Ingrid Gogolin, Ursula Neumann et al. (Hrsg.): Sprachdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Christine Huth-Hildebrandt, 16.05.2006
Ingrid Gogolin, Ursula Neumann, Hans J. Roth (Hrsg.): Sprachdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Dokumentation einer Fachtagung am 14. Juli 2004 in Hamburg.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2005.
112 Seiten.
ISBN 978-3-8309-1542-3.
9,80 EUR.
Reihe: FörMig Edition - 1.
Entstehungshintergrund und Thema
Das Buch dokumentiert Ergebnisse einer Expertentagung, die sich mit Verfahren der Sprachdiagnostik auseinandergesetzt hat und diese Auseinandersetzung als Basis der eigenen Beratung über nötige Standards nutzt, um Schwerpunkte benötigter Entwicklungen festzulegen, als Vorbereitung zum BLK-Modellversuchsprogramm "Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund" (FörMig).
Inhalt
Den Ausgangspunkt der Debatte bieten zwei Expertisen. Lilian Fried stellt ihre kritische Betrachtung zu Sprachstandserhebungen für Kindergartenkinder und Schulanfänger vor, und bei Konrad Ehlich geht es um die Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung, als Grundlage für die frühe und individuelle Sprachförderung.
- Lilian Fried erläutert, welche sprachdiagnostische Kompetenz gebraucht wird, um die Signale von Sprachentwicklungsverzögerung bzw. -problemen überhaupt erkennen zu können. Dabei differenziert sie die Spracherfassungsverfahren nach solchen mit politischer und solchen mit pädagogischer Funktion. Bei ersteren geht es um primär-präventive Früherfassung von Indikatoren einer verzögerten oder abweichenden Sprachentwicklung, die für die Schuleingangsuntersuchungen an Bedeutung gewinnen, da sie den Blick darauf lenken, wie stark bestimmte soziale Gruppen durch das bestehende Bildungssystem benachteiligt werden. Verfahren mit pädagogischer Funktion relativieren, klären oder erweitern die Alltagsbeobachtung, korrigieren subjektive Wahrnehmungsverzerrungen und erfassen Dinge, die während der allgemeinen Alltagsbeobachtung dem Blick unter Umständen entgehen. Fried sieht dennoch die Differenzen um die Notwendigkeit solcher Spracherhebungsverfahren nicht ausgeräumt, obwohl internationale aber auch nationale Ergebnisse bezeugen, dass Sprachförderung, wenn sie ungerichtet verläuft, häufig nicht die Wirkungen hervorruft, die man sich von ihr versprochen habe.
Die Autorin fügt eine Verfahrensliste an, aus der ersichtlich wird, dass mittlerweile auch Diagnoseverfahren vorliegen, die für die Berufsgruppen der Erzieherinnen und Erzieher sowie für die Erstklasslehrerinnen und -lehrer als Instrumente geeignet sind: Es existieren Verfahren, durch die drohende Sprachentwicklungs- und/oder Schriftsprachentwicklungsstörungen aufgespürt werden; ebenso wie solche, die Schwierigkeiten beim Erlernen der Erst- oder /und Zweitsprache frühzeitig vermerken. Allerdings mangelt es an Verfahren, die nachweisen, wie gut die Kommunikationsfähigkeit eines Kindes entwickelt ist, d.h. wie es Gespräche führt, Argumente hervorbringt oder Geschichten erzählen kann.
