Daniel Kieslinger, Marc Dressel et al. (Hrsg.): Systemsprenger*innen
Rezensiert von Prof. Dr. Tim Middendorf, 17.09.2024
Daniel Kieslinger, Marc Dressel, Ralph Haar (Hrsg.): Systemsprenger*innen. Ressourcenorientierte Ansätze zu einer defizitären Begrifflichkeit.
Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2024.
390 Seiten.
ISBN 978-3-7841-3629-5.
D: 28,00 EUR,
A: 28,80 EUR.
Reihe: Beiträge zur Erziehungshilfe - 49.
Thema
Im vorliegenden Sammelband geht es um die Thematik der Systemsprenger*innen, verstanden als „nicht die Störfaktoren, die durch möglichst ausgefeiltes pädagogisches Handeln in das System zurückgeführt werden sollen: Sie sind Seismografen für Verwerfungen und Unzulänglichkeiten im System der Jugendhilfe“ (Kieslinger/​Dressel/Haar 2024, S. 12). Demnach wird dem viel und kritisch diskutierten Begriff ein systemisches und kontextbezogenes Verständnis entgegengesetzt, das sich durch die Beiträge zieht.
Autor:in oder Herausgeber:in
Daniel Kieslinger ist stellvertretender Geschäftsführer des Bundesverbandes Caritas Kinder- und Jugendhilfe (BVkE) und Leitung des Modellprojekts Inklusion jetzt! Marc Dressel ist Leitung der Caritas Ludwigsburg-Waiblingen-Enz. Ralph Haar ist Leiter des Strategie- und Innovationsmanagements des St. Vincenz Jugendhilfe-Zentrum e.V. in Dortmund.
Entstehungshintergrund
Spätestens 2019 mit der Veröffentlichung des viel beachteten Films „Systemsprenger“ wurde die breite Öffentlichkeit auf ein bis dato unterbelichtetes Thema aufmerksam: die Nicht-Passung von (auch individuellen) Hilfen und Adressat*innen. Das hier vorliegende Werk in der zweiten Auflage möchte die Thematik vertiefend aufgreifen: „Interdisziplinär aufgestellt spürt es dem, was hinter dem Begriff ‚Systemsprenger*in‘ steht, nach. In einem breit aufgestellten Diskurs kommen in diesem Band Stimmen aus unterschiedlichen Feldern zur Sprache: Ethiker*innen, Pädagog*innen, Psycholog*innen und Wissenschaftler*innen“ (Kieslinger/​Dressel/Haar 2024, S. 12).
Aufbau
Der umfangreiche Sammelband umfasst insgesamt 380 Seiten. Er ist nach einem Vorwort von Dr. Norbert Beck und einem weiteren Vorwort der Herausgeber in vier Teile gegliedert: Teil 1 „Worum und um wen geht es eigentlich?“ umfasst vier Beiträge (S. 20–88). Teil 2 „Forschung“ umfasst drei Beiträge (S. 90–160). Teil 3 „Theorie“ umfasst sieben Beiträge (S. 162–267). Teil 4 „Praxis“ umfasst insgesamt acht Beiträge (S. 268–382). Das Werk schließt mit einem Autor*innenverzeichnis.
Inhalt
Der Inhalt der einzelnen Beiträge wurde im Vergleich zur ersten Auflage an einigen Stellen aktualisiert und angepasst. Die Beiträge sind in ihrer Anordnung verblieben, zur genauen Darstellung der zentralen Themen sei auf die Rezension der Kollegin Gisela Thiele verwiesen. Lediglich der Abschlussbeitrag zur BVKE-Werkstatt wurde in der vorliegenden zweiten Auflage entfernt.
Diskussion
Der Sammelband schafft nahezu eine Quadratur des Kreises. Theoretisch tiefgründig, praxisnah und multiperspektivisch werden viele Facetten von sogenannten Systemsprenger*innen beleuchtet. Die Besonderheit liegt darin, dass die Adressat*innen nicht verkürzend die Verantwortung für das Scheitern in der Kinder- und Jugendhilfe übertragen bekommen, sondern die Interdependenzen der verschiedenen Faktoren und Akteur*innen einbezogen und sichtbar gemacht werden. Das wirkt zwar teils schmerzhaft, aber auch schonungslos offen und selbstkritisch. Die Beteiligten des Sammelbandes regen zum Nachdenken an und bereichern die (wissenschaftlichen) Diskurse ungemein.
Besonders hervorzuheben ist die Innenperspektive einer sogenannten Systemsprengerin, die aus ihren eigenen Erfahrungen im System der Kinder- und Jugendhilfe berichtet. Aus meiner Sicht hätten gerne noch weitere Erfahrungsexpert*innen zu Wort kommen können, da die Beschreibungen von Katharina R. viele Themenfelder der vorherigen Beiträge aus Adressat*innensicht aufgreifen.
Fazit
Der Sammelband eignet sich sowohl für Wissenschaftler*innen, Studierende, Praktiker*innen als auch alle anderen Interessierten am Thema. Er nimmt ungeschönt die oftmals langen Leidenswege junger Menschen und ihre Ursachen in den Blick, die im eigentlichen Hilfesystem wiederholt Grenz- und Ausschlusserfahrungen ausgesetzt sind und sich kaum in gesellschaftliche Bezüge integrieren (lassen). Das Buch ist uneingeschränkt und besonders zu empfehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Tim Middendorf
Mailformular
Es gibt 5 Rezensionen von Tim Middendorf.
Zitiervorschlag
Tim Middendorf. Rezension vom 17.09.2024 zu:
Daniel Kieslinger, Marc Dressel, Ralph Haar (Hrsg.): Systemsprenger*innen. Ressourcenorientierte Ansätze zu einer defizitären Begrifflichkeit. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2024.
ISBN 978-3-7841-3629-5.
Reihe: Beiträge zur Erziehungshilfe - 49.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31660.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.