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Matthias Varga von Kibéd, Insa Sparrer: Ganz im Gegenteil

Rezensiert von Prof. Dr. Lilo Schmitz, 12.03.2025

Cover Matthias Varga von Kibéd, Insa Sparrer: Ganz im Gegenteil ISBN 978-3-8497-0515-2

Matthias Varga von Kibéd, Insa Sparrer: Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2023. 12. Auflage. 258 Seiten. ISBN 978-3-8497-0515-2. D: 34,95 EUR, A: 36,00 EUR.
Reihe: Systemaufstellungen.

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Thema

Wer immerzu zwischen verschiedenen Handlungsalternativen und verschiedenen Sichtweisen hin und her schwankt, behindert sich letztlich selbst, so lautet eine gängige Grundannahme. Ganz im Gegenteil – das meinen Autor und Autorin dieses systemischen Klassikers, der nunmehr in seiner zwölften Auflage im Verlag Carl Auer erscheint.

Autor und Autorin

Matthias Varga von Kibed lehrte und lehrt an mehreren Hochschulen und privaten Ausbildungsinstituten Philosophie, Logik, Systemische Therapie und Systemische Strukturaufstellungen. Er ist apl. Professor am Department für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie, Religionswissenschaft und Wirtschaftstheorie der Universität München. Gemeinsam mit seiner Frau Insa Sparrer hat Matthias Varga von Kibed die systemischen Strukturaufstellungen entwickelt, die sie gemeinsam in Fort- und Weiterbildungen vermitteln. Insa Sparrer ist Diplompsychologin und Psychotherapeutin in privater Praxis. Sie verknüpft in Praxis und Veröffentlichungen systemische Aufstellungsarbeit mit unterschiedlichen Therapie- und Beratungsansätzen, vor allem aber mit der systemisch-lösungsfokussierten Perspektive. Sowohl Matthias Varga von Kibed als auch Insa Sparrer haben die Grundlagen ihrer lösungsfokussierten systemischen Arbeit bei Steve de Shazer und Insoo Kim Berg erworben. Spezielle Anregungen zur Aufstellungsarbeit haben sie u.a. bei Virginia Satir und Bert Hellinger erhalten.

Entstehungshintergrund

Im Jahre 1995 erschien zunächst als schmales Bändchen die Grundform dieses Klassikers, der noch den Titel trug, „Querdenken als Quelle der Veränderung“. Mit den folgenden Auflagen wurde der mittlerweile als Klassiker geltende Band erweitert, ergänzt und verändert und liegt nun mit einem neuen Vorwort in der 12. Auflage vor, die allerdings nicht mehr den Untertitel (…) „für Querdenker und solche, die es werden wollen“ trägt, was wohl der mit der Corona-Zeit auftretenden neuen Konnotation und Diskreditierung des Begriffs „Querdenker“ geschuldet ist.

Aufbau

Das Buch besteht aus sieben in sich geschlossenen Hauptkapiteln, die die wichtigsten Aspekte des „transverbalen Ansatzes“ des Autorenpaares beleuchten. Ein „Exkurs“ und zwei Kapitel „Nachklang“ schließen sich an. In einem großen Kapitel VIII des Buches fassen Autor und Autorin auf 60 Seiten die wichtigsten Grundannahmen zu ihren systemischen Strukturaufstellungen zusammen. Insgesamt lädt diese Anordnung dazu ein, das Buch durchaus nicht von Seite 1 bis Seite 258, sondern interessengeleitet oder in zufälliger Reihenfolge der Kapitel zu lesen. Dieses Feuerwerk an Einfällen, Denk – und Beratungsvorschlägen, das sowohl folgerichtig als auch verwirrend und befreiend wirkt, in einer Rezension erschöpfend darzustellen ist unmöglich. Ich will deshalb im Folgenden einzelne Hauptkapitel dieses Klassikers mit ihren essenziellen Gedanken skizzieren.

Inhalt

Schon vom ersten Kapitel an führen Matthias Varga von Kibed als auch Insa Sparrer die Leserin an ihre Denkweise heran, die unorthodox die unhinterfragten „Logiken“ der Alltagstheorien hinter sich lassen. Eingeleitet mit einer Geschichte von Mullah Nasreddin präsentieren Autor und Autorin der Leserin knifflige Aufgaben mit Papier und Stift, die nur zu lösen sind, wenn übliche Vorannahmen über Bord geworfen werden. Nach dieser Einführung ins vorurteilslose Querdenken wird der Leser eingeladen, auch die neu gewonnenen Erkenntnisse als „Meta – Quer*denker“ wiederum infrage zu stellen und daraus neue Fragen zu entwickeln. Die Leserin wird ermuntert, ihre gängigen Vorurteile und Vorstellungen davon, was wie zusammenhängt, erschüttern zu lassen, und zwar sowohl von „äußeren Quer*denkern“ (Menschen, die zunächst einmal stören, weil sie gängigen Grundannahmen gegenüber skeptisch oder ungläubig sind) wie auch von den noch zu entwickelnden „inneren Quer*denkern“, einer inneren Instanz, die darauf achtgibt, dass Menschen beim Denken festgefahrene Bahnen verlassen können.

