Peter Eli Gordon: Prekäres Glück
Rezensiert von Peter Flick, 08.01.2024
Peter Eli Gordon: Prekäres Glück. Adorno und die Quellen der Normativität. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2019. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2023. 470 Seiten. ISBN 978-3-518-58807-9. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR, CH: 50,90 sFr.
Thema
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ – die bekannte Sentenz aus Adornos „Minima Moralia“ könnte eine postmodern gestimmte Sozialtheorie fälschlicherweise auch für sich in Anspruch nehmen: als Erkenntnis einer Komplizenschaft von Moral und Macht, aus der es keinen Ausweg gibt.
Das wäre allerdings ein Missverständnis der philosophischen Intentionen Adornos, meint der an der University of Harvard lehrende Ideenhistoriker Peter E. Gordon. Mit seinem neuen Buch will Gordon ein verbreitetes Zerrbild des „philosophischen Negativisten“ Adorno entgegentreten, indem er im Durchgang durch seine moralphilosophischen und ästhetischen Texte das zentrale ethische Motiv eines „prekären Glücks“ herausarbeitet.
„Glück“ bezeichnet Adornos normative Vorstellung eines „richtigen Lebens“, das für ihn untrennbar mit dem Wissen über eine elementare Verwundbarkeit und Verletzlichkeit der menschlichen Natur verbunden ist. In einem zweiten Schritt erläutert Autor Adornos „materialistische Moraltheorie“ mit dem Begriff eines „menschlichen Gedeihens“ und rückt sie so in die Nähe eines neoaristotelischen Tugendkonzepts der „Eudämonie“.
Autor
Peter E. Gordon, geboren 1966, ist Professor of History an der Harvard University und Mitglied des dortigen Instituts für Philosophie. Er forscht an seinem Lehrstuhl für Geistesgeschichte über das philosophische Denken im Deutschland und Frankreich des 20. Jahrhunderts, u.a. auch über die sog. „Frankfurter Schule“. Mit „Prekäres Glück“ liegt erstmals ein Buch von ihm in deutscher Sprache vor.
Aufbau und Inhalt
Vorwort. Adornos Erbe (9 ff.)
In seinem Vorwort stellt Peter E. Gordon fest, dass nach seinen Beobachtungen im akademischen Milieu sich auch unter „radikalen“ Sozialforscherinnen und Sozialforschern immer mehr ein „zynischer Geist“ (23) verbreitetet, der im Widerspruch zur kritischen Haltung des Hegelianers Adorno steht, der immer darauf beharrt habe, noch in der schäbigsten Winkel der Wirklichkeit Spuren eines verhinderten Glücks zu erkennen.
Einleitung. Gegen Gnosis
Die Einleitung diskutiert die kritische Auseinandersetzung zeitgenössischer Sozialphilosophen (Jürgen Habermas, Axel Honneth, Fabian Freyenhagen) mit Adorno, die seine angeblichnegativistische Grundhaltung in einer oder anderer Form „korrigieren“ wollen. Nach Ansicht Gordons verkennen sie dabei Adornos Bezug „zur positiven Norm des menschlichen Gedeihens“ (79). Adorno als „modernen Gnostiker“ einzuordnen sei schon deshalb abwegig, weil er trotz seiner Neigung zu einer gnostischen Weltverachtung zu selbstkritisch war, um einer „totalisierende(n) Kritik des Glücks als bloße Ideologie zu verfallen.“ (97).
Immanente Kritik
Adornos Sozialtheorie zielt auf eine Praxis immanenter Kritik, die normative Forderungen nicht „von außen“ an die Gesellschaft heranträgt, sich aber auch nicht in einem „nur“ pragmatischen Sinn darauf beschränken will, ein „Missverhältnis zwischen gegebenen Praktiken und Normen“ festzuhalten. (160 f.). Kritik braucht den Sinn für eine „innerweltlichen Transzendenz“. Gordon folgt „Rahel Jaeggis Unterscheidung von interner und immanenter Kritik“ (163), wobei Adorno die „normative Messlatte“ der Kritik deutlich höher legt, als es üblicherweise bei „internen“, aber auch „immanenten“ Kritikern üblich ist.
Menschliches Gedeihen
Das Kapitel erläutert den aristotelischen Zentralbegriff des „menschliches Gedeihens“. Adornos Glücksbegriff wird von Gordon in einem teleologischen Prinzip der menschlichen Natur verankert, die das Potenzial der Glücksmöglichkeiten nicht von vorneherein als begrenzt betrachtet. Hierbei zeigt sich für Gordon bei aller Nähe zum aristotelische Tugendideal eine „Abweichung“ Adornos vom griechischen Konzept der Eudämonie. Er sei nicht gewillt das hedonistische Moment eines sinnlichen Erfüllung der Vernunft unterzuordnen.
