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Lieselotte Mahler, Ina Jarchov-Jádi et al.: Praxishandbuch Akutpsychiatrie

Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 18.10.2024

Cover Lieselotte Mahler, Ina Jarchov-Jádi et al.: Praxishandbuch Akutpsychiatrie ISBN 978-3-96605-129-3

Lieselotte Mahler, Ina Jarchov-Jádi, Matthias Jäger: Praxishandbuch Akutpsychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2024. 288 Seiten. ISBN 978-3-96605-129-3. D: 45,00 EUR, A: 46,30 EUR.

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Thema und Zielgruppe

Das Buch ist aus dem 2017 ins Leben gerufenen „Praxisforum Akutpsychiatrie“ entstanden, bei dem sich jährlich rund 200 Mitarbeitende verschiedener Berufsgruppen (incl. Genesungsbegleiter*innen) aus psychiatrischen Kliniken des deutschsprachigen Raumes treffen. Ihnen geht es insbesondere um interprofessionelle Zusammenarbeit, partizipatorische Entscheidungen, beziehungs- und bedürfnisorientierte Behandlungen, flexible Settings mit Behandlerkontinuität, den konsequenten Einsatz von Peers und – wo immer möglich – offene Türen und Vermeidung von Zwang. Ausgangspunkt war das Recovery-orientierte Weddinger Modell. Das Buch richtet sich an psychiatrische Fachkräfte, Lehrende in Bildungseinrichtungen und an Lernende.

Herausgeber*innen und Autor*innen

Lieselotte Mahler ist Ärztliche Direktorin und Chefärztin der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie der Kliniken im Theodor-Wenzel-Werk, Berlin. Ina Jarchov-Jádi ist Pflegedienstleiterin am St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin. Zusammen mit Lieselotte Mahler hat sie das Weddinger Modell initiiert. Matthias Jäger ist Direktor und Chefarzt der Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrie Baselland.

Mitgewirkt haben 53 Autorinnen und Autoren verschiedener Professionen. Das Buch beginnt mit der Perspektive von Expert*innen aus Erfahrung. Auch die Perspektive der Angehörigen-Peers erhält Raum.

Aufbau 

Das Buch besteht nach einer Einführung aus den Bereichen

  • Die Perspektive der Psychiatrieerfahrenen
  • Die Therapeutische Haltung
  • Die Versorgungsorganisation
  • Die Stationsstrukturen
  • Die Behandlungsangebote
  • Neue Konzepte

Jeder Bereich schließt mit einem Fazit der Herausgebenden ab. Im Anhang werden alle Autor*innen kurz vorgestellt. Den Abschluss bildet ein umfangreiches Literaturverzeichnis.

Inhalt

Expert*innen aus Erfahrung betonen die Wichtigkeit des Perspektivenwechsels der Fachkräfte: „Was brauche ich selber in einer Ausnahmesituation, in der ich auf fremde Hilfe angewiesen bin?“ Statt standardisierter Behandlung mit professioneller Distanz betonen sie die Bedeutung echter Anteilnahme, Authentizität und greifbarer Nähe auf Augenhöhe, aber auch zeitnahe Hilfe, einen partizipativen Umgang mit der Dauer der Angebote und Rückzugsräume (Einzelzimmer). Behandelnde dürften ihre eigene Verletzlichkeit nicht leugnen, um Machbarkeit und Kontrollierbarkeit vorzugaukeln. Theoretisch holt Natalie Arsalan etwas weiter aus und reflektiert das „Othering“ (das Menschen außerhalb der dominanten Kultur marginalisiert) und real bestehende Gefälle von Dominanz, Macht und Status. Sie kommt auch zu ganz praktischen Aspekten wie notwendige Darstellungen in einfacher Sprache, ein Bewusstsein für die Raumstruktur sowie die Sicherheitsbedürfnisse bei Visiten und thematisiert Diskrepanzen zwischen geschriebenem Wort (in Arztbriefen) und gesprochenem Wort in der therapeutischen Beziehung.

