Mandy Schulze, Julia Hille et al. (Hrsg.): Genese Ost
Rezensiert von Prof. (i.R.) Dr. Gudrun Ehlert, 16.01.2025

Mandy Schulze, Julia Hille, Peter-Georg Albrecht (Hrsg.): Genese Ost. Transformationen der Sozialen Arbeit in Deutschland. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2023. 345 Seiten. ISBN 978-3-8474-2674-5. D: 62,00 EUR, A: 63,80 EUR.
Herausgeber*innen
Prof. Dr. Mandy Schulze, Professorin für Soziale Arbeit an der Fakultät Sozialwissenschaften der Hochschule Zittau/Görlitz
Dr. Julia Hille, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut I – Bildung, Beruf und Medien – der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Dr. Peter-Georg Albrecht, Referent Prorektorate an der Hochschule Magdeburg-Stendal
Thema
Die Soziale Arbeit in der gegenwärtigen, gesellschaftlichen Situation in Ostdeutschland steht im Zentrum der Publikation. Sie wird reflektiert und diskutiert vor Hintergrund der Geschichte von Fürsorge- und Bildungsarbeit in der DDR und der Transformationszeit nach 1989. Über dreißig Jahre nach der politischen Wende und dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der BRD soll mit der Publikation eine Bestandsaufnahme der Entstehung und Entwicklung der Sozialen Arbeit in Ostdeutschland vorgenommen werden.
Aufbau
Das Buch enthält insgesamt zwanzig Beiträge. Nach einer Einführung der Herausgeber*innen werden achtzehn Beiträge in fünf thematischen Böcken präsentiert und in einer abschließenden Zusammenfassung gebündelt:
- Disziplinäre Aufträge und Akademisierung in Ostdeutschland
- Soziale Dienste, Vereine und die Organisiertheit Sozialer Arbeit
- Handlungsfelder Sozialer Arbeit: Sexualität, Suchthilfe, Strafvollzug und Sterben
- Gemeinwohlorientiert, soziokulturell und demokratisch – neue alte Handlungsfelder
- Genese Ost aus Perspektive der Professionellen
Inhalt
Die Herausgeber*innen Julia Hille, Peter-Georg Albrecht und Mandy Schulze nehmen in ihrem einleitenden Beitrag „Im Osten viel Neues! Disziplinäres, Strukturelles und Organisiertes, Zielgruppen- und Handlungsfeldbezogenes sowie Professionelles in der Sozialen Arbeit in Ostdeutschland heute“ eine knappe Einführung in das Thema der Publikation sowie kurze Zusammenfassungen der Beiträge vor. Ausgehend vom Generationenwechsel, der gegenwärtig, über 30 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur BRD, sowohl in der Praxis der Sozialen Arbeit als auch an den Hochschulen stattfindet, soll mit den Beiträgen der Publikation eine „reflektiert-kritische Rückschau“ auf die Entstehung und Entwicklung der Sozialen Arbeit in Ostdeutschland vorgenommen werden.
Im Fokus des ersten Teils des Buches „Disziplinäre Aufträge und Akademisierung in Ostdeutschland“ steht zunächst eine Bestandsaufnahme der Entwicklung des Studiums der Sozialen Arbeit an den neu gegründeten Fachhochschulen in Ostdeutschland. Mandy Schulze und Lena Gawalski beginnen mit einer Beschreibung des einseitigen Institutionentransfers des westdeutschen Sozialstaats und des Hochschulwesens nach Ostdeutschland, der im Sozialwesen die Anerkennung der Abschlüsse von ca. 203.000 Fachkräften betraf sowie die Veränderungen und den Aufbau von Ausbildungs- und Studiengängen. Die Autor*innen erinnern daran, dass „die Gründung der Fachhochschulen für ihre Vorgängerinstitutionen eine De-Gradierung ihres bisherigen universitären Status“ (Schulze/​Gawalski 2023, S. 21) bedeutete und dass in dem Wandel der Hochschulen ostdeutsche Akademiker*innen in den Berufungsverfahren in der Sozialen Arbeit unterrepräsentiert blieben. So zeigt sich in der Konzipierung der Studiengänge der Anspruch westdeutscher Kolleg*innen integrierte Konzepte von Praxis, Forschung und Wissenschaftsentwicklung für das damalige Diplomstudium der Sozialen Arbeit an Fachhochschulen zu implementieren. Nach dem Bolognaprozess und der Implementierung der BA und MA-Studiengänge der Sozialen Arbeit sind die ostdeutschen Hochschulen gegenwärtig mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, die Mandy Schulze und Lena Gawalski abschließend herausarbeiten.