Materialismus und Natur
Das Kapitel vertieft diesen „hedonistischen“ Aspekt und erläutert, warum Adornos Philosophie einem im „weitesten Sinn“ (236) materialistischen Denken zuzuordnen sei. Zum einen, weil seine Philosophie im „sinnliche(n) Dasein“ den „Ort aller menschlichen Erfüllung erkennt“ (236); zum andern, weil die Erfahrung des Nichtidentischen die Selbstzentrierung des Subjekts auflöst und sie für eine existenzielle „Vulnerabilität“ (257 ff.) empfänglich macht.
Von der Metaphysik zur Moral
Auch wenn die Metaphysik, so Gordon, bei Adorno unter dem Verdacht steht, das sinnliche Potenzial und die Möglichkeiten seiner Erfüllung zu verleugnen, will er dennoch, dass die „aus der Metaphysik gewonnene Vorstellung vom höchsten Gut in rein materialistischen Termini reformuliert werden“ (305).
Ästhetische Theorie
Adornos umstrittene Theorie der autonomen Kunst wird von Gordon verteidigt, auch wenn dieser in Analysen, wie etwa zum Jazz, hinter den Anspruch des eigenen (dialektischen) Denkens zurückfällt. Adornos Theorie beharrt auf einer Ästhetik, in der das Werk im emphatischen Sinn „die Erinnerung an menschliches Leid und das Versprechen auf unser Glück umfasst“ (348). Autonomie und Sozialkritik bilden für Adorno keine Gegensätze, sondern sind beides Momente eines ästhetischen Gelingens.
Ästhetische Erfahrung
Dass ästhetische Erfahrungen, trotz des Eindringens der Marktmechanismen in die Institution Kunst, die Kräfte einer autonomen „moralische(n) Haltung“ (348) stärken, sollen die in dem Kapitel vorgestellten literatur- und musikwissenschaftlichen Einzelanalysen Adornos, insbesondere die zur Musik Ludwig van Beethovens und Gustav Mahlers, belegen.
Schluss. Gesellschaftskritik heute
Adornos „prekäres Glücks“ ist in der Lesart Peter E. Gordons ein Gegenentwurf zu solipsistischen Moralkonzepten, die im Rückgriff auf antik-humanistische Lebensweisheiten „Resignation“ predigen oder (schlimmer) pseudoradikale Haltungen einer „genealogischen Demontage“ (438) fördern, die jedes Handeln und Suchen nach normativ gehaltvollen Lösungen sinnlos erscheinen lassen.
Diskussion
Gordon möchte Adornos Begriff eines „prekären Glücks“ in einen neoaristotelischen Entwurf des verbindlichen „kollektiven Guten“ einbetten. Es stellt sich dabei die Frage, ob Gordons formale Bestimmung des Glücks nicht ein Dilemma von Begründungsstrategien deutlich macht, die einerseits jede inhaltliche Aussage über Bedingungen des „menschlichen Gedeihens“ vermeiden wollen, dadurch aber blässlich und leer bleiben; andererseits aber, wenn dem formalen Begriff des „Glücks“ durch inhaltlichen Aussagen mehr Substanz verliehen werden soll, auf partikulare ethische Vorstellungen zurückgreifen muss, die außerhalb ihres Entstehungskontextes strittig bleiben. (Vgl. J. Habermas; Die Einbeziehung des Anderen, 1999, 42).
Ein anderer Einwand bezieht sich auf die (für Gordon unproblematische) Aufladung materialistischer Glücksvorstellungen durch den theologischen Begriff der „Erlösung“. In Adornos Rede vom universellen „Glück der menschlichen Gattung“ als einem „unrealisierten Versprechen“ zeigt sich sein Festhalten an einer messianischen „Idee der Versöhnung“, was Albrecht Wellmer im Blick auf Adorno zurecht als „negativistische Rückkehr zur Theologie“ interpretiert. (A. Wellmer, Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, 1993, 196).
Fazit
Gordons verständlich geschriebenem Buch gelingt es, einem interessierten Publikum außerhalb der Fachkreise die „materialistische Moraltheorie“ Adornos näherzubringen. Das „Erbe Adornos“, das Gordon für bewahrenswert hält, ist ein selbstreflexiver Umgang mit moralischen Begriffen, der sich nicht gegenüber menschlichen Erfahrungen der Verletzlichkeit und Fragilität verschließen darf.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 08.01.2024 zu:
Peter Eli Gordon: Prekäres Glück. Adorno und die Quellen der Normativität. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2019. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-518-58807-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31618.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
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