Fried zieht als Fazit aus ihrer Untersuchung, dass es mittlerweile zwar etliche Sprachstandserfassungsverfahren gibt, jedoch ihre Qualität sowohl in sprachtheoretischer als auch in messmethodischer Hinsicht lediglich Minimalstandards genügen und dabei meist auch nur ganz spezifische Sprachentwicklungsaspekte messen. Nur wenige seien hilfreich für die Literacy-Erziehung, die auf Vorläuferfähigkeiten zum Schriftspracherwerb zielen. Wenn es jedoch darauf ankomme, Kinder aufzuspüren, deren Sprachentwicklung eines besonderen Förderimpulses bedarf, so suche man nahezu vergeblich nach Sprachdiagnosehilfen. Dennoch sollte es ihrer Einschätzung nach gegenwärtig weniger darum gehen, noch weitere Verfahren zu entwickeln, sondern darum, den mit Kindern arbeitenden Professionellen Hilfen an die Hand zu geben, die deren sprachdiagnostische Kompetenz verbessern. Es geht für sie erst einmal um die Erfassung des Qualifizierungsbedarfes der Anwenderinnen und Anwender. Oft müsse deren Fähigkeit zur genauen Sprachstandserfassung erst einmal entwickelt werden, um diese dann sprachspezifisch anwenden zu können. Es gelte, Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte diagnostisch so zu qualifizieren, dass diese Verfahren angemessen einschätzen und professionell einsetzen können.
- Die von Konrad Ehlich vorgestellte Expertise steht im Zusammenhang mit einem Bündel von Fördermaßnahmen für Kinder mit Migrationshintergrund, wobei der Fokus allerdings auf Verfahren zur Sprachstandsfeststellung aller untersuchten Kinder einer Altersstufe gelegt wird, um aussagekräftige Erkenntnisse darüber gewinnen zu können, ob die Sprachaneignung so verläuft, dass eine angemessene kommunikative Befähigung erreicht wird. Dabei geht es allgemein um die Anforderungen an jene Verfahren, durch die eine regelmäßige Sprachstandsfeststellung vorgenommen werden kann.Ziel dieser Verfahren sollte eine kompetente Momentaufnahme in Bezug auf die komplexen, keineswegs einlinigen Prozesse der Sprachaneignung sein, zum Zwecke einer Diagnose, ob sich die Probanden und Probandinnen zum untersuchten Zeitpunkt innerhalb eines Fensters bewegen, das als "Normalitätserwartung" bezüglich der kindlichen Sprachaneignung angesehen wird.
Aufgabe der vorgestellten Expertise war es, die vorgefundenen Erhebungsinstrumente auf ihre Leistungsfähigkeit hin zu untersuchen, deren linguistische und pädagogische Hintergründe genauer zu bestimmen und zu prüfen, welche Aussagen zum Kenntnisstand über die kindliche Sprachaneignung mit ihnen zu gewinnen sind. Die vorgefundenen Verfahren wurden nach Bezugsaltersstufen gruppiert und die jeweils berücksichtigten Qualifikationen sortiert und so zusammengefasst, dass eine insgesamte Bewertung möglich wurde. Hieraus wurde ein Kriterienkatalog entwickelt und vorgestellt, der die Anforderungen an solche Verfahren nach allgemein linguistischen Aspekten, nach Mehrsprachigkeit, sowie nach diagnostischen und institutionellen Anforderungen aufgliedert.
Die angefügten Kurzfassungen der erstellten Einzelgutachten über die wesentlichen Erfordernisse für eine nachhaltige, empirisch fundierte Förderkultur, aber auch die von dem Team herausgearbeiteten Anforderungen an die Verfahren einer regelmäßigen Sprachstandsfeststellung spiegeln Dringlichkeit und Breite der aktuellen Aufgaben dieses bildungspolitisch und forschungsstrategisch über Jahrzehnte vernachlässigten Themas wider.
Die Gutachten kommen zu dem erschreckenden Ergebnis, dass weder die auf Förderung zielende Sprachstandserhebung für Lernende, deren Muttersprache Deutsch ist, noch die für diejenigen, deren Muttersprache nicht oder nicht ausschließlich Deutsch ist, befriedigend oder gar hinreichend sind. Weder stehen geeignete Instrumente zur Diagnose förderrelevanter sprachlicher Kompetenzen in verschiedenen Altersstufen zur Verfügung, noch ist eine organisatorische Plattform zur gezielten und kompetenten Durchführung von Sprachstandsmessungen zur Verfügung, noch existiert eine ausgebaute Förderkultur.
