Otto F. Kernberg, Elisabeth Vorspohl: Ideologie, Konflikt und Führung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.03.2024
Otto F. Kernberg, Elisabeth Vorspohl: Ideologie, Konflikt und Führung. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2022. 2. Druck Auflage. ISBN 978-3-608-98653-2. D: 45,00 EUR, A: 46,30 EUR.
Thema
Realitäts- und situationsorientierte Pragmatik psychoanalytischen „Know-hows“
Die Entwicklung und Bildung von Persönlichkeitsstrukturen und Interaktionsprozessen bei Menschen bedürfen der Mit- und Vorsorge. Die Psychoanalyse bietet dafür Kenntnis und Know-how. Psychologen und Psychoanalytiker als Theoretiker und Praktiker sind konfrontiert mit Vertrauens-Irritationen, sozialpathologischen Störungen und Krankheiten, deren Ursachen in physischen, psychischen, unbewussten Lebensbereichen zu suchen sind (vgl. dazu z.B.: Tilmann Moser, Zuversicht und Resignation. Vom Umgang mit bedrohten Psychotherapien, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27576.php). So ist die Psychoanalyse, wie viele andere soziale, existentielle Professionen, ein kooperativer, medizinischer, klinischer, anthropologischer, soziologischer, politischer, pädagogischer und analytischer Heilberuf.
Entstehungshintergrund und Autor
Der 1928 in Österreich geborene, US-amerikanische Psychoanalytiker Otto Friedmann Kernberg, hat 1998 beim Verlag Yale University Press New Haven/London seine Berufs- und Lebenserzählung „Ideology, and Leadership in Groups and Organizations“ vorgelegt. Der Klett-Cotta-Verlag hat das Werk 2000 in deutscher Sprache herausgebracht, und bringt es 2022 in zweiter Auflage heraus. Kernberg widmet das Buch seinen Lehrern und Freunden und allen psychodynamisch Interessierten.
Aufbau
Neben den Vorwörtern des Herausgebers der Übersetzung, Peter Buchheim, und des Verfassers, wird das Buch in fünf Teile gegliedert: Im ersten Teil geht es um theoretische und praktische „psychoanalytische Untersuchungen von Gruppenprozessen“. Im Zweiten wird „institutionelle Dynamik und Führung“ thematisiert. Im dritten werden „therapeutische Anwendungen“ vorgestellt. Im vierten werden „Anwendungen auf die psychoanalytische Ausbildung“ vorgeschlagen. Und im fünften Teil werden „Ideologie, Moral und der politische Prozess“ diskutiert.
Inhalt
Gruppenpsychologische und –anthropologische Strukturen bedürfen der Analyse, eines demokratischen, freiheitlichen Wertbewusstseins, rationaler Zielsetzung, Teilhabe und Führungskraft. Eine therapeutische Gemeinschaft muss sowohl individuelle, bewusste und unbewusste, als auch positive und negative Kollektiv-Entwicklungen berücksichtigen. Freud und andere bieten dazu zahlreiche Ansätze und Lösungsmöglichkeiten an.
Die Syndrome, wie sie sich bei Adoleszenzgruppen als Identitätskrisen, -diffusionen und Entfremdungen zeigen, erfordern analytische, tatbestimmte und vorausschauende therapeutische Kompetenz, weil „auch das normale Individuum ( ) die Entfremdung (erlebt), obwohl sein integriertes Identitätsgefühl und sein sicher konsolidiertes Über-Ich es ihm erlauben, die Konventionalität der Gruppe, ihre sexuellen Restriktionen sowie ihre kulturelle und intellektuelle Banalität zu transzendieren“.
Mit Bezugnahme auf Freuds Werk „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921) wertet, kritisiert und modifiziert der Autor die Diagnose- und Führungsstrukturen. Er arbeitet fünf Persönlichkeitsmerkmale heraus, die für eine rationale Führung bedeutsam sind: Intelligenz – persönliche Aufrichtigkeit und Unbestechlichkeit – die Fähigkeit zur Herstellung und Aufrechterhaltung intensiver Objektbeziehungen – gesunden Narzissmus – eine gesunde, berechtigte, antizipatorische paranoide Haltung, die das Gegenteil von Naivität bedeutet.
Psychotherapeutische Aktivitäten sind eingebunden in institutionelles, staatliches, soziales Handeln. Anhand von Fallbeispielen weist der Autor darauf hin, dass „der grundlegende Zweck psychiatrischer Einrichtungen ein professioneller und behandlungstechnischer, kein politischer (ist)“. Diese erst einmal irritierende Feststellung verdeutlicht er mit der Übertragung des Sprichworts, dass jeder Mann einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen und ein Buch schreiben solle: Führungs- und Analysefähigkeiten in psychoanalytischen Prozessen sollten weniger bestimmend und autoritär, sondern beratend und helfend sein; nicht schizoid, Zwangseurotisch, paranoid, narzisstisch, sondern moralisch-teilnehmend (Wilfried R. Bion, 1961) und organisationskritisch (Kenneth Rice, 1965).