In ihrem Beitrag „Die Relevanz von Ost-West-Kontextsensibilität für die Disziplin Soziale Arbeit ― am Beispiel der Sozialpädagogischen Familienhilfe“ betonen Julia Hille und Heiner Schulze einleitend die Notwendigkeit, die strukturellen Gegebenheiten und die gesellschaftlichen Kontexte zu berücksichtigen, um die Bedingungen der Arbeit der SPFH in Ostdeutschland zu untersuchen. Sie zeigen die Wirkmacht gesellschaftlicher als westdeutsch markierter Normvorstellungen, die als „stille Normen“ die Diskurse und auch die Arbeit der SPFH bestimmen würden. So zeigen die Autor*innen wie mit der Perspektive einer „Critical Westness“ die Berücksichtigung von Ost-West-Differenzen als Strukturungleichheiten sichtbar gemacht werden können.
Anna Kasten betont in ihrem Beitrag „Makro(sozialarbeits)praxis in Ostdeutschland aus feministischer Perspektive“ mit Judith Butler, dass die Realität der Geschlechterzugehörigkeit performativ ist und durch Diskurse, „die Kraft der Wiederholung und des Zitierens“ (S. 65) immer wieder neu hergestellt wird. An drei Beispielen, queer_feministischen Gruppen in Thüringen, der Finanzierung frauen*politischer Organisationen in Ostdeutschland sowie der Gesetzgebung zu Schwangerschaftsabbrüchen in der DDR und der BRD arbeitet Anna Kasten heraus, wie feministische Perspektiven auf die Praxis einer Makrosozialarbeit, Dimensionen struktureller Diskriminierung und deren Verwobenheit mit Geschlechterkonzepten deutlich machen können.
„Akzentuierungen rassismuskritischer Perspektiven für die Soziale Arbeit (nicht nur) im Kontext ‚Ostdeutschland‘ ― ein Einblick in eine andere Geschichte“ ist der Titel des Beitrags von Monique Ritter, in dem sie Ergebnisse aus ihrer Dissertation präsentiert. Das Thema „Rassismus und Altenpflege in Ostdeutschland“ (Ritter 2024) untersucht die Verfasserin auf der Grundlage von Interviews mit Pflegekräften. Im Zentrum ihres Beitrags stehen die Gespräche, die sie mit den weißen, deutschen, DDR-sozialisierten Menschen in den Jahren 2018 bis 2020 geführt hat, die sich nach der Wende am Arbeitsmarkt neu positionieren mussten. Deren „Ausschlussargumentationen gegenüber einer Zusammenarbeit mit geflüchteten Menschen bewegten sich fortwährend zum Jahr 1990 zurück. Sie (re-)mobilisieren ein, wenn auch retrospektiv artikuliertes, Ungerechtigkeits-und Subalternisierungserleben – induziert durch eine so empfundene ‚westliche‘ Hegemonie. Ihre durchlebten berufsbiographischen Einbrüche bzw. Neufindungen in den Nachwendejahren bilden noch immer, eingesponnen in ein bis heute wirksames West/Ost-Machtgefüge, einen prominenten Bestandteil der Alltagserzählung“ (Ritter 2023, S. 79, Hervorhebung im Original). Monique Ritter arbeitet alltägliche, rassistische Ausschlusspraktiken im Kontext eines „pluridisziplinären und multidimensionalen“ (ebd.) Untersuchungsansatzes heraus und entwickelt rassismuskritische und postkoloniale Perspektiven einer machtkritischen, intersektionalen Sozialarbeitsforschung.