Auf diese Auseinandersetzung mit den verschiedenen Verfahren folgt die Beratung, welche Standards bei den weiteren Entwicklungen beachtet und auf welche Schwerpunkte sich zukünftig konzentriert werden sollte. Hierzu folgen weitere Inputs.
- Im
Beitrag von Gudula List geht es um entwicklungspsychologische Sprachhandlungskonzepte.Sie kritisiert, dass die Verfahren zur
Sprachdiagnostik nicht auf die Dynamik kindlicher Entwicklung abzielen, sondern
den Stand des Spracherwerbs überwiegend an wenigen formalen Merkmalen der
Äußerungsfähigkeit festmachen. Hinzu komme, dass die vorfindlichen Instrumente
für einsprachig aufwachsende gedacht und somit nicht für mehrsprachige Kinder
nutzbar sind. Da die Verfahren in der Regel der prognostischen und faktischen
Abgrenzung dienen, um eventuell nötige sonderpädagogische Maßnahmen
auszumachen, wird die einsprachige Norm zur Messlatte genutzt, so dass sowohl das Potential wie auch
die unter ungünstigen Gegebenheiten wirksamen Schwierigkeiten mehrsprachiger
Biographien verkannt werden.
Lediglich das Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstands bei Fünfjährigen HAVAS und der Trierer Test zur komparativen Sprachentwicklungs- und Förderdiagnostik TKS beziehen die Familien- unddie Landessprache der Probandinnen und Probanden in die Testsituation ein.
List erinnert daran, dass es in der vorschulischen Zeit um die Erarbeitung eines symbolischen Werkzeuges für die Verarbeitung von Wahrnehmungen, für Denkvorgänge und soziale Kognition geht, da sich in dieser Zeit der Radius kindlicher Aktivitäten über den Nahbereich der Familie hinaus erweitert und sich mentale Strukturen und die Qualität der Interaktion mit anderen Menschen durch den Spracherwerb erweitern und die Ausbildung einer inneren Sprache, als Instrument zur Auseinandersetzung mit dem inneren Selbst entwickelt wird. Daher ist bei der Sprachstandserkennung von Mehrsprachigkeit darauf zu achten, dass es nicht um eine jeweils anteilige Leistungsbeschreibung, sondern um die vorhandene reale polyglotte Kompetenz geht, um das Verhältnis der Sprachen zueinander und um ihren jeweiligen Stellenwert als Werkzeuge der Realitätsbewältigung; d.h. es geht auch um Quersprachigkeit und metasprachliche Kompetenzen, nämlich um das gesamte kreative Potential von Mehrsprachigkeit. List sieht hier eher Verfahren zur Protokollierung des Interaktionsverhaltens als Auszählungen von Wörtern pro Äußerungen oder von korrekten Pluralbildungen als sinnvoll an. Es geht ihr um die Beobachtung und Hinführung zur Literalität, als ein Projekt der Förderung kognitiver und sozialer Entwicklung, das der Einbettung in Kontexte von Symbolisierungsfähigkeit, Perspektivenflexibilität und Selbstkonzeptbildung bedarf. Und offensichtlich wird nur eines der Verfahren diesen Anforderungen annährend gerecht: Es ist das Programm SISMIK, das im Münchner Staatsinstitut für Frühpädagogik entstanden ist, da hier Spracherwerb als ein in sozialen Interaktionen stattfindender Prozess aufgefasst und somit stärker auf die Förderung der kindlichen Handlungsfähigkeit mit Sprache als auf normativ-formale sprachliche Produktion gesetzt wird.
