Peter Rahn, Sabine Zimmermann (Hrsg.): Kinderarmut verstehen und bekämpfen
Rezensiert von Prof. Dr. Barbara Ketelhut, 26.03.2024
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Peter Rahn, Sabine Zimmermann (Hrsg.): Kinderarmut verstehen und bekämpfen. Einführung in grundlegende Perspektiven. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2024. 160 Seiten. ISBN 978-3-8252-6130-6. D: 21,00 EUR, A: 21,60 EUR, CH: 28,50 sFr.
Thema
Obwohl zurzeit „etwa 20 Prozent aller Kinder in Deutschland als arm im Sinne der Definition der Europäischen Union (60 Prozent des gewichteten Medianeinkommens)“ gelten (S. 7), und es seit Jahren einen „umfangreichen interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs“ zum Thema gäbe, „spielen Fragestellungen sozialer Ungleichheit und vor allem Armut“ in „kindheits- und (grund-)schulpädagogischen Studiengängen“ „eine untergeordnete Rolle“ (S. 7). Wichtigstes Ziel des vorliegenden Lehrbuches sei es demnach „einen Beitrag zur Bildung einer armutssensiblen Haltung“ zu leisten (S. 8).
Herausgeber:in
Prof. Dr. Peter Rahn ist Co-Studiengangsleiter des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen.
Prof. Dr. Sabine Zimmermann leitet den Bachelorstudiengang Soziale Arbeit dual an der Fakultät für Sozial- und Rechtswissenschaften der SRH Hochschule Heidelberg.
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Band ist im Rahmen einer Lehrveranstaltung im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit zum Thema Kinderarmut im Sommersemester 2021 und im Wintersemester 2021/2022 an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft in Ludwigshafen entstanden (S. 9 f.). Insgesamt 16 Studierende haben folgende Expert:innen mit Hilfe eines Leitfaden gestützten Interviews zum Thema befragt: Karl August Chassé, Carolin Butterwegge, Michael Klundt, Kirsten Fuchs-Rechlin, Gerda Holz, Margherita Zander und Nadia Kutscher. Vor jedem Interview erfolgt eine kurze Vorstellung der Interviewpartner:innen und ihrer Arbeitsschwerpunkte. Einige der Fragen sind allen Befragten gleichermaßen gestellt worden, andere beziehen sich auf den jeweiligen Arbeitsschwerpunkt der Befragten. Sowohl die Lehrveranstaltungen als auch die Interviews fanden aufgrund der Corona-Maßnahmen überwiegend digital, z.T. auch telefonisch statt (vgl. S. 10).
Aufbau
Nach der Einleitung zu Idee und Aufbau des Buches folgt im ersten Beitrag eine Einführung ins Thema von Peter Rahn. Es schließen sich acht Expert:innen-Interviews, die von zwei bis vier Studierenden durchgeführt worden sind, an. Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung von Sabine Zimmermann.
Inhalt
Peter Rahn setzt sich in seinem Beitrag „Kinderarmut in Deutschland. Einführung in wichtige Aspekte des Diskurses“ mit dem Begriff der „relativen Armut“, der Armutsmessung, dem Ausmaß von Kinderarmut in Deutschland, den Lebenslagenkonzepten, Bewältigungsstrategien, den Debatten um Kindergrundsicherung und den Möglichkeiten der Armutsprävention im Hilfesystem kritisch auseinander. Er geht dabei davon aus, dass es in „sozial-, kindheits- oder schulpädagogischen Kontexten“ notwendig ist „gesellschaftspolitische und sozioökonomische Bedingungen des Aufwachsens und Lebens mitzudenken, sie zu analysieren, sowie sie konzeptionell und praktisch zu berücksichtigen, um mit den Angeboten nicht nur einzelne Kinder zu unterstützen, sondern auch um eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse mit anzustoßen und herbeiführen zu können.“ (S. 15)
Im ersten Interview geht Karl August Chassé u.a. auf die Bedeutung der Wohnungspolitik und des Niedriglohnsektors für Kinderarmut ein (vgl. S. 50). In der Frage der Einbeziehung der Perspektive von Kindern in der qualitativen Sozialforschung sieht er eine besondere Herausforderung (vgl. S. 46).