Aus der Fülle der praktischen Übungen und Anregungen möchte ich einige beispielhaft vorstellen:

Im Kapitel Problemaufstellungen und Aufstellung des ausgeblendeten Themas wird der Leser eingeladen, sich der Theorie und Praxis systemischer Strukturaufstellungen zu nähern, indem er ein beliebiges eigenes Problem mit einer Schritt-für-Schritt Anleitung durcharbeitet. Illustriert mit wunderbaren Fabelwesen, die Matthias Varga von Kibed selbst erdacht und entworfen hat, werden unterschiedliche wichtige Aspekte des Themas beleuchtet und überraschend mit einbezogen. Auf den ersten Blick paradoxe Erkenntnissen wie „Hindernisse können zu Ressourcen werden“ oder „Es war auch zu etwas gut, dass wir in dieser Sache noch keinen Erfolg hatten“ leiten die eigentliche Problemaufstellung ein, die die Leserin sowohl in Einzelarbeit durch Positionswechsel im Raum aber auch in einer Gruppe von Menschen bearbeiten kann. Neben dem Problem, dem Ziel und den Hindernissen auf dem Weg zum Ziel tauchen verborgene und ungenutzte Ressourcen auf, verdeckte Gewinne des bisherigen Problems, die künftige Aufgabe, die (vielleicht im Verborgenen) wartet und ausgeblendete Probleme, um nur einige der vielen Perspektiven zu benennen.

Besonderen Gewinn versprechen solche Aufstellungen, wenn in einer Gruppe von Menschen gearbeitet werden kann, die die verschiedenen Perspektiven des Themas stellvertretend verkörpern und empfinden können. Da gibt es nicht nur die Perspektive der Repräsentanten, sondern auch die der Leiterinnen, die Perspektive der Beobachtenden, die Perspektive der anwesenden Systemmitglieder, die Perspektive der nicht anwesenden Systemmitglieder, die Perspektive der intendierten Adressatinnen von Berichten und die Perspektive der nicht intendierten Adressaten von Berichten, die Perspektive der reflektierenden Beobachterinnen und die Perspektive der ablehnenden und desinteressierten Anwesenden, die Perspektive der ablehnenden Dritten und die Perspektive des ausgeblendeten Themas.

Besonders interessant ist dieser Aspekt des ausgeblendeten Themas, das von Matthias Varga wieder mit Zeichnungen illustriert ist. Neben dem Fokus (der das Anliegen hat) und dem offiziellen Thema gibt es Vieles, das ausgeblendet ist: ausgeblendete Hindernisse, die wir verspüren, aber nicht genau lokalisieren können, verdeckten Gewinn, den wir auch zunächst ausblenden und nur als diffuse Schwierigkeit von Veränderung wahrnehmen und die verdeckte künftige Aufgabe, an die wir, solange das Ziel noch nicht erreicht ist, gar nicht denken können. All diese ausgeblendeten Aspekte zu betrachten und in die Lösungsarbeit einzubeziehen, bringt ganz überraschende Wendungen und Lösungen, befreit von alten Glaubenssätzen und zeigt neue Chancen auf.

Im großen Teil III führen Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer in ihre Tetralemma-Arbeit ein. Diese Arbeit erleichtert die Fähigkeit, in komplexen Situationen Handlungsfähigkeit zu gewinnen und die spezifischen Züge und Chancen der neuen Situation originell zu nutzen. Das Tetralemma nutzt vier Ecken im Sinne von vier Positionen und ist eine Struktur aus der traditionellen indischen Logik. In der Tetralemma-Arbeit werden diszipliniert bestimmte Positionen eingenommen und die Situation aus diesen Perspektiven immer neu betrachtet. So entpuppen sich manche Konflikte als „Schein – Gegensatz“, manche Lösungen bringen statt einer Entscheidung „Beides“ unter einen Hut (gleichzeitig oder nacheinander) oder eine Lösung besteht darin „Keines von Beiden“ zu wählen. Die Leserin wird eingeladen, immer wieder andere Prozesse und Positionen durchzuspielen und diese wiederum immer neu aus einer Außenperspektive oder von völlig neuen Ebenen aus zu betrachten. So werden nacheinander im Tetralemma unterschiedliche Positionen eingenommen wie das Eine, das Andere, Beides, Keins von Beiden und „All das nicht“ als neue Außenposition oder Metaposition.

In einem Exkurs gehen Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer auf die verschiedenen Arten von Körperempfindungen ein, die Repräsentanten bei systemischen Strukturaufstellungen haben können und beschreiben kurz, worauf die Moderatorinnen solcher Aufstellungen achten können und sollen.

