Andreas Kollar: Nur die Lumpe sind bescheiden
Rezensiert von Prof. i.R. Dr. Peter Bünder, 13.12.2024
Andreas Kollar: Nur die Lumpe sind bescheiden. Eine Autobiografie der Heidelberger systemischen Gruppe.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2023.
175 Seiten.
ISBN 978-3-8497-0439-1.
D: 27,95 EUR,
A: 28,80 EUR.
Reihe: Systemische Therapie und Beratung.
Das Thema
Das Buch stellt die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der später so genannten „Heidelberger systemischen Gruppe“ um Prof. Dr. Helm Stierlin dar.
Zum Autor
Mag. Rer. nat. Andreas Kollar ist Klinischer Psychologe, Gesundheitspsychologe und Sportpsychologe sowie Lehrtrainer für Klinische Hypnose. Er ist (Mit-)Geschäftsführer der Kompetenzfokus GmbH.
Aufbau
Nach einem kurzen Vorwort und einem Prolog gliedert sich das Buch in fünf Kapitel und einem kurzen Epilog.
- Prolog: Auftragsklärung
- Kapitel 1: Die Heidelberger Gruppe im Kontext
- Kapitel 2: Wir hätten einander nie ausgesucht
- Kapitel 3: Gunthard Webers Sicht auf die Chronologie der Heidelberger Gruppe – und ein Herzensprojekt
- Kapitel 4: Unter der Lupe
- Kapitel 5: Ein gemeinsamer Rück- und Ausblick
Inhalt
Bereits im Prolog beginnt ein spannender und informativer Dialog zwischen dem Autoren und Gunther Schmidt bzw. Fritz B. Simon. Wie deutlich wird, stammte die Idee für dieses Buch nicht von Andreas Kollar selbst, sondern ging auf die Initiative von Fritz B. Simon zurück (S. 14). Fokussiert wird danach auf die ursprüngliche „Viergruppe“, Helm Stierlin, Gunther Schmidt, Fritz B. Simon und Gunthard Weber.
Das Kapitel 1, „Die Heidelberger Gruppe im Kontext“, thematisiert eine einführende Beschreibung der Tätigkeiten von Gunther Schmidt, Fritz B. Simon und Gunthard Weber, den gesellschaftlichen Kontext der 1970er und frühen 1980er Jahren, sowie einen Austausch über die damalige Situation von Psychologie und Psychiatrie in Heidelberg. Zentral ist hier der Austausch über die allmähliche Verschiebung vom Schwerpunkt Einzeltherapie hin zur Systemtherapie (Familientherapie). Der Abschluss des Kapitels bildet eine kurze Zusammenfassung des systemischen Ansatzes durch Fritz B. Simon.
Im Kapitel 2, “Wir hätten einander nie ausgesucht“ wird im Dialog zwischen Autor mit Gunther Schmidt und Fritz B. Simon der Frage nachgegangen, wie es damals gelang, diese Heidelberger Gruppe so wirksam und erfolgreich werden zu lassen. In einem sehr lebendigen Dialog werden – jeweils eingeführt durch Fragen des Autors – von Gunther Schmidt und Fritz B. Simon in insgesamt elf Unterkapiteln die unterschiedlichen Aspekte thematisiert, welche die Heidelberger Gruppe über die Jahre beschäftigt und zusammengehalten hat. Es wird berichtet, welchen Einfluss andere systemische Persönlichkeiten wie Paul Watzlawick, die Mailänder Gruppe um Selvini Palazzoli, Boszormenyi-Nagy, Harold Goolishian und Salvador Minuchin, auf die Weiterentwicklung der Heidelberger Gruppe hatten. Dabei werden auch erlebte Konflikte nicht verschwiegen oder übergangen, sondern offen angesprochen. Angereichert wird hier die Lektüre durch die Darstellung von „sieben Erfolgsrezepten“ sowie zwei inhaltliche Zusammenfassungen zur Entwicklung systemischen Denkens bzw. einen Blick auf soziale Systeme.