Carolin Butterwegge hebt die „Heterogenität“ von „Armutsgefährdung“ je nach Herkunftsgruppe hervor (vgl. S. 54). Sie fordert weitere empirische Forschung zum Thema Kinderarmut und sieht den Staat in der Pflicht mehr finanzielle Mittel zur Förderung von Kindern aufzubringen, die z.B. durch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes und/oder eine Reform der Erbschafts- und Vermögenssteuer finanziert werden könnten (vgl. 62).
Sabine Andresen betont, dass umfangreiche Forschung und eine Vielzahl von Publikationen zum Thema Kinderarmut nicht zu einer „Armutsbekämpfungspolitik“ geführt haben (S. 67). Sie erläutert kurz das Konzept des „Child Well-being“ (S. 68 f.) und geht ausführlicher als andere Interviewte auf die Genderthematik ein: „Beispielsweise zieht sich durch alle Studien, auch international, dass das Wohlbefinden von Mädchen, die zwischen 12 und 14 sind, deutlich niedriger ist als das Wohlbefinden von Jungen.“ Besonders deutlich sei dies im Kontext der Covid-19-Maßnahmen geworden (vgl. S. 69 f.).
Michael Klundt verweist u.v.a. darauf, dass „skandinavische Bildungs- und Sozialsysteme viele Jahrzehnte bewiesen haben, dass auch im Kapitalismus mehr Bildungsgerechtigkeit und -gleichheit möglich ist“ als in Deutschland (S. 79).
Kirsten Fuchs-Rechlin formuliert die Forschungsfrage, inwiefern Kindertagesstätten z.B. durch die Art der Trägerschaft und den damit zusammenhängenden Aufnahmekriterien für Kinder zur Segregation beitragen, in dem z.B. „Kinder aus armen Familien oder aus Familien mit anderen religiösen und kulturellen Hintergründen“ nicht aufgenommen werden (S. 92).
Gerda Holz betont die besonderen und zusätzlichen Anforderungen an Kinder, die in Armut leben. Sie entwickelt offene Fragen zur Kinderarmutsforschung für quantitative und qualitative empirische Sozialforschung z.B. danach, wie „subjektive Wahrnehmung“ von Kindern „zu einem genuinen Teil objektiver Datenerhebung werden“ könne (S. 106 f.).
Margherita Zander stellt ausführlich Bedeutung und Möglichkeiten von Resilienzförderung als Aufgabe Sozialer Arbeit dar. Sie fordert die Einrichtung von Präventionsketten, wobei „Armutsprävention in alle Angebote der Kinder-, Jugend- und Familienarbeit integriert wird“ (S. 121). Ferner berichtet sie auf Nachfrage von einer Vielfalt methodischer Techniken (vom Einsatz von Fragebögen bis zum Zauberstab), um Kinderperspektiven im Kontext ihrer Armutsforschung zu erfassen (vgl. S. 118).
Nadia Kutscher bezieht sich in ihrer Auseinandersetzung zum Zusammenhang von Digitalisierung und Kinderarmut auf die Kategorien des ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals (nach Pierre Bourdieu), wenn sie auf eine „Gefährdung von Kinderrechten mit Blick auf ihre Zukunft und auch mit Blick auf ihre ökonomische Ausbeutung“ durch eine frühe Preisgabe von Daten (z.B. in Form von personenbezogenen Profilen) der Kinder verweist (S. 130). Auf die Frage nach der Weiterentwicklung von Kinderarmutsforschung spricht sie „adaptive Präferenzen“ an und warnt somit davor die von den befragten Kindern genannten Bedarfe und Einschätzungen bloß zu übernehmen (vgl. S. 135).
