Daniel Kieslinger, Norbert Beck et al. (Hrsg.): Pädagogische Grundlagen der stationären Kinder- und Jugendhilfe
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann, 16.09.2024
Daniel Kieslinger, Norbert Beck, Ralph Haar (Hrsg.): Pädagogische Grundlagen der stationären Kinder- und Jugendhilfe.
Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2024.
350 Seiten.
ISBN 978-3-7841-3663-9.
D: 29,00 EUR,
A: 29,90 EUR.
Reihe: Beiträge zur Erziehungshilfe - 54.
Thema
Die stationäre Kinder- und Jugendhilfe spielt eine zentrale Rolle im Hilfesystem für junge Menschen, die aufgrund familiärer Probleme oder Krisen nicht in ihrem Herkunftsmilieu verbleiben können. In Einrichtungen der stationären Jugendhilfe erhalten Kinder und Jugendliche zumeist eine langfristige Betreuung und Unterstützung, wobei der Fokus auf sozialpädagogischer Förderung, sozialer Integration und emotionaler Stabilisierung sowie bildungsbiografischer Entwicklung liegt. Trotz ihrer grundlegenden Bedeutung stehen stationäre Hilfen jedoch auch vor erheblichen Herausforderungen bspw. dem Personalmangel und die damit einhergehende Überlastung des Fachpersonals. Studien belegen, dass eine hohe Betreuungsdichte und emotionale Belastung des Personals zu einer Einschränkung der individuellen Förderung der jungen Menschen führen können. Dies kann langfristig negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen haben, da eine stabile, verlässliche Bezugsinteraktion im Hilfeprozess von zentraler Bedeutung ist.
Ein weiterer kritischer Aspekt ist die Frage nach der Wirksamkeit der stationären Jugendhilfe. Forschungsergebnisse zeigen, dass die Förderung der Betroffenen in ein selbstbestimmteres und gelingenderes Leben nach Beendigung der stationären Maßnahme oft schwierig bleibt. Besonders im Übergang in die Verselbstständigung nach dem 18. Lebensjahr zeigen sich Defizite, da Jugendliche häufig auf sich allein gestellt sind und die zuvor erhaltenen Hilfen nicht ausreichend auf eine nachhaltige Unabhängigkeit vorbereiten. Zudem wird die hohe Kostenstruktur der stationären Unterbringung kritisch hinterfragt, ob die Mittel effizient eingesetzt werden und ob sozialraum- und lebensweltorientierte, familienunterstützende Maßnahmen nicht in manchen Fällen sinnvoller wären.
Das Buch will, so die von den Herausgebenden in ihrer Einleitung formulierten Zielstellung, für diesen Handlungskontext „einen grundlegenden, praxisnahen Überblick über das sich im Umbruch befindliche Arbeitsfeld der stationären Kinder- und Jugendhilfe [bieten] und ist darauf ausgerichtet, junge Fachkräfte beim Berufseinstieg in der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik bestmöglich zu unterstützen und ihnen zu ermöglichen, erfolgreich in den anspruchsvollen Settings stationärer Hilfen zur Erziehung anzukommen“ (S. 8–9)
Herausgeber
Daniel Kieslinger war stellvertretender Geschäftsführer des Bundesverbandes Caritas Kinder- und Jugendhilfe (BVkE) und Leiter des Modellprojekts „Inklusion jetzt!“ und arbeitet jetzt als Geschäftsführer der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Rheinland-Pfalz. Norbert Beck, Dr. phil., Dipl.-Psych., Dipl.-Soz.päd. (FH), ist als Verbundleiter im überregionalen Beratungs- und Behandlungszentrum (ÜBBZ) Würzburg tätig sowie Mitglied im Vorstand des BVkE und Leiter des Fachforums (teil-)stationäre Hilfen zur Erziehung. Ralph Haar wirkt Leiter des Strategie- und Innovationsmanagements des St. Vincenz Jugendhilfe-Zentrum e.V sowie ebenfalls als Mitglied im Vorstand des BVkE und Leiter des Fachforums (teil-)stationäre Hilfen zur Erziehung.
Aufbau und Inhalt
Nach einer Einleitung durch die Herausgebenden zur grundsätzlichen Einführung in das Thema und die Ziele des Buches geben einen Überblick über die Bedeutung der stationären Kinder- und Jugendhilfe und die Notwendigkeit einer fundierten pädagogischen Grundlage für Fachkräfte.
Insgesamt ist das Buch in drei Teile strukturiert.