Im zweiten Teil der Veröffentlichung „Soziale Dienste, Vereine und die Organisiertheit Sozialer Arbeit“ stehen die Transformationen der Volkssolidarität und des Caritas-Verbandes sowie die gewerkschaftliche Interessenvertretung von Sozialarbeitenden im Zentrum. Peter-Georg Albrecht zeichnet in seinem Beitrag „Von der Massenorganisation über den Sozialdienstleister zur Interessensvertreterin? Zu den Transformationen der Volkssolidarität in Ostdeutschland“ die Geschichte und Gegenwart der Volkssolidarität auf der Grundlage historischer und aktueller Verbandsquelle faktenreich und anschaulich nach. Die Volkssolidarität wurde 1945 als Wohlfahrtsorganisation gegründet und unterlag im Verlauf ihrer Geschichte in der DDR starken staatlichen Reglementierungen. Sie verfügte 1988 über rund zwei Millionen Mitglieder in über 14.000 Ortsgruppen, die territorial nach Wohngebieten strukturiert waren. „Viele ältere Menschen besuchten oft mehrmals in der Woche Begegnungsstätten in ihrer Nachbarschaft, u.a. zur Nutzung eines Mittagessenangebotes. 642.962 Mitglieder wurden – in den Jahren 1992/1993 – von 8.617 Hauptamtlichen betreut, denen über 31.000 Ehrenamtliche zur Seite standen, auch wenn von den vielen Ortsgruppen in der DDR nur noch 5.787 übriggeblieben waren (…)“ (Albrecht 2023, S. 95f). Aus dem Einigungsvertrag bestand die Verpflichtung als vom Staat unabhängiger Wohlfahrtsverband zu wirken, was der Volkssolidarität als Mitgliederorganisation in den 1990er und 2000er Jahren gelingt.
Brigitte Schmeja, Peter-Georg Albrecht und Klaus Skalitz stellen die Transformation der Caritas-Sozialarbeit und die Entwicklung der ostdeutschen Caritasverbände dar, Jürgen Villard und Peter-Georg Albrecht beschreiben die Transformation von Gesundheits-, Pflege-, Bildungs- und Beratungsdiensten für ältere Menschen in Ostdeutschland. „Soziale Arbeit und ihre gewerkschaftlichen Interessenvertretungen ― Wer sind sie und wofür werden sie gebraucht?“ ist der Beitrag von Maria Schäfer überschrieben. In ihrer Einleitung skizziert sie pointiert die aktuellen Rahmen- und Arbeitsbedingungen von Sozialarbeitenden in Ostdeutschland und fragt rhetorisch, ob „es Fachkräfte und andere Verantwortungstragende in der Sozialen Arbeit geschafft [haben], sich in den letzten 30 Jahren laut und verständlich genug zu äußern, sich für ihre Mindeststandards bei Arbeitsbedingungen erfolgreich einzusetzen?“ (S. 144). Schäfer beschreibt die Entwicklungen gewerkschaftlicher Interessensvertretung seit 1990 und nimmt eine Bestandsaufnahme der Gewerkschaften für Soziale Arbeit vor. Mit Vertretungen von Sozialarbeitenden in der GEW, ver.di, dem DBSH und zwei Kirchengewerkschaften, die die Heterogenität der Arbeitsfelder und Trägerstrukturen widerspiegeln, werden gleichzeitig strukturelle Probleme der gewerkschaftlichen Interessenvertretung von Sozialarbeitenden deutlich.
Im Zentrum des dritten Teils der Publikation stehen vier Beiträge zur Transformation unterschiedlicher Handlungsfelder bzw. Arbeitsansätze: Sexualpädagogik, Suchthilfe, Strafvollzug und Hospizarbeit. In dem Beitrag „Soziale Arbeit und Sexualität – Transformationsprozesse in der Sexualpädagogik und der Sexualwissenschaft“ von Torsten Linke werden drei Themen bearbeitet:
- die sexualwissenschaftliche Entwicklung in der DDR,
- die Entwicklung von Praxisfeldern in der DDR, in denen Sexualität thematisiert wurde, wie Beratungsstellen und schulische Sexualaufklärung sowie
- die Etablierung akademischer Angebote ab 1990 am Beispiel der Hochschule Merseburg und deren Modell Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik in einem Studiengang zusammenzubringen.
Olaf Rilkes Beitrag „‚Genese Suchthilfe‘ in den neuen Bundesländern am Beispiel von Sachsen – Anpassungsarbeit und kontinuierliche Gestaltung von 1989–2021 unter der Berücksichtigung von aktuellen Unterstützungs- und Therapiebedarfen“ beginnt mit einer Skizze zum Umgang mit Suchtproblemen und der institutionellen, staatlichen und kirchlichen Suchthilfe der DDR. Er zeigt dann die mit durch den „Systemwechsel“ einsetzende Entwicklung der regionalen Angebots- und Trägervielfalt in Sachsen auf. Den gesetzlichen Regelungen für unterschiedliche Angebote und Leistungsarten in verschiedenen Sozialgesetzbüchern und bei einer Vielzahl von Kostenträgern wird versucht durch eine Verzahnung von Unterstützungsangeboten entgegenzuwirken, was Rilke am Beispiel von Sachsen zeigt. Herausgearbeitet werden die „Mühen der Ebenen“ in der Suchtprävention und Suchtberatung sowie Empfehlungen einer nachhaltigen und an den Bedarfen der Menschen mit suchtbezogenen Problemlagen und deren Angehörigen orientierte Suchthilfe.