Im Abschnitt zur therapeutischen Haltung in der Akutpsychiatrie wird zunächst die therapeutische Haltung von einer kustodialen Haltung, die Regeln und Restriktionen betont, einer „Erziehungsanstaltshaltung“ und einer kundenorientierten Haltung (die keiner innerlichen Beteiligung bedarf) abgegrenzt. Des Weiteren beleuchtet Felix Bermpohl kulturelle Wurzeln christlicher Prägung, sowie die Bedeutung eigener biografischer Erfahrungen und des Modelllernens in psychiatrischen Institutionen. Er stellt anthropologische und daseinsanalytische Perspektiven biologischen Krankheitsmodellen gegenüber. Sebastian Rüegg betont die Bedeutung, Expert*innen aus Erfahrung in Aus- und Weiterbildung zu integrieren. Im weiteren Verlauf des Abschnittes zur therapeutischen Haltung wird herausgearbeitet, dass es (mit Rückgriff auf Michael Foucault) einer grundsätzlicheren kritischen und selbstreflexiven Analyse von Macht- und Herrschaftsbeziehungen bedarf, um Praktiken der Freiheit zu bestimmen. Gianfranco Zuaboni führt noch einmal die Recovery-basierten Grundwerte aus: Personenzentrierung, Beteiligung, Selbstbestimmung und Wachstumspotenzial. Im Anschluss geht es u.a. um assistierte Entscheidungsfindung und um eine Würdigung der 103jährig verstorbenen wichtigen Protagonistin Dorothea Buck durch Thoma Bock.

Der Abschnitt „Versorgungsorganisation“ handelt von aktuellen Entwicklungen der ambulanten und intermediären (ein in der Schweiz gebräuchlicher Terminus für Behandlungsangebote zwischen stationär und ambulant) Versorgung akut kranker Menschen. Aktuelle Entwicklungen der stationsäquivalenten Behandlung (StäB) werden am Beispiel von Berlin-Neukölln unter Rückgriff auf erste Evaluationsdaten thematisiert. Im Weiteren geht es um Frühintervention und angemessene Öffentlichkeitsarbeit und um Kernelemente personenzentrierter psychiatrischer Versorgung, welche systematisch Peer-Arbeit, Angehörigenarbeit, und Prävention einbezieht und sozialraumorientiert mit gemeinsamen Begegnungsräumen aufgestellt ist (Bildung, Zuverdienst, Gruppenangebote). Einen festen Platz haben darin Krisenintervention, multiprofessionelle aufsuchende Arbeit und nachgehende Unterstützung, sowie Akuttageskliniken. Sarah L. Jordan und Ilona Distelkamp gehen der Frage nach, was Pflegefachpersonen in der Akutpsychiatrie brauchen, um dauerhaft und gerne dort zu arbeiten.

Im Abschnitt „Stationsstrukturen“ wird die Frage aufgeworfen, wie man im Akutklinikbereich trotz einschränkender Rahmenbedingungen ein heilsames und flexibles Milieu (mit der Option, ein Einzelzimmer als Rückzugsort zu haben) gestalten und gewaltbegünstigende Faktoren systematisch bearbeiten und reduzieren kann. Auch die gelingende interprofessionelle Organisationskultur mit interprofessionellen Weiterbildungsangeboten (z.B. Deeskalationstrainings), Reflexionen und Teamentwicklung ist hierbei Thema. Am Beispiel des Weddinger Modells sowie unter Berücksichtigung von Forschungsergebnissen und Erfahrungen aus Basel werden alternative beteiligungsorientierte Visiten- und Behandlungsplanungsweisen sowie Anforderungen an die Evaluation dargestellt. Weitere Themen sind das Spannungsfeld zwischen Sicherheitsbedürfnissen und Zwang sowie die angemessene Gestaltung von Räumlichkeiten, letzteres wird in späteren Beiträgen z.B. von der Ergotherapeutin Kathrin Bücke wieder aufgegriffen.