In Teil 1: Struktur der Hilfen zur Erziehung – Wandel und Herausforderungen beschreibt zunächst der Beitrag ‚Das Handlungsfeld der stationären Hilfen‘ von Norbert Beck die verschiedenen Formen und Rahmenbedingungen der stationären Erziehungshilfen. Es wird erläutert, wie sich das Handlungsfeld im Laufe der Zeit verändert hat und welche neuen Herausforderungen sich ergeben. Es folgt unter der Überschrift ‚Berufsfeld Erziehungshilfe: Zentrale Merkmale und notwendige Handlungsstrategien pädagogischer Fachkräfte‘ von Dirk Michael Nüsken und Lisa Marie Erlemann eine Fokussierung der zentralen Merkmale des Berufsfeldes Erziehungshilfe. Es wird auf die speziellen Anforderungen und Handlungsstrategien eingegangen, die für pädagogische Fachkräfte in diesem Bereich wichtig sind. Jürgen Riegen behandelt mit seinem Text ‚So stelle ich mir pädagogische Fachkräfte vor‘ die idealen Eigenschaften und Fähigkeiten, die pädagogische Fachkräfte mitbringen sollten, die in einem Befragungsprojekt zu genau dieser Leitfrage mit Jugendlichen durchgeführt wurde. Der Beitrag ‚Perspektive Inklusion: notwendige Handlungsbedarfe‘ von Daniel Kieslinger beleuchtet die Bedeutung der Inklusion in der stationären Kinder- und Jugendhilfe und welche Maßnahmen notwendig sind, um inklusive Ansätze erfolgreich umzusetzen. Mit dem Beitrag ‚Pädagogische Basiskompetenzen für Fachkräfte in der stationären Jugendhilfe‘ werden durch wiederum Norbert Beck die grundlegenden pädagogischen Kompetenzen beschrieben, die Fachkräfte benötigen, die als grundlegend in der stationären Jugendhilfe angesehen werden. Der letzte Beitrag in diesem Teil, verfasst von Christian Zintl, analysiert die ‚Möglichkeiten der Vorbereitung auf das Handlungsfeld Stationäre Hilfen durch Ausbildungsstätten‘ und fokussiert dabei, wie Ausbildungsstätten zukünftige Fachkräfte auf die Herausforderungen der stationären Hilfen vorbereiten können.
Teil 2: In der Haltung Halt finden – Individuelle und institutionelle Haltungen in den Hilfen zur Erziehung wird durch den Text ‚Haltung als Qualitätsmerkmal in der Jugendhilfe‘ von Alexandra Culpepper eingeführt, in dem sie die Bedeutung von professionellen Haltungen in der Jugendhilfe diskutiert. Es wird aufgezeigt, wie eine reflektierte Haltung die Qualität der pädagogischen Arbeit beeinflusst. Marco Gillrath stellt das ‚Onboarding im Raphaelshaus‘ vor als ein praktisches Beispiel, wie die Einarbeitungsphase neuer Fachkräfte in einer konkreten Einrichtung gestaltet wird. Es werden erfolgreiche Strategien und Methoden vorgestellt. Antje Link hingegen fokussiert die ‚Begleitung von Fachkräften vor und nach Krisen‘. Dieser Text beschäftigt sich mit der Unterstützung und Begleitung von Fachkräften in Krisensituationen, sowohl präventiv als auch nachgehend. Eric Lacroix fokussiert mit seinem Text ‚Partizipation und Beteiligung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe – immer extra?!‘ die Rolle und Bedeutung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der stationären Hilfe und diskutiert, wie diese Beteiligung in den Alltag integriert werden kann und welche Rolle dabei die professionelle Haltung spielt.
Teil 3: Handwerkszeug für professionelles pädagogisches Handeln in den Hilfen zur Erziehung – Die individuelle Handlungspraxis startet mit einem Beitrag von Jana Lopatenko und Andreas Dohrn ‚Perspektivklärung – Die konsequente Orientierung an vermeintlich orientierungslosen Jugendlichen und warum es nicht so verrückt ist, wie es klingt‘, der die Wichtigkeit der Perspektivklärung und die radikale Orientierung an den Bedürfnissen und lebensweltlichen Sichtweisen der Jugendlichen unterstreicht. Der Text ‚Handwerkzeug für professionelles pädagogisches Handeln in den Hilfen zur Erziehung – Die individuelle Handlungspraxis‘ von Daniel Mastalerz fokussiert, anders als der Titel vermuten lassen würde, maßgeblich die Erlebnispädagogik als ein beispielhaftes ‚Handwerkzeug‘ vor. Franziska Brand fokussiert mit ihrem Beitrag ‚Was braucht es als pädagogische Fachkraft, um den Herausforderungen in den Hilfen zur Erziehung gerecht werden zu können?‘ maßgeblich den Aspekt des sogenannt herausfordernden Verhaltens von Kindern und Jugendlichen in diesem Handlungsfeldbezug. Andreas Ulrich, Angela von Manteuffel und Katrin Dieringa stellen mit ihrem Text den gruppendynamischen Ansatz ‚Positive Peer Culture als innovativer Ansatz in der stationären Kinder- und Jugendhilfe‘ praxisnah vor und diskutieren, wozu und wie dieser in der Praxis umgesetzt werden kann. Der Text ‚Die Kraft der Präsenz‘ von Martin Lemme und Bruno Körner rekurriert auf das seit einigen Jahren diskutierte Thema der ‚Neuen Autorität‘ in den Hilfen zur Erziehung und betont die Bedeutung der Präsenz und des bewussten Daseins von Fachkräften im pädagogischen Alltag. Dem folgt passend ein Erfahrungsbericht von Klazina Hartholt über ‚Die Systemische (neue) Autorität in der Jugendhilfe‘ und wie dieses in der Jugendhilfe Anwendung finden kann. Julia Wegnershausen hingegen gibt einen Einblick in die ‚Kinderschutzstelle – Inobhutnahme‘ und erläutert ebenfalls praxisnah die Arbeit und die Herausforderungen in Kinderschutzstellen und bei der Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen. ‚Handeln in der Krise‘, ein Textbeitrag von Annika Rüter und Tim Juranek, stellt Strategien und Methoden für den Umgang mit Krisen- und Aggressionssituationen in der stationären Jugendhilfe vor. Nicht fehlen darf in diesem Zusammenhang ein Text zu ‚Traumapädagogik – pädagogische Grundlagen für den Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe‘, den Julia Gebrande das Buch abschließend formuliert. Es werden grundlegende Ansätze und Verfahrensweisen der Traumapädagogik beschrieben, die im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen hilfreich sind.