- Christop
Schröder und Wilfried
Stölting geht es um
den Umgang mit der Gesamtsprachlichkeit und möglichen methodologischen Umsetzungsschwierigkeiten
in den Verfahren, denen nach Ansicht der Autoren durch eine "bilinguistische"
Konzeption entgegengetreten werden kann. Sie verweisen in ihrem Beitrag auf die
Förderung von Mehrsprachigkeit als erklärtem Bildungsziel der europäischen
Staaten, und darauf, dass nicht allein die etablierten Schulfremdsprachen
sondern die "natürliche" Zweit- und Mehrsprachigkeit von Kindern und
Jugendlichen mit Migrationshintergrund als eine solche gesellschaftliche
Ressource anzusehen ist. Ihren Blick richten sie auf die individuellen
Bemessungsgrundlagen in den Verfahren, da der Sprachentwicklungsstand im
Deutschen beim zweisprachigen Individuum nur einen eng vernetzten Teilaspekt
einer "Gesamtsprachlichkeit" abbildet, und sich beide Sprachen in
gegenseitiger Abhängigkeit voneinander entwickeln. Dabei sind für sie drei
sprachliche Bereiche transferintensiv, die Phonologie, die Diskursebene sowie
die Art und Weise, wie Sprechakte realisiert werden. Daten zu den Erstsprachen
sind so mit Daten zur Zweitsprache Deutsch korrelierbar und lassen Aussagen zum
sprachlichen Entwicklungsstand zu, die sich aus dem Wissensstand über beide
Sprachen zusammensetzen. Komplementär zu diesen Hypothesen wird in neueren
Diskussionen eine weitere geprüft, die vom besonderen "metalinguistischen
Wissen" Zweisprachiger, basierend auf der Annahme, dass Zwei- und
Mehrsprachige zu einem weitaus früheren Zeitpunkt als Einsprachige Anlass
haben, über Sprache nachzudenken, mit der möglichen Folge eines besonderen
kreativen Sprachkönnens.
Probleme bei der Bewertung mit Hilfe der Verfahren ergeben sich aus der Normerwartung für den Spracherwerbsverlauf und die im Messprogramm ausgedrückten Bilder einer sprachlichen Normalentwicklung, welche die Beweislast auf das Kind schieben und nicht offen legen, mit welchen sprachlichen Fähigkeiten sich ein Schulerfolg verbindet. Hinzu kommt die offene Frage nach dem Beschreibungsrahmen, innerhalb dessen Äußerungen in der jeweiligen Sprache der Migration bewertet werden, da in der Alltagsrealität keine Einheitlichkeit vorherrscht, sondern längst transnationale Räume gebildet worden sind, die unterschiedlichste Varietäten einer spezifischen Migrationssprache hervorgebracht haben. D.h. die allgemeinen Probleme der Methodologie verschärfen sich bei Sprachstandsfeststellungen Zweisprachiger, die die Erstsprache mit einbeziehen, da die Frage nach der Bezugsnorm und somit auch Aussagen über den Sprachstand der Erstsprache grundsätzlich fragwürdig sind. Problematisch ist daher die Norm in der Analyse, nicht aber das Gesamtbild von einer doppelt monolingual Sprechenden, das so angemessen wie möglich zu diagnostizieren ist, da der Aufeinander-Bezug der beiden Sprachstände Auskunft über die Gesamtkompetenz gibt.
Eine Sprachstandsmessung, die "gesamtsprachliche Kompetenz" erfassen will, muss sich als Sprachhandlungsanalyse verstehen, als Analyse der Fähigkeit, unterschiedlichen Kommunikationsanlässen entsprechend und der eigenen Wahrnehmung angemessen sprachlich agieren zu können.
Die Autoren plädieren für die Entwicklung einer Arbeitsrichtung, die von den Voraussetzungen der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen und dem sprachpädagogischen Ziel einer Befähigung mehrsprachiger Kinder zur Entwicklung von Kommunikation im monolingualen Modus geprägt ist. Hierbei sind kontaktinduzierter Sprachhandel, Sprachhandlungsanalyse und bilinguale Sprachverarbeitung als Forschungsthemen einzubeziehen und dabei die erfassten Defizite und Schwierigkeiten nicht als Störungen, sondern als erlernsprachliche Etappen der Aneignung einer neuen Varietät anzusehen.
