Beate Wilken: Burnout mit 25?
Rezensiert von Prof. Dr. René Börrnert, 20.01.2025

Beate Wilken: Burnout mit 25? Junge Erwachsene zwischen Optimierungsdruck, Dauerkrisen und Zukunftsangst. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 180 Seiten. ISBN 978-3-17-043595-7. 26,00 EUR.
Thema
Die gängigen Studien (u.a. Shell, Sinus) zur Verfasstheit junger Menschen in diesem Land zeigen es in ihrer aktuellen Ausgabe 2024 deutlich: Vielen Heranwachsenden geht es nicht gut. Sie sehen sich einem hohen Erwartungs- und Leistungsdruck ausgesetzt und wissen oft nicht, wie sie in der auf Beschleunigung und Optimierung ausgerichteten Gesellschaft dauerhaft mithalten können. Die Zahl der psychischen Erkrankungen dieser Kohorte hat in den letzten Jahren zugenommen. Über 30 % von ihnen berichten über das Ende ihrer psychischen Kräfte und mindestens 25 % von ihnen leiden an ernstzunehmenden und behandlungsbedürftigen Störungen, wie Depression oder Angststörungen.
Die Autorin des vorliegenden Buches gibt jungen Menschen aus dieser Altersgruppe mit dem Text eine Stimme und verdeutlicht die objektiven und subjektiven Herausforderungen, denen die heute 20- bis 30-Jährigen ausgesetzt sind, wie sie diese selbst erleben und welche Lösungen sie für sich gefunden haben.
Autor:in und Hintergrund
Dr. phil. Beate Wilken ist Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin und arbeitet nach Tätigkeiten in Forschung und Lehre an der Universität Münster seit vielen Jahren in der eigenen Praxis (www.dr-beate-wilken.de). Insbesondere jungen Menschen, so ihre Kernthese, falle es heute besonders schwer, sich dem medial vermittelten Optimierungsappell zu entziehen. Das Resultat seien dann Optimierungskrisen, Dauerstress und vielerlei Ängste.
Aufbau und Inhalt
Die Kapitelüberschriften differenzieren, was der Untertitel des Buches bereits auf den Punkt bringt. Nach einer Einleitung schildert Wilken die Details der Problemfelder, denen junge Menschen heute ausgesetzt sind oder auch erliegen (Kapitel 2 bis 5).
Kapitel 2 Optimierungsdruck und Perfektionismus: „Nie gut genug sein“
Es ist die allgemeine Angst des Scheiterns, die junge Menschen heute mehr als zu früheren Zeiten umtreibt. Dies führt nicht zu einer angestrebten Leistungsoptimierung, sondern eher zum Gegenteil: Überlastungszustände, Burnout oder gar psychische Störungen wie Depression sind die Auswirkung. Eine 27-Jährige bemerkt hierzu im Buch: ‚Ich habe häufig Versagensängste und die Angst, nicht gut genug zu sein. Gerade in Bezug auf Leistungen an der Uni, aber auch in Vorbereitungen für die Arbeit … Mein Anspruch liegt leider immer bei: Ich müsste das besser machen oder wenn ich es nicht perfekt mache, kann ich es auch gleich lassen.‘ (S. 29)
Kapitel 3 Beschleunigung und durchgetaktete Lebensläufe schon seit der Kindheit: G8, Bologna-Reform & Co
Junge Menschen sind heutzutage zu oft getrieben, allem Tun einen Sinn zu geben, damit ihr Handeln maximal effektiv wird. Das gilt in Bezug auf schulische Leistungen für Erfolge ebenso wie für Freizeitaktivitäten: Die Zeit muss sinnvoll genutzt werden. Wenn nicht, schleicht sich bei vielen ein schlechtes Gewissen ein: „Darf ich mir die Zeit überhaupt gönnen? Müsste ich nicht noch dies oder jenes machen, verbessern, erledigen? Selbst die Freizeit wird damit dem Diktat der Optimierung unterworfen. Sie ist nicht wirklich ‚frei‘ und müsse einem Zweck dienen, also zielgerichtet genutzt werden“ (S. 36). Eigentlich erbringt der technische Fortschritt viele Erleichterungen und damit einen Zeit-Wohlstand, doch mit der beschriebenen Einstellung wird daraus ein „Zeitnotstand“.
