Mathias Schwabe: Das Scheitern von pädagogischen Projekten
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 09.07.2024
Mathias Schwabe: Das Scheitern von pädagogischen Projekten - zudem eine etwas andere Geschichte der Sozialpädagogik. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 780 Seiten. ISBN 978-3-7799-7846-6. D: 95,00 EUR, A: 97,20 EUR.
Thema
In seinem neuen Buch analysiert der Autor verschiedene Misserfolgsdynamiken, die zum Scheitern von pädagogischen Projekten geführt haben. Im ersten Teil stehen dabei neun Projekte aus der Zeit von 1760 bis 2006 im Mittelpunkt, die teils von bekannten Pädagog:innen wie Pestalozzi, Tolstoi, Bernfeld oder Makarenko auf den Weg gebracht wurden, teils aber auch von Unbekannten oder auf Drängen der Politik. Diese Projekt-Portraits sind spannend, weil sie Sachberichte mit Kulturgeschichte und den Biographien der Protagonisten verknüpfen und so interessante Einblicke in die Entwicklungsgeschichte der Sozialpädagogik und ihrer Institutionen ermöglichen. Im zweiten Teil systematisiert Schwabe die jeweiligen Gründe für Abbrüche und Misslingen und stellt sechs Theoriekonzepte vor, die beanspruchen, das Phänomen des Scheiterns jeweils auf eigenständige Weise zu durchdringen. Dabei stellt sich immer wieder die Frage, ob und was man aus Scheitern lernen kann.
Autor
Prof. Dr. Mathias Schwabe arbeitet als Dozent für Methoden der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin. Er ist Systemischer Berater (SIT & IGST), Supervisor und Denkzeit-Trainer und aktives Mitglied bei der „Qualitätsagentur Erziehungshilfen“. Während und vor seiner wissenschaftlichen Karrieren hat er in vielen Jugendhilfeprojekten – insbesondere mit herausfordernder Klientel – gearbeitet und diese teilweise auch evaluiert.
Aufbau und Inhalt
Nach einer umfangreichen Einführung in die Thematik des Buches startet Schwabe mit dem fast 500 Seiten starken Herzstück des Buches. Er stellt unter der Überschrift Phänomenologie des Scheiterns aus einer Zeitspanne von fast 300 Jahren neun sozialpädagogische Projekte ganz unterschiedlicher Art und Weise vor und analysiert deren Scheitern:
- Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt: Die Erziehung des Infanten von Parma zu einem aufgeklärten Regenten (1757–1774)
- Erfolgreiche Breitenwirkung trotz mehrfachen Scheiterns: Pestalozzi in Neuhof (1775–1779), Stans (1799) und Burg bzw. Yverdon (1810–1825)
- Graf Nicolai Tolstoi und seine freien Schulen: Unverstanden von den Bauern, der Regierung verdächtig und ihm selbst überdrüssig geworden (1859–1863 und 1871–1873)
- Karl Wilker im Lindenhof (1917–1920): Gescheitert an repressiv eingestellten Mitarbeitern, selbst generierten Polarisierungen oder an strukturellen
- Widersprüchen von Heim-Reformierungsbestrebungen, die bis heute persistieren? Siegfried Bernfeld und das Kinderheim Baumgarten (1919/20): Scheitern an einer stupiden Verwaltung oder an falschen Einschätzungen eines revolutionär gesonnenen Pädagogen?
- Durchbruch nach der Preisgabe pädagogischer Ideale: Anton S. Makarenko in der Gorkij-Kolonie (1920–1928)
- Ein Reformprojekt im Heim scheitert an Ängsten, inneren Vorbehalten und misslichen Kommunikationen (1978/1986)
- Die Geschlossene Unterbringung Feuerbergstraße in Hamburg: Ein Projekt gerät zwischen politische Fronten und kämpft mit pädagogischen Herausforderungen (2002–2004)
- Multiple Verstrickungen und Aggressionen unter leitenden Erwachsenen in einem Projekt für gewaltbereite Jugendliche (2010/2011)
Eine in die Tiefe gehende Darstellung aller Kapitel würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Deshalb sei an dieser Stelle ein genauerer Blick auf die beiden Projekte aus der jüngsten Vergangenheit geworfen, die den Leser*innen am nächsten und vielleicht sogar bekannt sein dürften.
