Frank Schulz-Nieswandt: Das Leben ändern als ein Werden in wachsenden Ringen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 01.11.2024
Frank Schulz-Nieswandt: Das Leben ändern als ein Werden in wachsenden Ringen. Ein Essay zur Möglichkeit, über "Fortschritt" sinnvoll zu reden.
Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2024.
118 Seiten.
ISBN 978-3-428-19069-0.
D: 59,90 EUR,
A: 61,60 EUR.
Reihe: Schriften der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e. V. - 33.
Thema
Gemeinwohl-Ökonomik und -Ökologik
Die im Post-Cartesianischem Denken thematisierte und kritisierte Trennung von Körper und Bewusstsein, Körper und Geist, ist ein intellektuelles Abenteuer zweier unterschiedlicher Denkrichtungen: Während die „Dualisten“ der Auffassung sind, dass Bewusstsein die „höchste Form von organisierter Materie“ ist, sind die „Monisten“ der Meinung, dass eine unüberwindbare Trennung von „hinfälligem Körper und unsterblichem Geist“ vorläge (siehe z.B.: „Körper und Geist“, in: UNESCO-Kurier 4/1997). Im philosophischen Diskurs bilden sich Kontroversen heraus, die sich als Individualismus und Kollektivismus darstellen. Dem „Ich“ steht das „Wir“ gegenüber. Die Auffassung, „dass mehr wird, wenn wir teilen“ (Elenor Ostrom) korrespondiert mit dem „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst“.
Entstehungshintergrund und Autor
Im post-cartesianischem, kulturkritischem Diskurs wird „Gemeinwohl“ thematisiert als „Miteinanderfreiheit (und) Miteinanderverantwortung“, wie sie sich im genossenschaftlichen, theoretischen und praktischen Denken und Tun artikulieren: „Die Politik des Subjekts als Gemeinwesen ist eine Politik, bei der es um das Ganze geht“ (Thomas Telios, Das Subjekt als Gemeinwesen. Zur Konstitution kollektiver Handlungsfähigkeit, 2021, socialnet Rezensionen). In den Zeiten des „Jetzt“, „Sofort“ und der „Alles- und Sofort-Machbarkeit“ des Daseins ist angezeigt, welche Wege hinführen vom individuellen zum universalen Selbst.
Der Sozialwissenschaftler und Philosoph Frank Schulz-Nieswandt legt ein Essay vor, das er während seines jährlichen Sommeraufenthalts in einem ost-kretischen Dorf verfasst hat. Es ist eine Abhandlung seiner Forschungstätigkeit über phänomenologische Fragen zur Kulturkritik und zu Überlegungen zum „Geist der imaginativen Sehnsucht des modernen Menschen im Kontext seiner Entfremdung (und seiner) ontologischen Obdachlosigkeit“. Es ist die Aufforderung zum Paradigmenwechsel, wie er sich lokal und global anbietet, und es ist der Versuch, die „Kritische Theorie“ neu zu formulieren.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung seines Essays reflektiert er „Die Melancholie des Wartens aus der Haltung der weltoffenen Geduld heraus“, einer Kondition des Wartens, das nicht Phlegma und Negation ist, sondern Werden und Wachsen als geistigen Fortschritt. Im ersten Kapitel „Zugänge“, fragt er nach der „Ordnung des Torsos“, indem er sich mit ethischen, naturrechtlichen, normativen, mythischen, kulturellen und weltlichen Fragen auseinandersetzt. Es sind Trigger-Aspekte (Steffen Mau, u.a., Triggerpunkte, Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, 2023, socialnet Rezensionen), kulturdiagnostische und psychoanalytische Aspekte, die als conditio humana dem anthrôpos auferlegt sind. Beim Ringen um das Wissen, das Erkennen und Erleben der sozialen Wirklichkeit begleiten uns die „Eule der Minerva“ und der gesellschaftliche Kanon, der sich im Zwiespalt der (aristotelischen) Sorge bewegt: „Soll man für die paideia (Erziehung, Bildung) feste Anordnungen treffen?“. Oder: „Soll man die Sorge um die paideia zu einer gemeinschaftlichen Angelegenheit machen und sie dem Staat übertragen oder sie den einzelnen Bürgern überlassen?“ (Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 419ff). Es sind die Modalitäten, die sich logisch oder phantastisch artikulieren. In der geschichtsphilosophischen Betrachtung ist es die „Hoffnung auf sittliche Befreiung des Menschen in seiner Personalität“. In der Praxis der Gemeinwohlökonomik und der Nachhaltigkeit vereinen sich Person, Polis und Kosmos (siehe dazu auch: Silke Helfrich (+)/David Bollier, Frei, fair und lebendig – die Macht der Common, 2019, socialnet Rezensionen). Die Suche nach der wahren, gerechten, menschenwürdigen, erd- und kosmosbewussten Lebensform alles Lebenden vollzieht sich kreisförmig und spiral. Es sind individuelle Erinnerungen und entdeckte Forschungen, die den Autor darin bestätigen, dass der Mensch als unvollständiges Lebewesen „irrt, solange er strebt“ (Goethe). Zum Körper-Geist-Wesen wird er als homo digitalis, wenn ihm „vita contemplativa und … Erlernen der Kunst des Verweilens“ gelingen.
Diskussion
Das Essay konnte wohl so nur an einem Ort entstehen, den man ge(be-)wohnt ist, in dem man sich wohlfühlt, und der die Gedanken freien Lauf lässt, in dem der Autor mit den Seinen Urlaub verbringt („in unserem geliebten ost-kretischen Dorf“). Er stellt sich und seine intellektuelle und Forschungsarbeit als wahrer „Homo occidentalis“ dar (Arno Bammé, Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt, 2011, socialnet Rezensionen). Hilfreich sind ihm dabei Gedanken, wie sie sich transkulturell darstellen (Byung-Chul, Han, Transparenzgesellschaft, 2012, socialnet Rezensionen). Als Homo digitalis denken und leben bedeutet, „sich dem Anderen … im hermeneutischen Kontext unserer mehrstufigen Phänomenologie der Selbsttranszendenz … zu öffnen, ohne dabei einer narzisstischen der übergriffigen Aneignung zuzuneigen“.
Fazit
Der Versuch von Frank Schulz-Nieswandt, die Existentialität und die Kraft des Menschen als Entwicklung und „Fortschritt“ in „wachsenden Ringen“ zu denken und zu beschreiben – und dadurch das abendländische, anthropologische Denken im Sinne einer Neuinterpretation der gesellschaftspolitischen Theoriebildungen (Horkheimer, Adorno, Benjamin, Habermas, Marcuse, Fromm, Negt, Honneth) auf den Prüfstand zu bringen, lässt sich nicht en passant nachvollziehen. Das 26-seitige Literaturverzeichnis verdeutlicht, dass wissenschaftliche Forschung notwendig ist. Das signalisiert auch der Preis des Buches!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 01.11.2024 zu:
Frank Schulz-Nieswandt: Das Leben ändern als ein Werden in wachsenden Ringen. Ein Essay zur Möglichkeit, über "Fortschritt" sinnvoll zu reden. Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2024.
ISBN 978-3-428-19069-0.
Reihe: Schriften der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e. V. - 33.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31662.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.
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