„Der Aufbau der Sozialarbeit im Strafvollzug der ostdeutschen Bundesländer“ wird von Jens Borchert beschrieben. Er nimmt einen Rückblick auf die Ausgangslage des Vollzugssystems in Ostdeutschland im Jahr 1990 vor und thematisiert den Aufbau institutioneller Strukturen als Grundlage für den Aufbau der sozialarbeiterischen Straffälligenhilfe. In der abschließenden Formulierung von Forschungsbedarfen fragt Borchert, ob Soziale Arbeit im Vollzug nicht nur auf neue Themen reagiert, sondern auch proaktiv neue Probleme „verhandeln und auf die politische Agenda setzen kann“ (S. 203).
Michel Constantin Hille thematisiert in seinem Beitrag „Im Angesicht der Endlichkeit – besondere Herausforderungen der Hospizarbeit in Ostdeutschland“ zunächst die Unabänderlichkeit des Sterbens als Teil des Lebens. Er skizziert die strukturellen Bedingungen ostdeutscher Hospizarbeit und entwirft Konturen einer hospizlichen sozialarbeiterischen Handlungskompetenz.
Der vierte Teil „Gemeinwohlorientiert, soziokulturell und demokratisch – neue alte Handlungsfelder“ beginnt unter der Überschrift „Kulturelle Bildung vor und nach 1990 – Zugänge zu Kunst und Kultur im ostdeutschen Wandel“ mit dem Artikel von Livia Knebel. Sie leitet die „Netzwerkstelle Kulturelle Bildung im ländlichen Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien“, in einem von acht Kulturräumen in Freistaat Sachsen und rekonstruiert die Strukturen der Kulturarbeit in der DDR, den Paradigmenwechsel nach 1989 und die Auswirkungen auf die kulturelle Bildungsarbeit. Knebel plädiert für eine generationenübergreifende Kulturarbeit, die langfristig abgesichert und mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet ist. Das ist besonders in den Regionen von Bedeutung, die durch den Kohleausstieg erneut von einem tiefgreifenden Strukturwandel betroffen sind. Hier kann kulturelle Bildung „einen wichtigen Beitrag leisten, die Menschen vor Ort mit ihren Geschichten und Erinnerungen, ihren Sorgen und Ängsten, ihren Ideen und Vorstellungen für die Zukunft mitzunehmen. Für einen gelingenden gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess, wie ihn die Energiewende mit sich bringen könnte, braucht es kreative Entfaltungsmöglichkeiten und das Erleben von Selbstwirksamkeit“ (S. 240).
Im Beitrag von Silke Gajek „Demokratische Werteorientierung in der Erzieher*innenausbildung in Mecklenburg-Vorpommern ― Bestandsaufnahme und Perspektiven“ stehen die Ergebnisse eines eigenen Forschungsprojekts zur Demokratiepädagogik in der Erzieher*innenausbildung im Zentrum. Die Autorin wertet die Ergebnisse von drei Gruppendiskussionen mit Schüler*innen in der Erzieher*innenausbildung sowie einer Fragebogenuntersuchung aus. Sie konstatiert eine „epistemische Autorität“ (S. 254) älterer Schüler*innen, die die Diskurse in einer Gruppe bestimmen kann. Mitbestimmung und Beteiligung sollten in der Ausbildung und auch in Kindertagesstätten erleb- und erfahrbar gemacht werden und Lern- und Handlungsarrangements zur Entwicklung eines demokratischen Habitus erarbeitet werden.