Im Abschnitt Behandlungsangebote komme ganz verschiedene Therapeut*innen zu Wort. Den Anfang machen eine Genesungsbegleiterin und eine Pionierin der Angehörigenbegleitung, die die zahlreichen Anliegen der Angehörigen verdeutlicht. Nach einem kurzen Überblickskapitel über Gruppenangebote, finden sich hier – veranschaulicht durch Fallbeispiele – Ausführungen zu

  • flexiblen Angeboten von Ergotherapie im Akutbereich, die den Menschen auf unterschiedliche Weise ermöglichen, ins Handeln zu kommen
  • Körpertherapien am Beispiel von Körperwahrnehmung, therapeutischem Klettern, Bewegungstherapie und Einzelangeboten
  • Musiktherapie mit ihrem Potenzial, nicht Verbalisierbares klanglich widerzuspiegeln, Kreativität zu zeigen sowie Räume für Begegnung und Gefühle der Verbundenheit zu eröffnen
  • Sozialarbeit mit der Möglichkeit, alles überschattende Probleme (wie drohende Wohnungslosigkeit, Verwahrlosung, anstehende Strafverfahren) lösbar werden zu lassen und am Ende des Aufenthaltes die Nachsorge zu vermitteln
  • Kunsttherapie, die eine ins Stocken geratene kreative Selbstaktualisierung wiederbeleben kann und dabei hilft, die im Projektionsraum der Bildwelten aussagbar gemachten Anteile zu integrieren.

Der letzte Abschnitt widmet sich noch einmal ausführlicher „Neuen Konzepten“:

Hier geht es beispielsweise um Dialogkulturen, Netzwerkarbeit und Fragen der Beziehungsgestaltung, um Behandlungsvereinbarungen, systematische Nachbesprechungen von Zwangsmaßnahmen, Deeskalationstrainings und eine traumasensitive Organisationskultur, Haltung und Arbeit. In diesem Anschnitt wird Bezug genommen auf neuere Leitlinien (für akutpsychiatrische Behandlung und zur Verhinderung von Zwang und Gewalt), Evaluationsstudien und entwickelte Handreichungen (z.B. zur standardisierten Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen oder zu Patientenverfügungen/​Behandlungsvereinbarungen). Betont wird zudem eine Organisationsentwicklung, die alle Ebenen umfasst und mit regelmäßigen Weiterbildungen untersetzt ist.

Diskussion

Das Buch macht Hoffnung, liefert wichtige recoveryorientierte Impulse und zeigt, dass in der Akutpsychiatrie vieles in Bewegung ist und interprofessionelle, personen- und weniger klinikzentrierte Zusammenarbeit gelingen kann. Die zahlreichen Autorinnen und Autoren liefern unterschiedliche und interessante Perspektiven, die zum Gelingen des Ganzen beitragen.

Zugleich frage ich mich, warum es trotz der UN-BRK im derzeitigen Hilfesystem so mühsam ist, die bereits im seit über 50 Jahren beschriebenen Soteria Konzept erkannten Aspekte konsequent in der psychiatrischen Versorgung flächendeckend zu etablieren (und zu finanzieren), jedem Menschen einen Rückzugsort (bei Bedarf ein Einzelzimmer) zur Verfügung zu stellen und die – in diesem Buch ausdrücklich nicht thematisierte – immer noch bestehende Vorherrschaft von unter Zeitdruck aufgestellten medikamentösen Behandlungsansätzen im gesamten Hilfesystem konsequent anzugehen. Ich wünsche mir, dass die vom Praxisforum Akutpsychiatrie ausgehenden Impulse das Hilfesystem flächendeckend und nachhaltig verändern und an vielen Orten partizipative Organisationsentwicklungen in Gang setzen, die zu ausfinanzierten, sozialraumoffenen und an den Bedürfnissen der Zielgruppe orientierten, baulich angemessen konzipierten Klinikabteilungen mit gut ausgebildetem, selbstreflexivem Personal führen.

Fazit

Das Praxishandbuch Akutpsychiatrie bietet einen Einblick in neue (und wiederbelebte) Arbeitsmethoden sowie Rahmenbedingungen, die in der Akutpsychiatrie eine partizipative, personenzentrierte und beziehungsorientierte Herangehensweise im bestehenden Hilfesystem ermöglichen. Das Buch wurde gemeinsam mit Genesungsbegleiter*innen erstellt und betrachtet das Thema aus ganz verschiedenen Fachrichtungen. Der Fokus liegt auf der stationären, teilstationären und stationsäquivalenten Behandlung.

Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Es gibt 144 Rezensionen von Annemarie Jost.

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Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 18.10.2024 zu: Lieselotte Mahler, Ina Jarchov-Jádi, Matthias Jäger: Praxishandbuch Akutpsychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2024. ISBN 978-3-96605-129-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31625.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.


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