Kapitel 4 Social Media: Soziale Vergleiche, FOMO und die Vermarktung des Selbst
Digitale Kommunikationsplattformen (u.a. WhatsApp oder TikTok) dienen nicht mehr nur allein der Vernetzung und Kommunikation. Vielmehr ist die (Selbs-)Darstellung der Nutzenden in den Vordergrund gerückt. Die Präsentation seiner selbst oder von Dingen etc. wird dabei als wichtiger gewertet als der Inhalt oder die Qualität des Dargestellten. Hierzu zitiert Wilken eine 26-jährige Interviewte: ‚Ich verfolge bei Instagramm Menschen, die zeigen, wie einfach eine vegane Ernährung ist, und fühle mich dann schlecht, weil ich es häufig nicht schaffe oder es mir einfach auch oft schwerfällt‘ (S. 59). Diese sozialen Vergleiche kosten nicht nur Zeit, sie erzeugen auch Unzufriedenheiten, Soziale Ängste und Phobien oder Süchte.
Kapitel 5 Die Vielfalt der Optionen: Angst vor falschen Entscheidungen und Suche nach Orientierung
Gab es vor einigen Jahren noch zeitlich getaktete Fernsehprogramme, die bei besonderen Sendungen ganze Familien an den Bildschirm zogen, so liefern Streamingdienste heute ein umfangreiches und jederzeit abrufbares Angebot. Doch dieses Über-Angebot überfordert auch die meisten Menschen. Das Ergebnis der sprichwörtlichen Qual der Wahl ist dann die Besinnung auf bekannte Formate, auch wenn man diese bereits schon oft konsumiert hat. Vielfalt kehrt hier in ihr Gegenteil um: Theoretisch ist alles möglich – praktisch bleibt aber alles beim Alten. Das betrifft nicht nur das Unterhaltungsprogramm, sondern die gesamte normative Grundstimmung. Ein Ergebnis kann dann neben der Überforderung ein „Sich-verloren-fühlen“ sein. Eine 25-Jährige beschreibt es so: „Ich wäre gerne religiös, weil ich dann einen gewissen philosophischen Überbau hätte, gewisse Werte, Menschen, die mir sagen, wie ich mich verhalten soll. Aber ich bin es nicht. Trotzdem sehne ich mich manchmal nach der Geborgenheit z.B. einer Institution, die Sicherheit und Beständigkeit bietet. Ich glaube, dass das vielen jungen Menschen fehlt“ (S. 87). Die möglichen Konsequenzen formuliert die Befragte dann selbst: ‚Gleichzeitig kann das bei manchen im schlimmsten Fall dazu führen, dass sie rechte Parteien wählen, weil die einem ein Identitätsgefühl geben‘ (ebd.).
Die weiteren Kapitel (6-9) benennen die Problemfelder schon im Titel: Das Aus des Narrativs von immer mehr Wachstum und Konsum: Finanzielle Sorgen, Mangel an bezahlbarem Wohnraum und Arbeitsplatzunsicherheit; Die Klimakatastrophe: Zukunftsangst und reduzierte Zukunftsperspektive; Real gewordenen Dystopien (Coronakrise, Ukraine-Krieg…): „Was kommt jetzt noch alles?“. Schließlich führt das zu einem allgemeinen Ohnmachtserleben und zur Resignation mit dem Gefühl, keine Macht zu haben und sich nicht gesehen bzw. nicht gehört zu fühlen von den älteren Generationen.
Im Kapitel 10 fragt Wilken dann „Was hilft? Was tun?“ und bietet Hoffnung gebende Ideen und gesellschaftliche Visionen an. Auch hier lässt sie die Befragten selbst zu Wort kommen, um dann Themen wie „Verbundenheit“, „ein neues Menschenbild“, „unser Freiheitsverständnis“ und „soziale Gerechtigkeit“ mit innovativem Ansatz zu diskutieren.
Im letzten Textkapitel (11) formuliert die Autorin dann einen persönlichen Appell. Im Sinne eines „Wehrt Euch!“ will sie die Vertreter:innen der thematisierten Alterskohorte ermutigen, ihr Leid zu besprechen und zu teilen und sich gegen neoliberale Selbstoptimierungszwänge zu wehren. Sie will sie motivieren, auf eigene Stärken zu schauen und nach neuen eigenen Ideen und Visionen für das gesellschaftliche Zusammenleben zu suchen.