- Mechtild
Dehns Beitrag beschäftigt
sich mit der Beziehung von Diagnose und Förderung zum Schriftspracherwerb, die sie als einen dynamischen Prozess
ansieht, so dass die Verfahren auch auf den Dialog mit den Lernenden
ausgerichtet sein müssen. Für Dehn bieten Stufenmodelle des Schriftspracherwerbs
zwar eine Orientierungsgrundlage, taugen ihrer Ansicht nach jedoch nicht als
Norm, um Aussagen zu individuellen Schriftspracherwerbsprozessen machen zu
können. Sie unterscheidet daher nach Screening=flächendeckenden Erhebungen und
Beobachtungsverfahren, bei denen es auf der Basis von Profilanalysen um individuelle
Förderung geht. Dabei ist für sie problematisch, wenn die institutionellen
Rahmenbedingungen der Selektion den Gebrauch der Beobachtungsverfahren
bestimmen. Der Begriff "Förderdiagnostik" suggeriere außerdem, aus
den Beobachtungsverfahren könnten Hinweise auf pädagogisches Handeln abgeleitet
werden. Dieser Begriff werde jedoch meist nur als ein Etikett verwendet und
verschleiere die Schwierigkeit einer Passung von Unterricht bzw. Förderung und
Lernprozess.
Das Beobachten von Lernvoraussetzungen und -prozessen setzt nach Dehn eine Haltung voraus, die Fehler als eine lernspezifsche Notwendigkeit ansieht, so dass besondere dialogische Beobachtungsverfahren benötigt werden, welche die Perspektive umkehren und primär nach Bestätigungen des Könnens suchen, die dann Anknüpfungspunkte zu weiteren Förderung ergeben. Ein wichtiger Bestandteil diagnostischer Kompetenz ist daher auch die Fähigkeit, diejenigen Spannungen auszuhalten und reflexiv zu verarbeiten, die sich daraus ergeben, dass misslingende Lernprozesse immer wieder auch die Grenzen eigener methodisch-didaktischer und kommunikativer Fähigkeiten spüren lassen. Schriftspracherwerb ist ein dynamischer Prozess, die kognitiven Prozesse sind hochkomplex, und die Möglichkeit zur Verständigung von Lernender und Lehrender in hohem Maße vom didaktisch-sozialen Kontext abhängig. Daher setzt für Dehn ein optimiertes individuell-biografisches Förderkonzept eine Einbettung in den pädagogischen Kontext und eine reflexive Haltung des pädagogischen Personals voraus.
- Inci Dirim unterstützt die vorgelegten Statements, indem sie darauf verweist und mit Beispielen unterlegt, dass in unserer Gesellschaft Wahrnehmung und Beurteilung von Mehrsprachigkeit wenig ausgebildet ist, und hier ein Konzept zum Verständnis und zum Umgang erst noch zu entwickeln ist.
- Im Anschluss zeichnet Hans H. Reich die Geschichte der Verfahren zur Sprachstandsanalyse bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund nach. Eine Entwicklung, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre beginnt, bis in die 1980er Jahre andauert, um im Anschluss wieder in ein über 10jähriges Schweigen zu verfallen. Dieser rekonstruktive Beitrag sensibilisiert, dass die Verfahrensentwicklungsprozesse, um sie angemessen beurteilen zu können, in ihrer engen Verzahnung mit den verschiedenen Phasen bildungspolitischer Anforderungen an Forschungserkenntnis, aber auch in ihrer Einbettung in den wissenschaftlichen Diskurs betrachtet werden müssen und dabei in enger Verzahnung mit den migrationspolitischen Gedanken und Entscheidungen der jeweiligen Zeitspanne zu sehen sind.