Diskussion
Die einführend benannte Zielstellung dieses Sammelbands, den neu in dieses Handlungsfeld kommenden Fachkräften einen grundlegenden sowie praxisnahen Überblick zu geben, wird durch dieses Buch durchaus umgesetzt. Beeindruckend ist die Vielzahl an unterschiedlichen Praxiseinblicken von erfahrenen Praktiker:innen in diesem so bedeutsamen und stets wachsenden Handlungsfeld, das gleichwohl fachlich gesehen hoch anspruchsvolle Professionalität und fachliche Qualität sowohl der Fachkräfte als maßgeblich auch der Trägerorganisationen erfordert. Die Textbeiträge sind in ihrer Umsetzung sehr vielfältig und unterschiedlich ausgestaltet, vom praxisnahen Erfahrungsbericht bis zum differenziert dargelegten Wissenschaftsbeitrag, wobei die Praxisbeschreibungen deutlich überwiegen. Selbstverständlich kann ein solches, trotz der vielen Beiträge im Umfang noch überschaubares Buch nicht vollumfänglich sämtliche Aspekte dieses Handlungsfeldes abdecken. Gleichwohl müssen zwei Aspekte durchaus kritisch reflektiert sein: So fehlt für dieses klar im Bereich der Sozialen Arbeit verortete Arbeitsfeld eine differenzierte Klärung, weshalb im Titel und in vielen Grundlagentexten die ‚Pädagogik‘ bzw. das ‚pädagogische‘ zentral benannt wird, und es zudem anmutet, als würde dies geradewegs synonym zur ‚Sozialpädagogik‘ zu verorten sein, was den fachwissenschaftlichen und disziplinären Diskursen in keiner Weise entspricht. Zudem wäre eine dem Handlungsfeld durchaus auch (selbst-)kritische Reflexion nicht nur hilfreich, sondern auch notwendig und würde dem Ansinnen des Buches in keiner Weise widersprechen.
Der Sammelband bleibt in der Differenzierung zwischen Pädagogik und Sozialpädagogik unscharf, was im wissenschaftlichen Diskurs kritisch zu sehen ist. Zudem fehlt eine tiefere (selbst-)kritische Reflexion der strukturellen und professionellen Herausforderungen des Arbeitsfeldes. Insgesamt stellt das Werk eine wertvolle, da sehr praxisbezogene Ergänzung zur bestehenden Fachliteratur dar, insbesondere für Berufseinsteiger, doch wäre eine stärkere theoretische Fundierung wünschenswert.
Fazit
Das Buch „Pädagogische Grundlagen der stationären Kinder- und Jugendhilfe“ bietet eine praxisnahe Einführung in ein komplexes Handlungsfeld, das angehende und erfahrene Fachkräfte in der Sozialen Arbeit unterstützen soll. Mit einer Vielzahl an Praxisbezügen und -beispielen gelingt es den Herausgebern, einen umfassenden Überblick über die Herausforderungen und Anforderungen in der stationären Jugendhilfe zu geben.
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann
Professor für Soziale Arbeit im Fernstudium an der IU Internationale Hochschule und Studiengangleiter sowie seit 2000 in freier Praxis als Sozialarbeitsforscher, Praxisberater und Trainer tätig.
Schwerpunkte: Sozialraumorientierte Soziale Arbeit, Inklusion, Partizipation, Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen, Lösungsfokussierter Beratungsansatz, Inklusion, Partizipation, Organisationsentwicklung, Personalentwicklungsmaßnahmen in Organisationen Sozialer Arbeit, Gestaltung von Qualitätsmanagementprozessen, partizipative Praxisforschungen und Evaluationen.
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Es gibt 34 Rezensionen von Stefan Godehardt-Bestmann.
Zitiervorschlag
Stefan Godehardt-Bestmann. Rezension vom 16.09.2024 zu:
Daniel Kieslinger, Norbert Beck, Ralph Haar (Hrsg.): Pädagogische Grundlagen der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2024.
ISBN 978-3-7841-3663-9.
Reihe: Beiträge zur Erziehungshilfe - 54.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31615.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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