Abschließend finden die Lesenden weiterführende Informationen, wie Tipps zum Weiterlesen sowie Adressen und Anlaufstellen.
Der Text enthält viele längere Zitatpassagen, die sehr aussagekräftig die persönlichen Situationen der betreffenden Proband:innen schildern. Dazu bietet die Autorin außerdem Zusammenfassungen im Kastenformat ein strukturiertes Fazit der Kernprobleme. Zudem hält sie Anregungen zur Reflexion bereit.
Diskussion
Gerade 2024 gab es ein Update der relevantesten deutschen Studien zur Verfasstheit der heranwachsenden Gesellschaft. Unabhängig davon, aber dennoch mit gleicher Stimmlage verdeutlicht das Buch von Wilken die Situation mit zahlreichen Kommentaren von Vertreter:innen aus der Kohorte der 20- bis 30-Jährigen. Sie beschreiben selbst ihre Bedenken, Ängste und Sorgen und erläutern an Beispielen, wie es ihnen schwerfällt, aus den vielen Angeboten und Verlockungen auf den richtigen Weg im Leben zu kommen. Auf diese Weise liefert die Autorin einen wichtigen Beitrag zur Forschung über junge Heranwachsende.
Am Ende des Buches aber bricht der Duktus der engagierten Mutter durch und die Autorin zeigt im Text ihre emotionale Seite (Kapitel 11). Das kann man kritisch sehen, wenn es um die Neutralität von wissenschaftlich verstandenen Abhandlungen geht. Positiv aber mag es als klarer Appell einer Autorin verstanden werden, die die beschriebenen Probleme auch in ihrer Rolle als dreifache Mutter erlebt und persönlich betroffen ist. Diese Passagen gleiten stilistisch zum Teil ins Utopisch-Kitschige ab, bieten aber dennoch Impulse zum Nachdenken.
Soziale Fachkräfte mögen sich in dem Buch angesprochen fühlen, wenn es darum, dass es mehr Menschen braucht, die Hoffnung und Kraft geben (S. 186). Zudem bekommt Verantwortung in der Sozialen Arbeit damit eine neue Facette (vgl. Merchel, Hansbauer & Schone 2023).
Mit einigem Abstand zum gut recherchierten und geschriebenen Text sollte man sich aber darüber im Klaren bleiben, dass die beschriebenen Zustände nicht für alle Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen gelten. Die Mehrzahl von ihnen geht entspannt durch die Welt und strukturiert diese für sich entsprechend der Maßstäbe aus dem Off- oder Online. Mit betrachtet werden muss auch, wie groß und entscheidend der Anteil von (übersensiblen) Erziehenden ist, die ihre eigenen Probleme in diesem Zusammenhang an die nächste Generation weitergeben (vgl. aktuell dazu Noack, Kracke & Weichold 2024, insbes. Kapitel 4 sowie Böckler-Raettig 2024). Fürsorge und Empathie haben und zeigen diesbezüglich eine ihrer „dunklen Seiten“ (vgl. Breithaupt 2021).
Fazit
Ein Buch, was unbedingt Beachtung verdient, wenn es um die Selbst-Sichten junger Menschen auf die Herausforderungen unserer Zeit geht. Die Autorin beschreibt gut lesbar und nachvollziehbar die Facetten aus Sicht der betroffenen Generation.
Literatur
Böckler-Raettig, A. (2024): Soziale Kognition und Interaktion. Ein Lehrbuch. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart).
Breithaupt, F. (2021): Die dunklen Seiten der Empathie (5. Auflage). Suhrkamp (Berlin).
Merchel, J., Hansbauer, P., Schone, R. (2023): Verantwortung in der Sozialen Arbeit. Ethische Grundlinien professionellen Handelns. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart).
Noack, P., Kracke, B., Weichold, K. (2024): Entwicklungspsychologie des Jugend- und jungen Erwachsenenalters. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart).
Rezension von
Prof. Dr. René Börrnert
Fachhochschule des Mittelstands (Rostock)
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