Die Geschichte der Geschlossenen Unterbringung aus Hamburg zeigt deutlich, wie sehr ein Projekt bisweilen von politischen Mehrheitsverhältnissen abhängig sein kann und wie es letztlich aus völlig unterschiedlichen Perspektiven analysiert wird. Wie in den anderen Kapiteln auch präsentiert Mathias Schwabe eine umfangreiche Faktensammlung, die sich unter anderem auf den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss beziehen, der nach dem Scheitern des Angebotes eingesetzt wurde. In kleinen Schritten werden die Quellen dann kommentiert und aus fachlicher Perspektive eingeordnet. Dabei zeigt sich, dass die Einrichtung wahrscheinlich nie eine wirkliche Chance hatte, weil sie in einem aufgewühlten Diskussionsklima über problematische Jugendliche mit impliziten Aufträgen der Politik und der Gesellschaft an den Start gegangen war, denen sie nie gerecht werden konnte. Und so skizziert Schwabe ein Scheitern mit Ansage, das rund 20 Jahre später für Kopfschütteln sorgt, aber gleichzeitig auch zeigt, dass Populismus und vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Problemlagen schon am Anfang des 21. Jahrhundert ein großes Thema waren.
Während das Hamburger Scheitern überwiegend von außen verursacht wurde, zeigt sich im letzten Projekt, dass es manchmal auch die Fachkräfte selbst sind, die so handeln, dass gute Ideen im Sande verlaufen oder im schlimmsten Fall im sprichwörtlichen Sinne vor die Wand gefahren werden. Die Leser*innen leiden beim Lesen in diesem Kapitel schon fast mit den handelnden Personen mit, spüren die Verstrickungen und erleben schlussendlich das tragische Scheitern eines Herzensprojektes, in das viele Menschen eine Menge Engagement gesteckt haben – und sich letztlich viel zu spät (oder eventuell gar nicht?) bewusst werden, in welchen persönlichen Verstrickungen sie gefangen sind. Diese führen letztlich dazu, dass es gar nicht mehr um eine tolle Idee geht, sondern nur noch um persönliche Befindlichkeiten. Und so liest sich dieses Kapitel dann schon fast wie ein Drama und gibt ein mahnendes Beispiel, dass Fachkräfte eben nicht immer nur als solche agieren, sondern auch an Menschen mit ihren alten und neuen Verletzungen.
Der zweite Teil des Buches trägt den Titel Theoretische Reflexionen: Beiträge zu einer Instituetik des Scheiterns, der sich in folgende Kapitel unterteilt:
- Gründe für das Scheitern und Gelingen von pädagogischen Projekten
- Theorien zum Scheitern von pädagogischen Projekten
- Diesseits und Jenseits von Gelingen und/oder Scheitern
- (Was) Kann man aus dem Scheitern von Projekten lernen?
Dabei stellt sich zunächst die Frage, was meint der Autor eigentlich mit Instituetik des Scheiterns, die sich in Anlehnung an Bernfeld „als kritisches Erkundungsprogramm für alle Bildungs- und Erziehungsinstitutionen angewandt werden [kann]“ (S. 535). Im weiteren Verlauf geht Mathias Schwabe dann auf die Suche nach den Gründen für das Scheitern pädagogischer Projekte und benennt dabei mehrere Ebenen:
- Konzept
- Lage, Gebäude und Ausstattung
- Projektentwicklungs-Prozessimmanente Faktoren
- MitarbeiterInnen und Personal
- Stimmigkeit von Aufgabenverteilung und Über-/Unterordnung, passenden Leitungsstrukturen und dazu passende Informationswege bzw. „Konfernez-Systeme“
- Organisationskultur der „Stammeinrichtung“, gerade im Zusammenhang mit einem neuen Projekt
- Kooperation mit Schnittstellen nach innen und nach außen
- Auswahl der aufzunehmenden Fälle, Falleingangsphase
- Interaktionsdynamik im neuen System insbesondere unter den Kindern/​Jugendlichen und zwischen den Jugendlichen und Mitarbeiter:innen
- Zielgruppenspezifische Themen und Übertragungsfallen
- Interne und externe Unterstützung
- Finanzierung
- Sinnstiftung: Wer verbindet mit dem Projekt welche Ziele, Hoffnungen und Wünsche?