Die Paranoiagenese in (sozialen) Organisationen bringt zutage, welche gemeinschaftsbe- und –verhindernden, bürokratischen, egozentristischen, ideologischen und mächtigen Strukturen vorherrschen können und behandelt werden müssen. Aus der Praxis und Erfahrung des Autors geschilderten Vorkommnisse von Führungsstrukturen ermöglichen die Auseinandersetzung damit: „Der Führer, der nicht ‚Nein‘, sagen kann“ –, „Der Führer, der bewundert und geliebt werden will“ – „Der Führer, der alles unter Kontrolle haben muss“ – „Der abwesende Führer“ – „Der affektive, unzugängliche und instabile Führer“ – „Der korrupte Führer“…
Mit dem „systemtheoretischen Ansatz“ wird verdeutlicht, dass Einflüsse, Anlässe und Aktivitäten eher konzentrisch denn systematisch und internalistisch entstehen und wirken. „Konflikte, Verhaltensweisen und allgemeine Themen einzig im Hier und Jetzt der Gruppe zu analysieren, kann sich als gefährliche, wenngleich verlockende, simplifizierende Methode erweisen, weil sämtliche Systeme und Systemhierarchien, die auf die Gruppe einwirken, ignoriert werden“; ebenso kann die unitäre Betrachtung des Problems verschleiern.
Die gängige, traditionelle Betrachtung einer (klinischen) therapeutischen Gemeinschaft als „ein spezifischer, spezialisierter Behandlungsprozess, der sich die psychologischen und soziologischen Phänomene nutzbar macht, die der großen, begrenzten und stationären Gruppe inhärent sind‘“ (Whiteley und Gordon, 1979), ruft nach einer theoretischen und praktischen Neubewertung. Es sind Erfahrungen, „dass Patienten als Individuen und Gruppe fähig sind, einander zu helfen“; was bedeuten kann, dass „Autoritarismus antitherapeutisch wirkt“.
Angewendet auf Aus-, Fortbildung und Praxis in der psychoanalytischen Profession, macht einen Perspektivenwechsel notwendig. Fallbeschreibungen und Lehranalysen, wie sie aus der Freud’schen Überlieferung präsentiert werden, dürfen nicht alleinige Grundlagen sein. Das Bild, dass der Analyse- und Therapieraum dem Zimmer einer Mönchszelle ähneln solle, um Distanz, Neutralität, Privatheit und Kontrolle zu relativieren, sollte im Behandlungsprozess der Vergangenheit angehören: „Durch diese Transformation ist die Psychoanalyse keine wissenschaftliche Theorie mehr, die es kontinuierlich zu überprüfen gilt, sondern eine Doktrin, die auch als Weltanschauung von Nutzen ist“.
Diskussion
Möglicherweise kann man beim Entwurf einer neuen, wirkungsvolleren analytischen Therapie von einem psychoanalytischen Turn sprechen. Es sind Warnungen vor Perfektionismus, vor Sofortismus, und die Einladung zum nachhaltigen Denken und Tun (vgl. dazu z.B. auch: Heinz von Foerster/​Ernst von Glasersfeld, Wie wir uns erfinden, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/30055.php). Es sind nicht zuletzt die allgegenwärtigen, medialen Erwartungen und ideologisierten Schlachtengemälde, die Einstellungen bewirken wie: „Ich kann, will alles, und das sofort!“.
Fazit
Mit vielfältigen Reflexionen und Praxiserfahrungen greift Otto F. Kernberg in die Kiste der therapeutischen und analytischen, gruppenpsychologischen Wirklichkeiten. Er bietet keine Rezepte an, sondern thematisiert und repräsentiert Theorie und Praxis im Feld von narzisstischen und paranoiden Persönlichkeitsstrukturen, und er traut sich zu fragen, warum und wie „gesunde Kranke…, die innerhalb einer regressiven Gruppe mit unangemessener Arbeitsstruktur und/oder psychisch instabilen Vorgesetzten arbeiten, sehr schnell zu abnormem Verhalten regredieren“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 07.03.2024 zu:
Otto F. Kernberg, Elisabeth Vorspohl: Ideologie, Konflikt und Führung. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2022. 2. Druck Auflage.
ISBN 978-3-608-98653-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31648.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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