Sabine Zimmermann fasst in ihrem abschließenden Beitrag „Der Kampf gegen Kinderarmut ist politischer Auftrag Sozialer Arbeit“ die Ergebnisse der Interviews zusammen. Einig seien sich die befragten Expert:innen darin, „dass Kinderarmut bei Einkommensarmut beginnt“ (S. 143) und dass es wichtig sei die Perspektiven der Kinder einzubeziehen. Betont werde auch die Notwendigkeit Phänomene von Kinderarmut, die nicht mit Familienarmut erfasst werden können, wie z.B. die Lebenslage von Straßenkindern oder die von „Menschen ohne Papiere“ in der Diskussion und Forschung stärker zu berücksichtigen (vgl. S. 143 f.). Sabine Zimmermann geht auch darauf ein, inwiefern die Corona-Maßnahmen dazu beigetragen haben die Lebenssituationen von Kindern in Armut im Vergleich zu anderen Kindern zusätzlich zu verschlechtern (vgl. S. 145).
Insgesamt gelte es Kinderarmut nicht nur deskriptiv und damit oftmals wertend zu betrachten, sondern im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen zu analysieren (vgl. S. 146 f.). Ferner verweist sie auf die von den Expert:innen genannten Vorschläge zur Veränderung der Situation von Kindern in Armut:
- Einrichtung kommunaler Präventionsketten,
- eine finanziell ausreichende Kindergrundsicherung,
- Stärkung der individuellen Resilienz,
- „Repolitisierung der Kinderarmutsforschung“ (S. 158) und der Sozialarbeit,
- Beteiligung von Kindern sowie Analysen gesellschaftlicher Strukturen, z.B. in Bezug auf den Beitrag, den das auf Selektion ausgerichtete Schulsystem zur Reproduktion von Armut leistet.
Sie erläutert auch kurz die Herangehensweise der durch Studierende inhaltlich vorbereiteten und durchgeführten Expert:inneninterviews: „Studierende können Fragen stellen, die von Expert:innen aufgrund der voran gegangenen Expertise gar nicht mehr gestellt werden würden. Selbstverständlichkeiten und blinde Flecken der akademischen Diskussionen können durch dieses Interviewformat ausgelöst werden und es gelingt leichter im Gespräch zu elementaren Fragen zu gelangen.“ (S. 140)
Diskussion
Dem Anspruch eines gut verständlichen und fundierten Lehrbuchs wird der vorliegende Band gerecht. Deutlich wird, dass Armut einerseits ein gesellschaftliches Problem darstellt, das nur auf struktureller Ebene gelöst werden kann, es aber dennoch Möglichkeiten gibt die Folgen von Armut für Kinder zu minimieren. So werden weiterführende Forschungsfragen und Perspektiven für die (sozial-)pädagogische Praxis zur Verringerung der Folgen von Armut für die betroffenen Kinder entwickelt.
Vermisst habe ich eine kritische Reflexion der Vorgehensweise, wenn die Leser:innen z.B. nicht erfahren, wie die Studierenden auf die allgemeinen (allen Expert:innen gestellten) Fragen für die Interviews gekommen sind? Deutlich werden auch Grenzen der Herangehensweise, wenn für das Thema wichtige Ausführungen z.B. zu „Qualitätsstandards“ in Kindertagesstätten nur vage angerissen werden können (vgl. S. 93).
Fazit
Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um ein Lehrbuch, das dazu beitragen kann, verstärkt für das Thema Kinderarmut in allen sozialen und pädagogischen Bereichen zu sensibilisieren. Es besticht insgesamt durch seine gesellschaftspolitischen Analysen, durch die Entwicklung von Forschungsfragen und Vorschlägen zur Verringerung der Folgen von Armut. Es ist gut nachvollziehbar in seinen Darstellungen und enthält ausführliche Literaturlisten zur Vertiefung.
Rezension von
Prof. Dr. Barbara Ketelhut
(im Ruhestand)
Hochschule Hannover, University of Applied Sciences and Arts
Homepage www.hs-hannover.de
E-Mail: barbaraketelhut@aol.com
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Es gibt 18 Rezensionen von Barbara Ketelhut.
Zitiervorschlag
Barbara Ketelhut. Rezension vom 26.03.2024 zu:
Peter Rahn, Sabine Zimmermann (Hrsg.): Kinderarmut verstehen und bekämpfen. Einführung in grundlegende Perspektiven. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2024.
ISBN 978-3-8252-6130-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31665.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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