- Hans-Jürgen Krummfasst die Debatte der Expertentagung abschließend zusammen. Einheitlichkeit soweit als möglich herstellen und dabei individuelle Verschiedenheit zuzulassen ist die Botschaft, aus der sich die Anforderungen an den Forschungsbedarf ableiten. Einschätzung sprachlicher Fähigkeiten ohne Berücksichtigung der Ressourcen und Fähigkeiten in anderen Sprachen komme zu falschen Ergebnissen. Für die Sprachdiagnostik stellt sich von daher die Aufgabe, die Stärken mehrsprachiger Kinder zu erkennen und ihren gesamten dynamischen Sprachbesitz als Ausgangsbasis für das Deutschlernen zu sehen. Daher erfolgt eine Warnung vor starrem Stufendenken, vielmehr sei auf individuelle Lernvoraussetzungen und -dispositionen sowie auf individuelle Zielsetzungen Rücksicht zu nehmen, damit die vorfindliche Dynamik und Nichtlinearität der Entwicklung sprachlicher Kompetenz positiv genutzt werden kann.
Zusammenfassung und Diskussion
Die Autoren verweisen in ihren Diskussionsergebnissen auf die Resultate eines Zusammenwirkens begangener Fehler hin, nämlich auf den Zusammenhang von der - wider besseres Wissen - jahrzehntelang angenommenen Voraussetzung einer sprachlich weitgehend homogenen, monolingualen Schülerinnen- und Schülerpopulation in Deutschland und der - bedingt durch die föderative Struktur des Staatsgebildes - republikinternen Konkurrenzsituation zwischen den einzelnen Bundesländern, durch den eine Art Binnenraum im Europäischen Gefüge entstanden ist, der sich lange Zeit selbst genügt hat. Man ist der europäischen bildungspolitischen Debatte ferngeblieben und gab den bildungsbezogenen Forschungsperspektiven im Rahmen der OECD oder des Europarates keinen Raum, mit der Folge, dass Deutschland im Rahmen der internationalen Diskussion ins Abseits geraten ist und nun aufgrund des "PISA-Schocks" den Anschluss in aller Eile wieder zu finden sucht.
Hierzu haben die Autoren und Autorinnen des Bandes eine gelungene, höchst qualifizierte Bestandsanalyse zum Stand der Sprachstandsdiagnostik vorgelegt, allerdings mit erschreckendem Ergebnis, dass nämlich der größte Teil der vorliegenden Verfahren den generellen Qualitätsstandards nicht entspricht, die allgemeinen Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität nicht erfüllt und die üblichen Güteprüfungen bisher nicht einmal angestrebt werden. Hinzu kommt, dass sich die vorliegenden Forschungsergebnisse bezüglich der Sprachaneignung mit zunehmendem Alter der Probandinnen und Probanden immer mehr ausdünnen, d.h. es liegt zwar ein differenziertes Wissen hinsichtlich vorschulischer Sprachentwicklung vor, weitere Aneignungsprozesse wurden bisher jedoch nicht hinreichend untersucht. Es reicht aber nicht aus, altersgemäße allgemeinsprachliche Fähigkeiten nur zur Einschulung zu diagnostizieren, da die Wichtigkeit schulsprachlicher Fähigkeiten im Verlauf der Schulkarriere anwächst (Wortschatz, Satzbau und Textstruktur) und begleitende diagnostische Verfahren auf mögliche Defizite bzw. auf möglichen Förderungsbedarf hinweisen müssen, um Abbrüche verhindern zu können.
Fazit
Die Autoren legen eine Schrift vor, die in das Bild neuerer transnationaler Konzepte passt und die Mehrsprachigkeit als Migrationsfolge nicht schematisch unter assimilatorischen Gesichtspunkten einordnet. Die weiteren Ergebnisse der Forschungsgruppe um das o.g. Modell "FörMig "dürften von daher mit Spannung erwartet werden.
Rezension von
Prof. Dr. Christine Huth-Hildebrandt
Fachhochschule Frankfurt am Main, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
Es gibt 6 Rezensionen von Christine Huth-Hildebrandt.
Zitiervorschlag
Christine Huth-Hildebrandt. Rezension vom 16.05.2006 zu:
Ingrid Gogolin, Ursula Neumann, Hans J. Roth (Hrsg.): Sprachdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Dokumentation einer Fachtagung am 14. Juli 2004 in Hamburg. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2005.
ISBN 978-3-8309-1542-3.
Reihe: FörMig Edition - 1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3161.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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