Friedemann Bringt diskutiert in seinem Beitrag „Jugend- und Gemeinwesenarbeit in Sachsen seit 1990 ― Probleme, Bedarfe und Perspektiven. Eine Beschreibung aus Perspektive der Arbeit für demokratische Kultur gegen Rechtsextremismus im Kulturbüro Sachsen e.V.“ vor dem Hintergrund seiner Praxiserfahrungen in der Arbeit des Kulturbüro Sachsens Perspektiven einer nonformalen politischen Jugendarbeit. In einem „aufsuchenden Unterstützungs- und Entwicklungsprozess, der entlang der Bedürfnisse und Anliegen“ (S. 271) der Adressat*innen, ohne ein vorgefertigtes Konzept gestaltet wird, soll die Projekt- und Bildungsarbeit im Gemeinwesen vernetzt werden. Damit verbunden werden Perspektiven für die Weiterentwicklung des Professionsverständnisses Sozialer Arbeit.
Unter der Überschrift „Genese Ost aus Perspektive der Professionellen“ finden sich im fünften und letzten Teil drei Beiträge. In ihrem Beitrag „Professionalisierung und Biographie. Orientierungen in der Sozialen Arbeit Ostdeutschlands“ nimmt Heike Brand zunächst eine kurze Analyse des Institutionentransfers nach dem Beitritt der DDR zur BRD vor. Daran anschließend skizziert sie Prozesse der Professionalisierung der Fürsorge in der DDR, um dann Fragen der individuellen Professionalisierung vor dem Hintergrund berufsbiografischer Entwicklungen in der DDR und der BRD zu thematisieren.
Im Zentrum des Beitrags von Joachim Köhler „Erzählungen über den Rechtsextremismus ― eine Analyse von Interviews Sozialarbeitender in Mecklenburg-Vorpommern“ steht die Interpretation von zwölf leitfadengestützten Expert*inneninterviews mit Hilfe der kritischen Diskursanalyse. Köhler plädiert für eine argumentative Kritik rechter Inhalte und sachliche Widerlegung rechter Positionen durch Sozialarbeitende, anstatt wie in den Interviews Vorwürfe eines Mangels an demokratischen Werten zu erheben.
Im Beitrag „Von der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur professionellen Struktur oder: das Wirken von Systemik auf Leidenschaft und Engagement“ von Daniela Fritsch, Birgit Broszeit und Regine Heinig, gemeinsam verfasst mit Maria Schäfer, werden drei Biografien erzählt. Maria Schäfer fragt daran anschließend, was diese Lebens- und Berufswege verbindet und nimmt eine Reflexion der Bildungs- und Berufsbiografien vor dem Hintergrund der Transformation in Ostdeutschland vor.
Diskussion
Ein Verdienst dieser Veröffentlichung liegt in der Präsentation unterschiedlicher Beiträge zur Entwicklung der Sozialen Arbeit in Ostdeutschland nach 1990, einem Thema, das in den Diskursen der Sozialen Arbeit zu wenig vorkommt. Durch die Heterogenität der Beiträge wird gleichzeitig deutlich, wie ambitioniert das Anliegen ist, einen Rückblick auf die DDR und den Transformationsprozess sowie aktuelle Bestandsaufnahmen in jeweils einem Artikel vorzunehmen. So bieten die Beiträge erste Ansatzpunkte und Anstöße für weitere, vertiefende Lektüre und mögliche weitere Forschungsfragen. In der Publikation fehlt, trotz der Bandbreite der Beiträge, eine Auseinandersetzung mit der Transformation der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere der stationären Heimerziehung. Die Repressionen in der Heimerziehung in der DDR, vor allem in den sogenannten Spezialheimen, den Jugendwerkhöfen und dem geschlossenen Jugendwerkhof Torgau werden nur in dem Beitrag von Torsten Linke im Kontext von institutionellen Faktoren sexualisierter Gewalt benannt. Insgesamt wird mit der Publikation jedoch ein notwendiger Diskursraum eröffnet, in dem weitere Debatten und Veröffentlichungen folgen sollten.
Fazit
Die im open access verfügbare Publikation bietet Studierenden, Fachkräften, Lehrenden und Forschenden in der Sozialen Arbeit aus unterschiedlichen Perspektiven wichtige Einblicke in die Transformation und Entwicklung der Sozialen Arbeit in Ostdeutschland. Darüber hinaus werden Fragen nach aktuellen Herausforderungen der Sozialen Arbeit sowie Ausblicke auf weitergehende Forschungsfragen formuliert, die für alle in der Sozialen Arbeit in Deutschland hochrelevant sind.
Rezension von
Prof. (i.R.) Dr. Gudrun Ehlert
Hochschule Mittweida, Fakultät Soziale Arbeit
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