Aus der Fülle der Anregungen des Buches möchte ich noch die „fünf Arten der grundlegenden Veränderung“ vorstellen. Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer unterscheiden fünf Arten des potenziell nützlichen und radikalen Wandels in Gedanken und Tun:

  1. in einer unentschiedene Lage endlich Stellung beziehen
  2. der nicht gewählten Alternativen nicht nachtrauern
  3. neue Formen der Vereinbarkeit des anscheinend Unvereinbaren finden
  4. Verschiebung des Problemrahmens
  5. Veränderung des Veränderung-Stils

Im fünften Kapitel stellen Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer die Glaubenspolaritäten-Aufstellung vor, die es ermöglicht, in einer kleinen Gruppe szenisch Überzeugungen und Glaubenssätze zu überprüfen und zu modifizieren. Auch hier kann die Leserin, die keine kollegiale Gruppe zur Verfügung hat, in einer geleiteten Eigenarbeit für sich an einem aktuellen Thema arbeiten.

Im sechsten Kapitel taucht die „Idee der versehentlichen Aufstellung“ auf. Damit bezeichnen die Autorinnen Vorgänge, mit denen Menschen unwissentlich in Leerstellen eines anderen Systems hineingezogen werden können. Ähnliches wird auch in der Transaktionsanalyse im Täter-Opfer-Dreieck und in anderen Kollusionstheorien vertreten. Menschen merken, wie sie plötzlich wie ferngesteuert Rollen einnehmen und repräsentieren, die zum System einer Person gehören, mit der sie gerade Kontakt haben. Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer regen ein „Nicht-Anhaftungs-Training“ an, das davor schützen soll, bei starken Konflikten in solche versehentlichen Aufstellungen mit hineingezogen zu werden.

Im Teil sieben des Buches werden Drehbuchaufstellungen vorgestellt, die ermöglichen ein Feld aus den unterschiedlichsten Perspektiven ganz neu zu betrachten. Hier können neben realen Personen auch Länder, Ereignisse, Ängse, Heilmittel und Ähnliches aufgestellt und betrachtet werden.

Im Teil acht des Buches beschreiben Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer auf 60 Seiten Prinzipien und Grundannahmen des systemischen Strukturaufstellungen, stellen verschiedene Aufstellungen vor, benennen die Phasen solcher Aufstellungen sowie Gesten und rituelle Sätze in der Prozessarbeit. In diesem umfangreichen Anhang findet der Leser neben einer Übersicht über die verschiedenen systemischen Strukturaufstellungen, die Autor und Autorin entwickelt haben, zahlreiche Praxisanregungen. Mit sehr genauen Anleitungen werden Theorie und Praxis der Strukturaufstellungen der Leserin näher gebracht.

Das Buch endet mit einem wissenschaftsgeschichtlichem „Stammbaum“, in dem sich Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer selbst verorten und ihre theoretischen und praktischen Wurzeln darlegen. Ein Glossar definiert kurz die auftretenden Fachbegriffe und das umfangreiche Literaturverzeichnisgibt dem Leser Anregungen zum Weiterlesen.

Diskussion

Inzwischen haben Matthias Varga von Kibed und Insaa Sparrer gemeinsam und einzeln weitere Werke veröffentlicht. Erscheint es da nicht überflüssig, den alten Band in 12. Auflage wieder neu herauszugeben?

Ich meine: Nein, es ist nicht überflüssig, sondern begrüßenswert. Bereits vor 18 Jahren habe ich eine frühere Ausgabe dieses Klassikers rezensiert, der inzwischen mehrfach bearbeitet und neu herausgegeben wurde. Die Faszination und Frische des Ansatzes, die unkonventionellen Gedanken-Experimente, die Lockerheit und Leichtigkeit und gleichzeitig die Präzision der Gedanken rechtfertigen das neue Erscheinen in der 12. Auflage in jedem Fall. Sie sollte in keiner systemischen Bibliothek fehlen.

Fazit

Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrers Buch ist ein mehrfach erweiterter und ergänzter Klassiker, der auch in seiner 12. Auflage nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Respektloses „systemisches Querdenken“ befreit den Geist und führt zu verblüffenden neuen Einsichten und Handlungsalternativen. Die Übersetzung dieser logischen Horizonterweiterung in Aufstellungsarbeit ist ein weiteres Verdienst des Autorenpaares, die uns mit diesem Band eine Fülle von Anregungen sowohl für das eigene Denken wie auch für die beraterische und therapeutische Praxis geschenkt haben.

Rezension von
Prof. Dr. Lilo Schmitz
Hochschule Düsseldorf (Ruhestand) und ILBB - Institut für Beratung Brühl
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Es gibt 132 Rezensionen von Lilo Schmitz.

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ISSN 2190-9245