Nach der weiteren theoretischen Betrachtung des Scheiterns und dem Versuch, eine Typologie verschiedener Typen des Scheiterns zu entwickeln, untersucht der Autor zum Ende die spannende Frage, was sich aus dem Scheitern lernen lässt. Ohne an diese Stelle zu sehr in die Tiefe zu gehen, lässt sich festhalten, dass eine ganze Menge Mut dazu gehört, sich zunächst einmal auf die Suche nach den Gründen des Scheiterns zu machen und dabei eigene Anteile zu erkennen. Wer das reflektiert, dürfte beim nächsten Projekt besser aufgestellt sein, auch wenn wohl bei neuen Projekten immer ein Risiko des Scheiterns bleiben wird – gerade in der Sozialen Arbeit.
Diskussion
Wer Mathias Schwabe und seine Veröffentlichungen kennt, weiß, dass er ein Mann der Praxis und der klaren Worte ist. Das wird auch in diesem Buch sehr deutlich, das leider ein bisschen darunter leidet, dass das Lektorat nicht ganz ausgereift gewesen zu sein scheint – zu viele unerklärlicherweise Tippfehler hinterlassen auf den fast 770 Seiten leider einen etwas schalen Beigeschmack. Aber das ändert nichts an einer bewundernswerten Akribie, die Mathias Schwabe bei den Recherchen für dieses Buch an den Tag gelegt hat, die die Leser*innen tief ins Herz der gescheiterten Projekte mitnimmt. Meinungsstark wie immer werden die harten Fakten durch eine klare bisweilen mit den Beteiligten hart ins Gericht gehende Kommentierung ergänzt. Es gehört zu den Stärken des Buches, dass diese beiden Aspekte optisch gut mit voneinander getrennt sind. Apropos Optik: Dass am Ende des ersten Teils alle Projekte noch einmal übersichtlich in Tabellenform analysiert werden, gibt den Leser*innen eine gute Möglichkeit, selbst eigene Vergleiche zwischen den Projekten anzustellen und sich auf die Suche nach gemeinsamen Elementen des Scheiterns zu machen.
An manchen Stellen lässt sich nicht überlesen, dass der Autor nicht nur ein erfahrener Praktiker, sondern eben auch Professor ist. Doch sobald es kurz davor ist, störend zu wirken, zeigt sich dann wieder Schwabes Qualität, viel Inhalt in spannenden und gut lesbaren Worten zu präsentieren. Es scheint dabei so, als wäre dies bisher Schwabes persönlichstes Buch, in dem er viel von sich und seinen Erfahrungen preisgibt. So etwas kann schnell kitschig werden, ist es in diesem Fall aber an keiner Stelle – ganz im Gegenteil. Dieses Buch ist bereichernd. Und das nicht nur durch die unheimliche Fülle an Informationen, sondern auch durch die Impulse zum Scheitern in der Sozialen Arbeit und insbesondere der Jugendhilfe. Die Soziale Arbeit als Profession ist nicht unbedingt dafür bekannt, sehr selbstkritische Fachkräfte hervorzubringen. Umso schöner und beeindruckender ist es, dass es Mathias Schwabe gelingt, den Finger in die Wunde zu legen: Es sind immer eben nicht nur die anderen Beteiligten, die fürs Scheitern verantwortlich sind, sondern manchmal auch wir Fachkräfte selbst. Das ist stark, das macht nachdenklich – und macht Hoffnung, dass so manche*r nach dem Lesen eigene Anteile am Scheitern von Maßnahmen, Angeboten oder Hilfeverläufen erkennt. Denn das dürfte den Unterschied zwischen guten und sehr guten Sozialarbeiter*innen ausmachen. Es ist der Verdienst von Mathias Schwabe, dass es nach dem Lesen dieses Buches vielleicht noch ein paar mehr sehr gute Sozialarbeiter*innen geben wird.
Fazit
Das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein (ge)wichtiges Buch – umfangreich an Seiten, detailreich in den Inhalten und mit sehr viel Erkenntnisgewinn: Scheitern ist in der Sozialen Arbeit bisweilen unumgänglich und kann – richtig nachbearbeitet – zu wirklichem Wachstum führen. Am Ende scheint es fast so etwas wie Schwabes Lebenswerk zu sein.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 09.07.2024 zu:
Mathias Schwabe: Das Scheitern von pädagogischen Projekten - zudem eine etwas andere Geschichte der Sozialpädagogik. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
ISBN 978-3-7799-7846-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31610.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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