ihres Spitzenkandidaten – die Linke und die AfD zum Teil deutlich. Eine Personalisierung habe Olaf Scholz begünstigt, erneut erwiesen sich die Volksparteien als schwach und wiederum herrschten signifikante Unterschiede im Wohlverhalten in Ost – bzw. in Westdeutschland (zum Wahlergebnis eingehend Eckhard Jesse: „Die Bundestagswahl 2021 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik“ im Sammelband). Jesse erwartete die Ampelkoalition und prophezeit allen Parteien – „bis auf die Liberalen“ (!) – Grabenkämpfe. Insbesondere die Union gehe „schweren Zeiten entgegen“, denn zum einen sei mit der AfD und der Linken keine kooperative Opposition denkbar und zum anderen drohe der Partei eine längere Abwesenheit von der Macht. Dass die internationalen Verwerfungen – das aggressive Russland, die Energiefrage u.a. – zur schwachen Performance der uneinigen sog. Ampelkoalition beitragen, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Hingegen hat sich die Union schnell erholt und stellt mit Abstand nach Umfragen die größte Partei Deutschlands dar. Sie steht aber tatsächlich vor Herausforderungen, wie sie angesichts des weiter fragmentierten Parteiensystems eine zukünftige Machtoption erlangen kann.
Aus dem Teil 6 („Interviews, Briefwechsel – und Messi“) stellen wir ein Gespräch des Autors zur aktuellen Politikwissenschaft vor. Ausgehend von seiner Maxime, „Politikwissenschaft ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, sollte ein guter Politikwissenschaftler Distanz zur Parteipolitik halten. Die Beschäftigung mit der deutschen Politikwissenschaft sei lohnend wegen der „personelle[n] Dimension“ des Faches. Im Unterschied zur mehr an individuellen Vorgängen interessierten Geschichtswissenschaft betont Eckhard Jesse das Interesse der Politikwissenschaft an strukturellen Gemeinsamkeiten und Prinzipien sowie einer guten Ordnung. Dem aus den USA kommenden Trend der „Versozialwissenschaftlichung“ der Politikwissenschaft wird eine „gewisse Einförmigkeit“ und ein Irrglauben bei der Suche nach Gesetzmäßigkeiten vorgeworfen. Die aktuell attestierte Zurückhaltung vieler Politikwissenschaftler sei auch einer Furcht vor etwaiger Vereinnahmung durch die jeweiligen Lager geschuldet. Die Politikwissenschaft sollte sich keineswegs scheuen, aktuelle Themen und Konflikte aufzugreifen und gegebenenfalls auch „anstößig“ sein. Gerade der Extremismusforscher, der zugleich ein „Demokratieforscher“ sei, müsse aber eine Äquidistanz nach rechts wie nach links bewahren. Schließlich bietet das Gespräch Einblicke in die persönliche Laufbahn Eckhard Jesses, der selber für seine Wendung zur Extremismusforschung das berühmte Vorbild Ernst Fraenkel benennt. Am Schluss des unterhaltsamen, gut lesbaren wissenschaftlichen Gesprächs äußert sich er sich kritisch zu dem in seiner Wissenschaft weit verbreiteten quantitativen Sprachstil und plädiert nachdrücklich für das entscheidende Qualifikationsmerkmal für wissenschaftliche Berufungen, die Habilitation, also das „zweite Buch“.
Diskussion
Die Aufsatzsammlung von Eckhard Jesse bietet ein breitgefächertes Feld aktueller Themen und Streitfragen. Der meinungsstarke, diskussionsfreudige Autor geht besonders diffizilen Fragen nicht aus dem Weg wie etwa zum Islam bzw. Islamismus. Festzuhalten ist eine klare, schnörkellose Sprache, die rasch zum Kern des Themas vordringt, wie er in seiner Einleitung des Sammelbandes schreibt sowie Aktualität und Nähe zur Publizistik. Umgekehrt benennt Jesse als „Übel“ der aktuellen Politikwissenschaft die Dominanz quantitativer Methoden, was der Rezensent so nicht übernimmt, da derartige Methoden bei bestimmten Themen unverzichtbar sind und eine empirische Basis liefern. Defizitär sei weiterhin die Vernachlässigung relevanter Kritik wie auch die Scheu vor begründeten Urteilen und die vielfache Abwendung von historischen Ansätzen. Gerade in den derzeitigen, aufwühlenden Zeiten politischen Wandels, so pflichtet der Rezensent bei, vermisst man Stimmen der Politikwissenschaft, lediglich ein Herfried Münkler ist zu vernehmen.
Fazit
Als Fazit sei somit festgehalten: Beim Sammelband von Eckhard Jesse handelt es sich um eine gut lesbare, gelegentlich sogar unterhaltsame Lektüre zu vielfältigen und aktuellen Themengebieten aus der Politikwissenschaft und Zeitgeschichte. Dabei ist die kompakte Gliederung, der rasche Zugang zu den Kernfragen und die klare Sprache hervorzuheben. Dass man bei manchen Themen anderer Meinung sein kann, ändert nichts an der anregenden Lektüre.
Rezension von
Dr. phil. Manfred Krapf
M.A. (Geschichte/Politikwissenschaft), Dipl. Sozialpädagoge (FH), selbstständig tätig in der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung, sozialpolitische Veröffentlichungen
Mailformular
Es gibt 13 Rezensionen von Manfred Krapf.