Das relativ kurze Kapitel 3, „Gunthard Webers Sicht auf die Chronologie der Heidelberger Gruppe – und ein Herzensprojekt“, zeigt den Dialog zwischen dem Autor und Gunthard Weber, der von 1977 bis 1982 bei Helm Stierlin arbeitete. Er nimmt Bezug auf den Ansatz von Bert Hellinger, die später zu einem großen Konflikt führen sollte. Nachdem Gunthard Weber 1983 in Wiesloch das „Institut für systemische Therapie und Transaktionsanalyse“ gegründet hatte, war er – angeregt durch die Mailänder Gruppe – aktiv, um gemeinsam mit der Heidelberger Gruppe und dem Marburger Institut von Klaus Deissler und Peter Gester 1984 die „Internationale Gesellschaft für Systemische Therapie – IGST“ zu gründen. Spannend ist hier zum Abschluss des Kapitels die Schilderung von Gunthard Weber zu von ihm durchgeführten humanitären Projekten in Südafrika (1967 – 1972) bzw. Mail (2004 bis heute).
Im Kapitel 4, „Unter der Lupe“, werden bereits vorher angeführte Ereignisse und Gedanken nochmals aufgegriffen. Dies jedoch nicht als gemeinsamer Dialog, sondern als Zusammenfassung der vorherigen Einzelinterviews mit Fritz B. Simon, Gunthard Weber und Gunther Schmidt. Fritz B. Simon fokussiert dabei auf die Organisation großer Kongresse und der Konkurrenz unter Systemikern, Gunthard Weber fokussiert auf die Aufstellungsarbeit nach Bert Hellinger, Gunther Schmidt abschließend auf die Beziehung von Systemik und Hypnotherapie.
Das ebenfalls kurze Kapitel 5, „Ein gemeinsamer Rück- und Ausblick“, stellt abschließend den Dialog zwischen den beteiligten Protagonisten dar. Hier wird nochmals ausführlich und sehr persönlich auf die Bedeutung von Helm Stierlin für die Heidelberger Gruppe eingegangen, die kollegiale Beziehung zur Mailänder Gruppe reflektiert, kurz das Thema Bert Hellinger aufgegriffen, den Tod von Helm Stierlin, sowie zum Abschluss der spaßige Blick auf die Perspektiven der inzwischen auch etwas älteren Herren.
Diskussion
Eine Besonderheit dieses Fachbuchs ist die gewählte Form der Darstellung. Während Fachbücher in der Regel einen durchstrukturierten Text mit Literaturangaben offerieren, steht hier die Verschriftlichung von mündlichen Dialogen in Form von Fragen und Antworten im Zentrum. Es ist spannend zu lesen, wie viele Informationen via Ereignisse oder Überlegungen zur systemischen Entwicklung nicht nur in Heidelberg, sondern in ganz Deutschland vermittelt werden. Die ursprüngliche Idee, Helm Stierlin persönlich einzubinden, wurde leider durch seinen Tod im Jahr 2021 nicht mehr realisierbar. Dennoch ist das, was wohl die mit frühesten und längsten Weggenossen von ihm hier darstellen, wertvoll für ein Verständnis der systemischen Entwicklung in diesem Land. Wie im Buch ausgeführt wird, soll dies aber auf keinen Fall die Bedeutung und Leistung anderer Bezugspersonen der Heidelberger Gruppe – wie beispielsweise Michael Wirsing, Norbert Wetzel, Ingeborg Rücker-Embden-Jonasch, Andrea Ebbecke-Nohlen, Arnold Retzer und Jochen Schweitzer – schmälern.
Fazit
Dieses Buch kann – sofern ein Interesse an der historischen Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung in Deutschland gegeben ist – einen wertvollen Beitrag zum Verständnis liefern. Mit kurzen und klaren Fragen ermöglicht der Autor des Buches sehr lebendige und informative Dialoge bzw. Einzelaussagen. Die Sprache ist klar und gut verständlich. Personen, die an einer Weiterbildung in systemischer Beratung oder Therapie interessiert sind, sollten dieses Buch unbedingt lesen, da es viele Anregungen und Impulse für das eigene Probieren liefern kann. Als eine Person, die im Jahr 1992 selbst die Gelegenheit hatte, ein kurzes Praktikum im Institut für Familientherpie bei Prof. Helm Stierlin absolvieren zu dürfen, kann ich dieses Buch persönlich nur sehr empfehlen.
Rezension von
Prof. i.R. Dr. Peter Bünder
Vormals Hochschule - University of Applied Sciences - Düsseldorf, Lehrgebiet Erziehungswissenschaft am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Zitiervorschlag
Peter Bünder. Rezension vom 13.12.2024 zu:
Andreas Kollar: Nur die Lumpe sind bescheiden. Eine Autobiografie der Heidelberger systemischen Gruppe. Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2023.
ISBN 978-3-8497-0439-1.
Reihe: Systemische Therapie und Beratung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31627.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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